Samstag, 11. Oktober 2008
Mal ein paar Basics zum Nahostkonflikt
Lesa schrieb hier in einem Kommentar:

"Demzufolge kann ich Leuten, die von Solidarität mit dem palästinensischen Volk (wobei das Wort 'Volk' generell sehr eklig ist, wobei du/ihr vermutlich eine andere Konnotation davon habt) und einem Selbstbestimmungsrecht der Völker schwadronieren, eher wenig abgewinnen, was aber nicht auf dich gemünzt ist, da ich von dir noch nie etwas konkretes über den Nahostkonflikt gelesen habe." und "reaktionäre Beschaffenheit ALLER wirklich einflußreichen Organisationen in Palästina".
---- Nun, Lesa, da scheinst Du so viel von mir doch nicht gelesen zu haben, denn ich habe hier schon oft zum Nahostkonflikt Stellung genommen und hier unter anderem auch Uri Avnery, der mir und meinen MitstreiterInnen ab und an mal emails schreibt zu Wort kommen lassen. Aber ich greife das Stöckchen mal auf. Zunächst mal reduziert sich der Nahostkonflikt für mich nicht auf den Konflikt zwischen Israelis und Palis oder Israel und seinen arabischen Nachbarn. Die ganze Gegend - die ich z.T. aus eigenem Erleben kenne - ist doch ein einziger großer Konflikt. Der soziale Bürgerkrieg, der dort mal offen ausgetragen wird, mal durch militärisches Containment mühsam unter Kontrolle gehalten wird, spielt sich nicht nur zwischen Arabern und Israelis, Muslimen und Juden ab, sondern hat auch den Charakter von Verteilungskämpfen um Rohstoffe, Wasser, Weideplätze und sonstige Ressourcen. Ethnie, Religion und die Verbindung aus Beidem wird immer wieder zum Stigma, anhand dessen Gruppen ausgegrenzt und mit Vernichtung bedroht werden, ob das nun Israelis, Palästinenser, Kurden, Christen, Schiiten, Sunniten, Assyrer, Mandäer oder Turkmenen sind. Insofern kann dieser Konflikt nur in seiner Gesamtheit gelöst werden. Wie, weiß ich nicht.


Israel unterscheidet sich ja von den meisten anderen Staaten dieser Welt dadurch, dass sein Existenzweck nicht nur darin besteht, die ökonomischen Interessen seiner Bourgeoisie (oder im Falle sozialistischer Staaten, seiner kleinbürgerlichen Funktionärselite) in einem geografischen Raum zu organisieren, sondern zunächst mal darin, seine Einwohner vor Verfolgung zu schützen und ihre Vernichtung zu verhindern. Als Zufluchtsstätte und frei wählbare Heimstatt für alle Juden ist Israel wichtig und seine Existenz unverzichtbar. Israel ist auch die einzige stabile Demokratie im Nahen Osten. Türkei, Libanon und Irak würde ich als in freilich sehr unterschiedlichem Maße labile Demokratien bezeichnen, über die Regierungssysteme der anderen Staaten dort brauchen wir uns nicht zu unterhalten.

Das ändert aber nichts daran, dass ich das Besatzungsregime in den Westbanks für Unrecht und eine apartheidähnliche, repressive und diskriminierende Angelegenheit halte, dass mit dem Zaun und den Siedlungen den Palis der Zugang zu für sie lebenswichtigen Wasserquellen und Weideplätzen genommen wird und dass ein existenzfähiger und von Alimentierungen unabhängiger Palästinenserstaat nur möglich ist, wenn Israel weiteres Land abgibt.

Wieso sind alle wesentlichen Palästinenserorganisationen reaktionär? Ist die Fatah reaktionärer als der Likud. Finde ich nicht, nur ist die von ihr aufgebaute Verwaltung halt durch und durch korrupt. Bei DFLP und Fida stellt sich die Frage, ob die einflussreich sind, aber auch, ob eine vom Programm her kommunistische, in der Praxis eher links-sozialdemokratische Partei und eine undogmatische linke Organisation mit dem Begriff "reaktionär" treffend klassifiziert sind.

Die Situation zur Zeit der ersten Intifada war die, dass die einfachen Palis, die BewohnerInnen der Elendsviertel (in den Westbanks heute nnoch von "Flüchtlingslagern" zu sprechen halte ich für unsinning) auf eigene Faust und unabhängig von der PLO-Führung und ihren Teilorganisationen ihren Aufstand machten, der militant, aber eben nicht mit tödlichen Waffen ausgetragen wurde. Gerade die schwächsten Teile der traditionell extrem patriarchalen palästinensischen Gesellschaft, Frauen und Jugendliche, nahmen hierbei eine zentrale Rolle ein. Das Bild dieser Intifada war dann auch das von Pflastersteine werfenden oder mit Zwillen schießenden Jugendlichen, die israelische Polizei und israelisches Militär angriffen, die ihrerseits Wasserwerfer, deren Verschärfung, ein rollendes Sandstrahlgebläse, Tränengasgranaten und Gummigeschosse sowie scharfe Hunde einsetzten. Die Palis errichteten illegale Kliniken, Werkstätten, Geschäfte usw. und schufen eine Gegen-Infrastruktur. Das war die Situation, vor deren Hintergrund die DFLP begann, mit den israelischen Behörden zu verhandeln. Dass ausgerechnet die DFLP das tat, hatte seine besonderen Gründe: Politisch ist sie die linkeste Palästinenserorganisation, hinsichtlich des Nationalismus bzw. des Verhältnisses zum Zionismus die Gemäßigste. Für die DFPL war die Linie "Zwei Nationen - zwei Staaten" maßgebend, die Anerkennung Israels also kein Problem. Da es sich bei der ersten Intifada anfangs um eine autonome Unterschichtsbewegung handelte, hoffte die DFLP, diese palästinensischen Massen gegen die Fatah und ihr Bonzentum aufzubringen und das Abschütteln der israelischen Besatzungsmacht zu einer sozialen Revolution weiterzuentwickeln. Die Initiative ging dann an geachtete UnterhändlerInnen der palästinensischen Zivilgesellschaft wie Hanan Aschrawi und den Scheich Husseini über. Als Arafat und die anderen Palästinenserführer aus dem Exil zurückkamen, standen sie vor dem Problem, dass die extrem widerständigen Bewohner ihre Revolte jahrelang ganz ohne die groooooßen militääääääärischen Anfüüüüüüührer gemacht hatten (das halbe Land ein Schwarzer Block ;-) ). Um die reale Macht der palästinensischen Autoritäten herzustellen, mussten die überlieferten Hierachien wiederhergestellt werden. Am leichtesten gelang dies der Fatah durch die Autorität des als Volksheld verehrten Arafat. Die jugendlichen Steineschmeißer wurden als Truppen der unterschiedlichen Organisationen angeworben, tauschten Zwillen, Davidsschleudern und Molotow-Cocktails gegen Kalschnikows, M16 und Handgranaten und bekamen Sold. Die nächste Generation wurde in Schulen des Hasses zu jungen Märtyrern gedrillt. Das im Untergrund entstandene Netzwerk von Krankenhäusern, Garküchen usw. wurde weitgehend von der Hamas okkupiert, die gezielt die Schlüsselpositionen dort besetzte (oder sie teilweise auch DFLP, PFLP und Fida wegnahm) und sich als "karitative" Organisation in Szene setzen konnte.
Wobei gesagt werden muss, dass ein Teil dieses Netzwerks auch von der Hamas während der Intifada aufgebaut worden war und diese dabei durch israelische Behörden im Kalkül, damit die Fatah und PFLP zu schwächen unterstützt worden war.

Mit Geld und Filz stellten die alten PLO-Granden den großen Teil der Träger des Widerstands ruhig, die Hamas tat das mit religiösem Schwulst und revolutionärem Pathos. Auf diese Weise konnte eine von unten organisierte Gegengesellschaft durch die etablierten aus dem Exil zurückgekehrten Palästinenserorganisationen okkupiert werden - übrigens eine Entwicklung, die Ähnlichkeit mit der Aufsaugung der aus dem antifaschistischen Widerstand hervorgegangenen Netzwerke in Sizilien nach dem Zweiten Weltkrieg durch die in Schlüsselpositionen gelangten Mafia-Familien besaß. Ich würde von einer parasitären Wirtschaft und Gesellschaft sprechen. Die Frage ist, ob die Voraussetzungen für einen Widerstand von unten gegen die mittlerweile etablierten palästinensischen Eliten noch oder wieder bestehen. Die extreme Eskalation der Gewalt seit der zweiten Intifada - Selbstmordattentate und Autobomben statt Steine und Mollies und als nächste Steigerungsform Kassam-Raketen lassen den permanenten Aufstand niedriger Intensität ja zu einem de-facto-Bürgerkrieg werden- kann nur mit Entwaffnung der Milizen beendet werden, es ist nur überhaupt nicht sichtbar, wer die durchführen soll.


Dann hat der Konflikt Israel sehr verändert. War es in den Pionierjahren einmal der egalitärste Staat der westlichen Welt mit einer gemischten, in Teilen sozialistischen Wirtschaft, ist das Gefälle zwischen arm und reich heute größer als in irgendeinem westeuropäischen Staat. Erhielten früher mittellose jüdische Einwanderer automatisch Sozialhilfe, werden sie heute vielfach zu Billiglohnarbeit in Sonderwirtschaftszonen am Zaun gezwungen, womit widerum palästinensische WanderarbeierInnen ihre Jobs verlieren. Mehr dazu schreibt hier ein alter Genosse von mir:

http://www.monde-diplomatique.de/pm/2006/08/11/a0008.text.name,askkxElXk.n,0

Angesichts solcher Verhältnisse erscheint es mir klüger, im Nahostkonflikt nicht die Partei eines der Kontrahenten zu ergreifen, sondern für die Menschlichkeit selber Partei zu ergreifen. Abgesehen davon: Als Linke interessiert uns die soziale Frage. Seit wann interessieren uns Flaggen oder wie ein Territorium heißt?

edit: vgl. diesen Kommentar von Lafargue

http://che2001.blogger.de/stories/546216/comments/548042

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Vielen Dank für diesen langen Text, du hast eine angenehme Art zu schreiben.
Vieles kann ich so unterschreiben, manches nicht.
Habe gerade die Suchfunktion deines Blogs und dadurch auch ältere Texte über Nahost entdeckt, die ich mal begierig lesen werde.

Ich hoffe, dass ich morgen die Zeit finde, um einen differenzierten Kommentar zu verfassen :)

Ah, bevor ichs vergesse:
Ich hatte gestern Abend eine längere Diskussion mit einigen älteren Aktivisten, die die Pogrome von Lichtenhagen, Mölln etc retrospektiv als unbewusstes "antideutsches Erweckungserlebnis" betrachten, was zum ersten Mal die Erkenntnis, dass Emanzipation mit "diesem" Volk nur gegen dessen Willen möglich sei, ans Tageslicht gebracht habe.
Wie hast du/ihr diese Dinge erlebt?

Ich persönlich kann mich noch dran erinnern, dass mein Vater mich mit zu einer Demo gegen Rassismus genommen hat (eine von diesen Massenveranstaltungen auf der auch Rio Reiser zusammen mit Mariane Rosenberg unteranderem "Der Traum ist aus" intoniert hat) und - während dem ARD-Brennpunkt zu den Anschlägen (kann gut sein, dass das damals noch nicht 'Brennpunkt' hieß) angefangen hat zu weinen. Auf der Demo habe ich dann übrigens meinen ersten Autonomen gesehen ;-)
Ansonsten waren diese "Volksaufstände" gegen Asylantenheime (wie es bei gehässigen ADs heißt) mir relativ egal, da mir das Ganze irgendwie weit weg und irreal vorkam, da ich ja nicht betroffen war.
Ich war ja noch klein und ignorant damals ;)

[Da das ja nicht zum Thema gehört und ich dich/euch nicht zum Schreiben von ellenlangen Texten nötigen will, könnt ihr das Pogromthema auch gerne ignorieren und on topic bleiben]

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Nein, Hoyerswerda, Mölln usw. war für mich und die Leute um mich herum ganz sicher kein "antideutsches Erweckungserlebnis", auch die Antideutschen hatte es schon vorher gegeben. Antideutsche Wochen, antideutsche Seminare waren in der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung von Fundi-Grünen und KBLern veranstaltet worden, und die ersten antideutschen Gruppen entstanden aus dem Zusammenwachsen dieses Spektrums mit den Freiburger Autonomen Studis (Bolschewiki) und der Initiative Sozialistisches Forum, die damals einen an Fragen der Wertkritik orientierten, in vielem der MG ähnlichen Seminarmarxismus mit einer sehr speziellen Adorno-Auslegung verband. Ich erlebte die Dinge auch nicht so, dass Emanzipation nur gegen den Willen "dieses Volkes" machbar sei. Am Anfang, so in Hoyerswerda und Rostock fanden die Rassisten den Beifall der applaudierenden Massen, auch bei der Niederschlagung einer Revolte in einem Abschiebeknast in Kassel jubelten die Normaldeutschen, das konnte aber ganz schnell kippen. Im Gegenteil, die vielen Lichterketten, die antirassistischen Straßenfeste, die pro Ausländer-Konzerte ließen damals den großen Mainstream der Bevölkerung als plakativ ausländerfreundlich, aber politisch naiv erscheinen, während gleichzeitig Politik (Abschaffung des einklagbaren Asylrechts, Ausländerleistungsgesetz) und Neonazis Hand in Hand arbeiteten. Wir haben uns damals vor die Wohnheime gestellt, mal Gewalt vermeidend, mal mit den Nazis geprügelt. Lustig war die Situation, als das braune Pack mal ein Wohnheim überfiel, in dem Palästineser mit Bürgerkriegserfahrung untergebracht waren. Die demontierten den Jägerzaun um ihr Wohnheim und verhauten die Nazis mit den Latten, sorgfältig darauf achtend, mit der Nagelseite zuzuschlagen. Als die solidarischen Antifas eintrafen war schon alles vorbei. Die Palis machten dann ein großes Fest und schlachteten für die Antifas einen Hammel. Pech gehabt, das waren fast alles Vegetarier, teils Vegane ;-)

Was wir damals an der Mehrheit der Linken kritisierten war die Tatsache, dass Flüchtlings bei ihnen nur als Objekt vorkamen, das es zu beschützen galt, ebenso, wie Kirchen, Diakonie usw. den Flüchtlingen zwar halfen, aber im Stil wohlwollender Bevormundung. Wir wollten hingegen gemeinsam mit den Flüchtlingen antirassistische Politik entwickeln, was mit vielen Schwierigkeiten und Bruchstellen auch immer wieder stattfand. Die Antideutschen, die schon arrogant, abgehoben und zumeist gänzlich humorlos gewesen waren, ehe sie antideutsch wurden, erlebte ich als eine Fraktion elitärer bourgeoiser Schnösel, die jetzt endlich die Ideologie gefunden hatten, die es ihnen ermöglicht, sich als Superkritiker zu gerieren, aber aus jeder konkreten Soliarbeit vollständig herauszuhalten. "Mit diesem Volk ist keine Emanzipation zu haben", das ist eine Haltung, die sich Leute ausgedacht haben, die schon immer zur Bourgeeoisie oder Upper Middleclass gehört haben und ihrer Verachtung auf die Massen nun vollends freien Lauf lassen konnten. Soziologisch gesehen ist das ganz weit rechts.

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Hab ich mit Genuss oder besser gesagt Schauder gelesen.
Scheint massig Parallelen zum kubanischen Unabhaengigkeitskrieg 1895-98 zu haben, mit nachfolgender Übernahme durch US-gestuetzte, "gemaessigte" und v.a. weisse Politiker.
Schwierig im Kampf effektive Strukturen in korruptions-resistente Friedensinstitutionen zu transformieren.
Und immer wieder diese Leute, die sich legitimieren, indem sie sich zum fearless leader der Kaempfenden erklaeren, im Grunde die aber genauso unterdruecken wie vorher.

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