Donnerstag, 28. August 2014
Ein Reisebericht aus Kurdistan
Reisebericht von Prof. Dr. med. Hüseyin Bektas (vom Verein „Kurdische Ärzte in Deutschland“) über die Aktivitäten der letzten sechs Tage



Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Vertreterinnen und Vertreter der Medien, An alle Volksvertreter, und liebe Freundinnen und Freunde

Nachstehend eine Pressemitteilung von Professor Bektas. Dieser hat eine schwierige Reise in den Nordirak organisiert um die Notleidenden zu
versorgen. Seine ersten Eindrücke finden Sie, findet Ihr nachstehend. Wir bitten alle Möglichkeiten der Verbreitung, für dieses unterstützende Projekt, zu nutzen.


+++ Reisebericht von Prof. Dr. med. Hüseyin Bektas (vom Verein „Kurdische
Ärzte in Deutschland“) über die Aktivitäten der letzten sechs Tage,
24.08.2014 +++

Themen:
- Allgemeine Situation in den Flüchtlingslagern,
- Aktuelle medizinische Versorgung der Flüchtlinge,
- und geplante Investitionen zur Versorgung der Flüchtlinge.


Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freunde,

nach sechs Tagen Einsatz wollte ich mich bei Ihnen melden und über die Lage
und unseren Aktivitäten kurz berichten:
Es leben zurzeit hier in der Region Kurdistan im Irak etwa 2 Millionen
Flüchtlinge bei 4,5-5 Millionen Einwohnern (aktuelle Zahlen von Heute). In
der Provinz Dohuk leben laut Informationen vom heutigen Tag von dem
Direktor des Amtes für Gesundheit etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge bei einer
Einwohnerzahl von insgesamt eine Millionen Menschen. Alleine in den letzten
zwei Wochen sind wohl etwa 630.000 Flüchtlinge gekommen. Das sind
hauptsächlich yezidische Flüchtlinge aus Shingal. In der ersten Woche haben
die meisten dieser Menschen irgendwo im Freien gehaust. Die Flüchtlinge
haben nichts. Sie haben alles zurückgelassen und sind mit dem was sie in
dem Moment am Körper hatten mitten in der Nacht geflüchtet. Etwa 90% der
630.000 Flüchtlinge von den letzten 14 Tagen sind mittlerweile in Schulen,
Sportstadien oder Camps untergebracht. Nur noch wenige leben in den sog.
"wilden Camps". Das sind Camps, die von den Flüchtlingen selbst auf irgend
einen freien Platz errichtet sind. In den nächsten 4-5 Tagen werden vier
neue Flüchtlingscamps mit jeweils für etwa 15.000 - 20.000 Menschen auch
fertiggebaut sein. Die kurdische Regionalregierung tut alles erdenkliche um
dieser Masse an Menschen zu helfen. Sie teilen mit den Flüchtlingen alles,
was sie haben. Die bekommen seit Jahren wohl keinen Cent von dem
vereinbarten Budgetanteil und keine Unterstützung von der irakischen
Zentralregierung. Sie versuchen sich durch die wenigen Einnahmen, die das
Land durch den Zoll hat, über das Wasser zu halten.

Das mittel- oder langfristige Problem wird sein, diese Menschen mit allem
lebensnotwendigen zu versorgen und denen eine Zukunftsperspektive zu geben.
Die haben grausames erlebt. Die stehen nun hier in dem Flüchtlingscamps
ohne eine Hoffnung und wissen nicht, ob sie jeweils zurückkehren können.
Auch wenn deren Land von dem IS befreit wird, wissen sie nicht, was die
Zukunft bringt. Die glauben nicht, dass man sie langfristig in Ruhe und
Frieden leben lässt. Die Angreifer waren in erster Linie die Bewohner der
benachbarten Dörfer.

Nach unserem Abflug aus Deutschland sind wir in der Nacht auf Dienstag in
Diyarbakir in der Türkei angekommen. In der Gruppe aus Hannover waren neben
drei Ärzten auch drei Mitarbeiter des Fernsehteams von ZDF und der
Vorsitzender des Zentralrates der Yeziden in Deutschland Herr Telim Tolan.
In Diyarbakir waren bereits vier weitere Ärzte aus Deutschland und eine
Ärztin aus England anwesend.

Wir erfuhren, dass etwa 1000 Flüchtlinge auch in Diyarbakir angekommen
sind. Diese wurden in vier Camps in Schulen bzw. Sporthallen untergebracht.
Bereits am nächsten Tag haben wir in Diyarbakir einer der Flüchtlingscamps
besucht. Dort waren 400 Flüchtlinge in einem geschlossnen und
klimatisierten Sportstadium untergebracht. Es wurde sofort von der
Ärztekammer Diyarbakir und die Gewerkschaft für Gesundheitsberufe auf
freiwilliger Basis eine Versorgungsstation mit reichlich Medikamenten und
24 Stunden anwesenden Gesundheitspersonal eingerichtet. Danach haben wir
für etwa 24000 Euro Medikamente gekauft, die wir zur Akutversorgung
mitgenommen haben.

Am Abend haben wir dann im Ärztekammer Diyarbakir uns mit 34 kurdischen
Ärztevertretern aus der Region getroffen. Gemeinsam haben wir ein
Aktionsplan erarbeitet. In einer Liste für Freiwillige hatten sich bereits
250 Personen (150 Ärzte und 100 Pflegekräfte) eingetragen. Nach den
Sommerferien wird diese Zahl wahrscheinlich um 400 zu liegen kommen.

Am Mittwoch den 20.08.2014 sind wir dann mit 15 Personen und die
eingekauften Medikamenten Richtung Irak gefahren. Nach etwa 7 Stunden
konnten wir endlich die Grenze überschreiten. Auf der kurdischen Seite
wurden wir durch den Direktor des Amtes für Gesundheit der Provinz Dohuk,
Direktor des Amtes für Gesundheit des Distrikts Zakho und einigen anderen
Ärzte empfangen. Sie waren über unsere Ankunft extrem erfreuet.
Bereits an dem gleichen Tag haben wir in Zakho einen großes
Flüchtlingslager mit etwa 31.500 Flüchtlinge besucht und uns informiert.

An den folgenden Tagen wurden wir durch den zuständigen Kollegen in bereits
vorhandene Teams eingeteilt und wir konnten dann in fünf Teams unseren
Kollegen in verschiedenen Flüchtlingscamps, in den drei Krankenhäusern in
der Sadt Zakho und in Mobilen Versorgungseinheiten unterstützen und die
Flüchtlinge versorgen. Jeder Arzt sieht pro Tag etwa 300 Patienten. Sie
müssen als Arzt alle Fachrichtungen der Medizin beherrschen. Sie haben
Patienten mit allen möglichen Krankheiten und jeden Alters in erdenklich
schlechtem Zustand. Meist Leidtragende der Flucht sind vor allem die
Kinder. Gerade die ganz kleinen leiden unter extremen Durchfall,
Dehydratation und Bronchitis. An dem Tag herrschen Temperaturen um 45°C. In
der Nacht kühlt das Wetter bis auf 20°C herunter. Dieser
Temperaturunterschied macht bei fehlenden Matratzen und Decken sowie
Kleidung extreme Probleme und verursacht Bronchitiden und Exsikkose.
Bei den Erwachsenen sind in erster Linie die chronischen,
behandlungsbedürftigen Krankheiten wie Herzsuffizienz, Diabetes,
Bluthochdruck, Niereninsuffizienz, Rheuma, Arthrosen, die durch die
fehlende Therapie und Strapazen der mehrere Tage andauernden Flucht,
dekompensiert sind anzutreffen. Während für die Akuttherapie genügend
Medikamente zur Verfügung stehen, gibt es erhebliche Versorgungsengpässe
bei der Behandlung der chronischen Krankheiten durch fehlende Medikamente.
Einerseits war keiner auf so einen Ansturm von Flüchtlingen vorbereitet
anderseits fehlt es auch an finanziellen Ressourcen, weil die Irakische
Zentralregierung seit mehreren Jahren den vereinbarten Anteil des Budgets
an die kurdischen Regionalverwaltung nicht überweist.

Auffällig ist, dass die meisten Kinder keine Schuhe und keine adäquate
Kleidung haben.

Am 23.08.2014 haben wir für etwa 11.000 US Dollar für 1200 Kinder Schuhe,
Kleidung und Spielzuge gekauft und diese in verschiedenen Camps verteilt.

Am heutigen Tage haben wir nach Rücksprache mit den Flüchtlingen selbst,
Verantwortlichen in den Camps und Vertretern der Yeziden uns entschieden
unter Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden folgende Investitionen zur
Versorgung der Flüchtlinge mit unseren Spendengeldern zu betätigen:

1: Auf drei neuen (in zwei bis drei Tagen werden sie fertig gebaut sein)
Flüchtlingscamps stellen wir jeweils drei Container (mit jeweils 18 qm) als
Medizinische Versorgungsstation zur Verfügung. Es werden insgesamt 9
Container mit kompletter Einrichtung für etwa 67.500 US Dollar hingestellt.

2: Es werden drei Container mit Kühlungseinrichtung (bis etwa 18-20°C) und
zwei Container für eine Kühlung bis auf 4°C für die Lagerung der
Medikamente angeschafft. Wir werden die Kosten in Höhe von 82.000 US Dollar
übernehmen. In diesen Containern werden auch die Medikamente zum Impfen
transportiert und gelagert.

3. Wir werden zwei mobile Zahnarztpraxen kaufen, die in den verschiedenen
Flüchtlingscamps eingesetzt werden. Diese mobilen Einheiten werden von
einem Kollegen in einem Wohnwagen hier in Dohuk zusammengesetzt. Wir haben
eine solche Einheit heute gesehen und waren zutiefst beeindruckt. Ein
Zahnarztkollege von uns hat eine Tag damit gearbeitet und war sehr angetan.
Er ist in der Lage zwei solche Einheiten innerhalb von einer Woche
zusammenzubauen. Die Kosten in Höhe von 31.000 US Dollar werden von uns
übernommen.

4. In einigen Flüchtlingscamps sollen WC's spezielle für Frauen mit
Duschmöglichkeit und einer Einheit zum waschen von Wäsche gebaut werden.
Hierbei soll die Einheit zum Wäsche waschen nur als Tarnung dienen, weil
die meisten Frauen aus Scham sich nicht trauen tagsüber die Toiletten
aufzusuchen. Die Kosten hierfür werden noch ermittelt, werden aber von uns
ebenfalls übernommen.

Weitere Investitionen werden eher im Bereich der humanitären Versorgung mit
Decken, Kleider, Geschirr, Hygieneartikeln sein. Die genaue Höhe wird in
den nächsten Tagen ermittelt werden.

Es wird ein Einsatzplan erstellt um die Kollegen aus Europa und der
Türkei-Kurdistan regelmäßig in die Versorgung einzubinden. Vor allem sind
die Fachärzte für Kinderheilkunde, Frauenkrankheiten und Innere Medizin
gefragt.

Somit haben wir am heutigen Tage Investitionen in Höhe von etwa 180.000 US
Dollar vereinbart. Die Aufträge für die medizinischen Einheiten in den
Camps und die Kühlcontainer sind bereits erteilt. Das Geld wird nächste
Woche an die zuständigen Behörden überwiesen, sofern der Auftrag
nachweislich erledigt wurde.

Wir können eine erfolgreiche und sinnvolle Arbeit nur durch die
Zusammenarbeit mit den hiesigen Behörden absolvieren. Alleine sind solche
wichtigen Investitionen nicht betätigen und umsetzen.

Der Präsident der Regionalregierung hat angeordnet, dass alles andere
zuerst liegen gelassen werden muss bis die Flüchtlinge komplett versorgt
sind. So sind alle extrem bemüht die Flüchtlinge mit allem, was notwendig
ist zu versorgen. Auch die Bevölkerung versucht mit allem den Flüchtlingen
zu helfen. Selbstverständlich gibt es auch Kritikpunkte und Mängel. Aber
man kann die Arbeit der Behörden im höchsten nur loben. ich glaube, dass
fast jedes Land bei so viel Flüchtlingen überfordert wäre und an die
Grenzen der Machbarkeit stoßen würde.

Es wird eine Herausforderung sein, diese Menschen mit allen zu erwartenden
sozialen und psychologischen Konflikten, in ein geregeltes Zusammenleben zu
halten. Die brauchen Betätigung, Schulen, eine Hoffnung und eine
Perspektive. Diese Aspekte sind schwerer zu handhaben als die Bemeisterung
der Akutsituation.

Ab Morgen wird unser Team im Gebiet Dohuk unterwegs sein und mit den
dortigen Kollegen die Flüchtlinge in den vier verschiedenen Camps
versorgen.

Herzliche Grüße

Hüseyin Bektas

Prof. Dr. med. H. Bektas
Medizinische Hochschule Hannover
Klinik für Allgemein-, Viszeral- und
Transplantationschirurgie
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
E-Mail: Bektas.Hueseyin@mh-hannover.de
Tel: 0049-511-532 6177
Fax: 0049-511-532 4010

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