Sonntag, 7. Januar 2007
Die Esskultur der 50er Jahre oder Vater sagt´s
Ich hatte mit meinem Vater ja über die Jahrzehnte etliche Auseinandersetzungen um´s Essen. Er kritisierte mich, weil ich gerne ausländisch esse (das sei Mißachtung der eigenen Kultur) oder weil ich in der Woche Lachs, Kaviar oder Austern zu mir nehme.
Döner, Felafel oder Hamburger von der Bude mitzunehmen, statt sich selber ein Brot zu schmieren, sei Geldverschwendung, und ich hätte davon jo offensichtlich zu viel.

Jüngst hatte ich ein grundsätzliches Gespräch mit ihm, wo er darlegte, was er eigentlich meinte. In den 1950ern aß unsere Familie, zu der ich noch nicht gehörte, Fleisch nur an Feiertagen oder zumindest nur Sonntags, und das war dann Kaninchenfleisch. Die Eltern hielten Kaninchen, die sie bei Erreichung eines bestimmten Alters schlachteten, und dann gab es Kaninchenbraten, Kaninchensteak und Kaninchensuppe. Nie wären sie auf die Idee gekommen, Fleisch beim Schlachter zu kaufen, das war viel zu teuer.

Nun waren meine Eltern nicht etwa arm, sondern Vater war damals leitender Angestellter, die Eltern besaßen ein Mietshaus in der Innenstadt, aber so waren die 50er Jahre: Die Lebensverhältnisse in der Wirtschaftswunderzeit wären heute Dritte Welt.
Insofern verwundert es auch nicht, dass ich in der linken Szene erleben konnte, dass Menschen aus Griechenland, Türkei, Kurdistan und Irak geradezu hasserfüllt auf Vegane reagierten und meinten, für sie sei es eine soziale Errungenschaft, Fleisch essen zu DÜRFEN und der Veganismus sei eine Ideologie überdrehter Bürgerkinder. Mit Betonung Kinder.

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Betonung auf "Ideologie"
Vegetarier, die einfach kein Fleisch essen, aber dabei nicht "missionieren", sind im Allgemeinen erträgliche Zeitgenosse. Ideologische Vegetarier sind IMO eine Landplage.
Nun ist es so, dass der "Veganismus" - die konsequente Vermeidung aller tierischer Nahrungsmittel und Produkte - an sich schon ein gewisses Maß an ideologischem Denken vorraussetzt. Wenn jemand dann auch noch seinen Veganismus zur einzig moralisch zulässigen Position erklärt, dann fällt es auch mir schwer, nicht hasserfüllt zu reagieren.

Übrigens teile ich bis zu einem gewissen Grade die Einstellung Deines Vaters (nein, nicht das mit der "Mißachtung der eigenen Kultur). Döner, Felafel oder Hamburger von der Bude mitzunehmen, statt sich selber ein Brot zu schmieren, *ist* Geldverschwendung. (Wenn man mal auf Sozialhilfe war, weiß man so was.) Z. B. auf Reisen greife ich, mangels Alternative, durchaus zu "Fast Food", aber zuhause käme ich gar nicht auf die Idee, schnell mal ´rüber in die Dönerschmiede zu gehen.

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Die Lebensverhältnisse in der Wirtschaftswunderzeit wären heute Dritte Welt.

nicht ganz, denn wenn man vom stand 1945 ausgeht, war zehn jahre später das unmittelbare überleben nicht mehr gegenstand der überlegungen des einzelnen. was den lebensstandard angeht, lassen sich aussagen dazu am ehesten an der größe und der ausstattung von wohnungen (am sichtbarsten im bereich heizung / wasser / sanitär) festmachen, wenn es um belegbare fakten*) geht. übrigens wurde die bewirtschaftung von wohnraum erst anfang der siebziger aufgehoben, dies ein beleg dafür, dass der wohnungsbau damals ein problem war.

dritte welt gab es damals. im bereich der einfachstwohnungen und notunterkünfte, in denen die obdachlosen (nicht zu verwechseln mit den nichtsesshaften, die auf der strasse leben. obdachlose sind diejenigen, die keine wohnung haben und deshalb in unterkünfte eingewiesen worden sind) untergebracht waren. da gab es dann die familie mit fünf kindern in drei zimmern ohne bad. und wenn der tierschutzverein gewusst hätte, dass die einen hund halten, hätte er den hund abgeholt, die kinder wären geblieben, wo sie waren. offizielle begründung für solches von staats wegen gemachtes wohnungselend: diese unterkünfte dürfen nicht zu anspruchsoll sein, weil die dort untergebrachten dort nicht bleiben sollen, sondern ihr streben nach verbesserung ihrer lebensumstände auf diese gefördert werden soll. also in etwa das, was heute so im bereich sgb zwo zu hören ist, wo ja auch die arbeitslosigkeit zuweilen als problem der persönlichen körperlichen hygiene missverstanden wird.

da wäre in zukunft zu beobachten, wie, nach dem prozess des sozialen aufstiegs im grossen umfang nunmehr sozialer abstieg verläuft.


*) weil, ich entdecke mich zuweilen dabei, ähnliches zu denken, wie die leute, die ich in meiner jugend als veraltet abgelehnt habe:
- so fehlt es mir am verständnis für gewisse, angeblich musikalische darbeitungen. der sache nach nichts anderes als rhytmischert lärm, der auch nicht dadurch gesinnt, dass er in autos (fahrbaren musikboxen) erzeugt wird.
- das, was für deinen vater der imbiß als ausdruck rabiater geldverschwendung ist, ist für mich das unter der jugend verbreitete ohrenweh. ich sehe hier eine generation heranwachsen, die finanziell ruiniert sein wird, und das nur deswegen, weil geschickte leute ihnen händis und allerhand kram dazu verkauft haben, so wie das früher anderswo mit glasperlen gemacht wurde.

so werde ich eben älter und dabei nicht gescheiter, es gibt da ja von jacques brel ein schönes chanson dazu, les bourgeois heisst es.
hier: http://www. paroles.net/chansons/11798.htm

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Prinzipiell ist es wünschenswert, wenn jeder Mensch eine möglichst große Auswahl hat. Aber diese Auswahl wird uns hier in Deutschland natürlich unter sehr bedenklichen Nebenwirkungen zur Verfügung gestellt: Massentierhaltung, undurchschaubares Subventionsgewirr, große Mengen an Lebensmitteln werden weggeworfen ...

Es kann also gute Gründe geben, sich selbst etwas zurückzunehmen und seine freien Auswahlmöglichkeiten nach bestimmten Gesichtspunkten einzuschränken.

@Martin: Du schreibst über Vegetarier und »missionieren«. Als inzwischen ziemlich konsequenter Montag-bis-Freitag-Vegetarier missioniere ich natürlich überhaupt niemanden -- wer mich kennt, sieht ja das Ergebnis :-) Aber wir leben in einer Zeit, in der Essgewohnheiten leider kaum hinterfragt werden. Und du kommst beim Essen mit anderen Leuten in Gaststätten oder Kantinen einfach in Erklärungsbedarf, wenn alle anderen ihre Maxiportion Fleisch auf dem Teller haben. Denn oft musst du dann nach einer »Notlösung« greifen. Allerdings wird es in letzter Zeit zumindest in den Großstädten besser: viele Kantinen bieten irgendein vegetarisches Essen an, das wirklich schmeckt.

Aber in der Vorweihnachtszeit habe ich ein paar Tage in einer Provinzstadt gearbeitet und man hatte mich wie in den Jahren zuvor in einem netten kleinen Hotel einquartiert. Es gab auch Gelegenheiten, mit anderen Leuten essen zu gehen, so habe ich mir z.B. eine Pilzpfanne bestellt. Dann wollten sie mir wahrscheinlich etwas Gutes tun und haben die Pilzpfanne mit Hähnchenfilet-Streifen versetzt ... Es war vielleicht gut gemeint, aber es passte einfach überhaupt nicht zu meiner Ernährungsweise.

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Ach ja, der gute alte Brel, inklusive seiner deutschen Interpretation durch Klaus Hoffmann. Was Dritte Welt angeht, auch-einer: Auch in Ländern wie Ägypten, Indonesien oder Ecuador ist es nicht primär die Frage des unmittelbaren Überlebens, die die Massen beschäftigt. Dritte Welt (eigentlich bevorzuge ich den Begriff Trikont, denn es gibt nuir eine Welt) sind nicht nur die Hungergebiete Schwarzafrikas.

Stefanolix: Diese Alltagsprobleme der Vegetarier sind mir sehr wohl bewusst. Aber die missionierenen, repressiv-moralischen Veganer sind eine Bewegung, die, so vermute ich, bei Euch in sachsen kaum in Erscheinung treten dürfte, sondern primär nordwestdeutsch.

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Die Extremvegetarierphase war hier lange Jahre bei jungen Mädchen zu beobachten. Teilweise hatte es schon religiöse Züge. Nur die Begründungen wackelten leicht, wenn man auf die Lederschuhe und Ledertasche hinwies.

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Che: es gibt hier vereinzelt auch Veganer, die sich gern mal auf den Boulevard stellen und die Leute agitieren wollen. Aber die repressiv-moralischen kenne ich wirklich nur aus dem Westen.

Noch einmal zum Hinterfragen der Ernährungsweise: ich finde es als Liberaler richtig, dass die Leute sich aus ihrem eigenen Bewusstsein heraus entscheiden. Ich sehe aber auch das Problem, dass Fleisch und Fleischprodukte bei uns viel zu billig zu haben sind. Deshalb würde ich mir ein breites Umdenken wünschen.

Ich will keine Welt, in der militante Veganer uns vorschreiben, was wir essen müssen. Aber ich fände es gut, wenn man sich als mittelfristiges Ziel eine Halbierung des Fleischkonsums zum Ziel setzen würde. Eigentlich gäbe es dann sehr viele Gewinner.

In der traditionellen Ernährungsweise wie bei Deinen Eltern war es doch durchaus vernünftig geregelt: das sonntägliche Kaninchenfleisch dürfte recht gesund gewesen sein und es darf ja gern auch mal Fisch, Geflügel oder Rind auf den Tisch kommen. Aber es sollte etwas Besonderes bleiben.

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Es sollte nichts besonders bleiben, es war etwas Besonders. Weil es teuer war.

Einen interessanten Widerspruch finde ich, dass (Veganer weisen gerne darauf hin) Fleischerzeugung zwar große Mengen pflanzlicher Erzeunisse verschlingt, mit denen man effizienter auch Menschen sättigen könnte, aus der Warte der individuellen Ernährung eine vegane Ernährung, die trotzdem ausgewogen ist (immer nur nichts als Reis essen, ist zwar billig und vegan, aber sicher nicht gesund), aber ein Luxus ist, den man sich nur als Angehöriger einer ziemlich satten Gesellschaft leisten kann.

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Ich wollte mit »Aber es [Fleisch] sollte etwas Besonderes bleiben« eher eine Zielvorstellung für die Zukunft ausdrücken und wenn man die beiden letzten Absätze im Zusammenhang liest ...

Mit dem Luxusproblem hast Du insofern Recht, dass alle hier teilnehmenden Kommentatoren ohne Hunger vor ihren Monitoren sitzen und über die beste Ernährungsform diskutieren können. Dann wären aber auch Literatur und Philosophie Luxusprobleme.

Vegane Ernährung besteht nicht nur aus Reis :-) In der guten Küche findet man sehr viele vegane Bestandteile, mit denen man sich schon sehr abwechslungsreich ernähren könnte. Ich meine aber, dass zumindest Milchprodukte noch dazugehören, weil sonst Mangelerscheinungen auftreten würden.

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Eine vegane Ernährung verzichtet auf sämtliche tierischen Produkte, also auch auf auf Milchprodukte.
Eine Vermeidung von Mangelerscheinungen ist laut Aussagen von Veganern (ich bin keiner) unter sorgfältiger Auswahl der verwendeten Lebensmittel prinzipiell möglich - die nötige Auswahl erfordert meiner Ansicht nach aber eine extrem gute Versorgung mit Lebensmitteln aller Art auf einem Niveau, das man wahrscheinlich nur in den Industrienationen findet - daher mein Luxus-Einwand.

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Die VeganerInnen, die ich so kennengelernt habe, tragen z.B. Plastikstiefel (Leder ist ja Mord), die xtra in England gekauft wurden, weil es die hier nicht gibt.

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Ich dachte, Plastik ist bäääh, im Erdöl sind auch tote Tiere.

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Flaschenpost vorm Krokodilrachen angeschwemmt?

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JA ;-))Fläschlein angetrieben und geht morgen wieder zurück, wie versprochen. DANKE

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Bittschön ;-)))

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Fläschlein hat die Sandbank verlassen und treibt den Rhein hinunter :-)

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ich habe selbst...
...niemals viel fleisch gegessen; von daher fiel mir dann vor ein paar jahrzehnten die umstellung auf eine lakto-vegetarische ernährung (incl. milchprodukten und eiern, aber selten) auch nicht weiter schwer.

und ich behaupte, dass es sich in unseren breiten beim fleischkonsum um eine *nicht lebensnotwendige* gewohnheit handelt, die zudem mit einigen - irrigen - vorstellungen von sozialem status sowie - kulturell tiefer verankert - auch von männlichkeit kodiert ist.

nicht nur die ökonomische bilanz bei der produktion von fleisch insgesamt eine negative; auch solche

http://www.taz.de/pt/2007/01/05/a0133.1/text

und solche

http://www.taz.de/pt/2007/01/06/a0140.1/text

aspekte stellen für mich gewichtige gründe dar, den fleischkonsum nicht alleine unter aspekten des "anything goes" zu betrachten. er gehört zu denjenigen teilen des v.a. westlichen destruktiven lebensstils, bei denen - achtung, bähwort! - ohne verzicht keine notwendigen veränderungen in gang kommen können.

ps. außerdem ist es inhaltlich imo nicht gerechtfertigt, vegetarismus und veganismus in einem pott zu schmeißen. letzterer stellt zwar durchaus interessante fragen zum meist unhinterfragten anthropozentrismus im verhältnis mensch - tier, transportiert aber auch extrem fragwürdige ideologische fragmente.

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In Indien sind ja Veganer relativ üblich. Nur nennen die das Vegies (afaik). Die Idee ist also nicht unbedingt auf die traditionellen Industrieländern beschränkt. Ich hab auch das Gefühl, dass es gesünder wäre weniger Fleisch zu essen. Leider ist das so lecker.

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Meine Mutter bezeichnet einen Bekannten meiner Schwester immer mit echtem Ekel im Gesicht als "diesen Veganer". Für sie der Inbegriff des "alternativen, pseudointellektuellen Gesocks mit Pflanzen und Tieren in den Haaren". Dass ich Vegetarier bin (kein bisschen missionarisch, weil auch gar nicht von Ideologie beseelt sondern einfach nur geschmacklich sehr eingeschränkt), hat sie zwar inzwischen verstanden, aber es wird immer wieder gerne boykottiert, was bei familiären Zusammenkünften zu ganz skurrilen Tischsitten führt...

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