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Mittwoch, 27. September 2023
Kritische Anmerkungen zur aktuellen Asyldiskussion
che2001, 17:57h
Vom Flüchtlingsrat Niedersachsen
Die innenpolitische Debatte um Asyl wird weiter aufgeheizt. Kein Tag vergeht, an dem nicht neue, menschenfeindliche Vorschläge zur Lösung eines „Problems“ aufgetischt werden, das keines wäre, wenn tatsächlich die Bereitschaft bestünde, die bestehenden Herausforderungen pragmatisch und lösungsorientiert anzugehen.
Nachfolgend übersenden wir eine kurze Analyse der aktuellen Asyldebatte und präsentieren fünf Lösungsvorschläge.
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„Die Zahl der Asylbewerber ist erst gesunken, als die Buschtrommeln signalisiert haben – geht nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager“
(Ministerpräsident Lothar Späth, zitiert nach Schwäbisches Tagblatt 5.5.1982)
„Es strömen die Tamilen zu Tausenden herein, und wenn sich die Situation in Neukaledonien zuspitzt, dann werden wir bald die Kanaken im Land haben.“
(Franz Josef Strauß, zitiert nach Spiegel 17.02.1985)
„Deng Xiaoping hat einmal gesagt: Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein.“
(Peter Ramsauer, zitiert nach: FR 14.08.2023)
Wenn es ein Phänomen gibt, welches die Arbeit des Flüchtlingsrats seit seiner Gründung 1984 begleitet, dann ist es das Phänomen des Rassismus. Immer wieder erleben wir diese würdelose Abwertung von Menschen auf der Flucht oder in der Migration, wenn von ihnen als „den Anderen“ gesprochen wird und sie eine entsprechende Behandlung erfahren. Diese Abgrenzung dient der individuellen Ermächtigung – einfach gesagt: Ich fühle mich stärker, wenn ich andere klein mache. Der nationale Schulterschluss dient der Kanalisierung gesellschaftlich erlebter Widersprüche: Mensch möchte Teil einer starken, homogenen Gemeinschaft sein gerade dann, wenn sich die Umgebung als widersprüchlich und kompliziert erweist. Schutzsuchende und Migrant:innen sind meist Opfer dieser Erzählungen und der ihnen folgenden Taten. Insbesondere die sogenannte Asylpolitik steht im Mittelpunkt einer strukturell rassistischen Debatte, in der die Bekämpfung und Begrenzung der Zahl Schutzsuchender zu einem zentralen innenpolitischen Thema gemacht und als Allheilmittel verkauft wird. Nancy Faesers (SPD) Vorschläge zur Ausweisung und Abschiebung ganzer Familien ohne strafrechtliche Verurteilung und die Vorschläge von Frei (CDU) und Gabriel (SPD) für eine Abschaffung des Asylrechts bilden nur die Spitze dieser wieder verschärft geführten innenpolitischen Diskussion.
Dabei ist die bundesrepublikanische Öffentlichkeit zu Flucht und Migration durchaus gespalten. Auf der einen Seite wird lautstark ein Mangel an Arbeitskräften in Deutschland beklagt, der im Produktions- wie im Dienstleistungsbereich zu Ausfällen führt und die Bundesregierung veranlasst, rund um den Globus für eine Arbeitsmigration nach Deutschland zu werben. Auf der anderen Seite klagen vor allem die Kommunen über eine Überforderung bei der Aufnahme von Geflüchteten.
Rechtspopulisten sehen ihre Stunde gekommen: Sie schüren und pflegen lautstark und öffentlich Paranoia über die Zahl der in Deutschland Schutz suchenden Menschen. Sie betonen Verunsicherung, Überforderung und Sorge um ihre „kulturelle Identität“ – und haben damit Erfolg nicht zuletzt deshalb, weil die sogenannte „Brandmauer gegen rechts“ bröckelt: Zwar wird die formale Abgrenzung überwiegend weiter aufrechterhalten, jedoch ist inhaltlich ein Dissens in der Flucht- und Migrationspolitik immer weniger auszumachen: Die Problemdefinition der AfD zum Themenkomplex „Flucht und Asyl“ beherrscht die öffentliche Agenda, und die von der rechtsradikalen Partei schon 2015 geforderten Schritte („robuste“ Grenzkontrollen, Rückführung, Stärkung von Frontex, Abschiebung in „sichere Drittstaaten“ usw.) sind im Mainstream angekommen. Die AfD frohlockt: „Echte Migrationswende leitet nur die AfD ein!“ Dabei wissen wir: Eine Entrechtung von Geflüchteten bringt nur den Tod ungezählter Menschen auf der Suche nach Schutz und Asyl und treibt sie in die Illegalität.
Nach den letzten Erfahrungen mit Faschisten an der Macht hat Deutschland nur deshalb eine zweite Chance bekommen, weil der Schwur galt: NIE WIEDER! Aufgrund dieser Erfahrungen wurde das Grundrecht aus Asyl in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Politisch Verfolgte sollten sich in Deutschland sicher fühlen. Der gesellschaftliche Alltag ist heute geprägt von vielen Menschen, Beheimateten und Neuzugewanderten, denen Solidarität kein Fremdwort ist und die die offene Gesellschaft tagtäglich gestalten. Nur, dass sie in der aktuellen öffentlichen Diskussion wenig Gehör finden.
Trotz der Aufnahme von über einer Million Menschen aus der Ukraine redete in Deutschland bis zum Beginn des Jahres 2023 kaum jemand von einer „Flüchtlingskrise“ . Bis dahin war es ein unhinterfragter gesellschaftlicher Konsens, dass die Solidarität mit Geflüchteten nicht in Frage gestellt werden dürfe. Das änderte sich erst, als die Zusammensetzung der Flüchtlingspopulation sich änderte:
Deshalb hat die derzeitige Hetze gegen Schutzsuchende in unseren Augen auch nichts mit den Kapazitäten des deutschen Asylsystems, aber viel mit dem Erstarken der AfD zu tun. Denn tatsächlich erleben wir einen deutlichen Rückgang der Gesamtzuwanderung. Während die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine drastisch sinkt, ist die Zahl der Asylsuchenden zwar gestiegen: 175.000 Asylsuchende wurden in Deutschland bis Ende Juli registriert. Darunter befinden sich rund 10% hier geborene Kinder und 10% Asylfolgeantragsteller, die sich längst in Deutschland befinden, nach Deutschland zugezogen sind also nur ca. 140.000 Menschen). Aber gemessen an der Gesamtzuwanderung sind Asylsuchende eine kleine Gruppe: Im Jahr 2022 wurden rund 2.666.000 Zuzüge und 1.204.000 Fortzüge über die Grenzen Deutschlands erfasst. Selbst wenn 2023 insgesamt 400.000 Asylsuchende Schutz in Deutschland suchen sollten, wären das nicht mehr als 15% der Zuwanderungszahl von 2022.
Offenkundig hängt die Frage, ob die (menschenwürdige Ausgestaltung der) Zuwanderung als notwendig und sinnvoll oder als belastend wahrgenommen wird, nicht primär von deren Charaktereigenschaften oder Qualifikationen, sondern a) vom (persönlichen) Nutzen ab, dem man sich aus der Hetze gegen Einwandernde verspricht, b) der aktuellen öffentlich-medialen Stimmung, und c) von Status und Hautfarbe der Menschen, die man nicht hier haben will. Die Zuwanderungsdebatte in Deutschland ist von einem strukturell rassistischen Grundtenor geprägt.
Die Aufnahme von Asylsuchenden ist nicht deshalb schwierig, weil so viele Menschen kommen, sondern sie wird schwierig gemacht, weil die Bedingungen nur teilweise auf Integration angelegt sind. Diese Rahmenbedingungen der Flüchtlingsaufnahme verhindern eine schnelle und nachhaltige Teilhabe der Geflüchteten oder machen sie zumindest schwierig. Wir appellieren daher an die Politik, diese Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten kann dabei in mancher Hinsicht als gutes Modell dienen.
Vorschläge für eine andere Asylpolitik
Um die bestehenden Herausforderungen bei der Aufnahme von Asylsuchenden zu meistern und den strukturellen Rassismus der deutschen Asyl- und Migrationspolitik zu überwinden, schlagen wir folgende Maßnahmen vor:
1. Verzicht auf Lagerzwang
Die Registrierung Asylsuchender kann, wie wir bei der Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge gesehen haben, dezentral durch die Ausländerbehörden erfolgen. Die Daten können vor Ort von den Ausländerbehörden erhoben und der Landesaufnahmebehörde zugeleitet werden. Mit dem bisherigen rigiden System einer zentralen Aufnahme verzichtet die Politik darauf, die Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu nutzen. Eine zentrale Aufnahme braucht es nur für solche Asylsuchenden, die sich nicht selbst helfen können und über keine Angehörigen verfügen, bei denen sie (befristet) wohnen können.
2. Verzicht auf Verteilungszwang
Eine Verteilung von Asylsuchenden auf alle Länder ist sinnvoll, um lokale Überforderungen zu vermeiden. Auch hier wäre es allerdings sinnvoll, zunächst einmal zu klären, wo die Geflüchteten Verwandte und Unterstützer:innen haben, und eine Verteilung nur derjenigen vorzunehmen, die keine Anknüpfungspunkte in Deutschland haben. Es ist absurd, wenn der Enkel einer seit Jahren in Münster lebenden und arbeitenden Frau nicht bei seiner Großmutter wohnen darf, weil er dem Land Niedersachsen zugewiesen wurde.
3. Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Die Bundesrepublik koppelt seit 30 Jahren Asylsuchende vom bundesweiten System der Arbeitsmarktintegration ab: Zuständig für sie sind nicht die Jobcenter, sondern die Sozialämter, die nur in Ausnahmefällen (v.a. in den Optionskommunen) eine Arbeitsmarktvermittlung und -integration für ihre Kund:innen betreiben und es überwiegend dabei belassen, (für Asylsuchende gekürzte) Sozialleistungen auszuzahlen. Bis Asylsuchende den Weg zu den Arbeitsagenturen gefunden haben und dort auch vermittelt werden, vergehen in der Regel mindestens zwei Jahre. Die fehlende systematische Begleitung, restriktive Auflagen und behördliche Arbeitsverbote behindern die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten zusätzlich.
Durch die Abschaffung des erst 1993 eingeführten Asylbewerberleistungsgesetzes und eine Wiedereingliederung aller (erwerbsfähigen) Asylsuchenden in das SGB II könnten Geflüchtete von Beginn an und systematisch gefördert und gefordert werden. Die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte, aber bis heute nicht umgesetzte Streichung diskriminierender Arbeitsverbote und die betroffenenorientierte Ausgestaltung der geplanten „Willkommensbehörden“ täten ein Übriges, dass sich viele Geflüchtete schneller in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren könnten.
4. Bleiberechtsberatung statt Verschärfung der Abschiebungsregeln
Das deutsche Aufenthaltsrecht sieht inzwischen eine Vielzahl von Möglichkeiten vor, um Geduldeten, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, einen „Spurwechsel“ aus dem asylabhängigen Aufenthalt in einen Aufenthalt zu Erwerbszwecken zu ermöglichen. Doch die Regeln sind kompliziert und teilweise widersprüchlich ausgestaltet. Statt den Betroffenen dabei zu helfen, einen Aufenthaltsstatus zu erwerben, werden „Duldungen“ über viele Jahre erteilt und prekäre Aufenthalte damit weiter verlängert. Das Damoklesschwert einer Abschiebung schwebt weiterhin über den nur geduldeten Menschen. Oftmals fehlt nur eine Kleinigkeit, um erwerbstätigen Geduldeten eine Aufenthaltsrecht zu Arbeitszwecken zu erteilen und den Aufenthalt zu legalisieren. So kommt es in Deutschland immer wieder zu der absurden Situation, dass erwerbstätige Geduldete abgeschoben werden, obwohl sie in Deutschland eigentlich dringend als Arbeitskräfte gebraucht würden.
Eine systematische Beratung aller Geduldeten mit einem grundsätzlichen Bleiberechtsanspruch, wie der Flüchtlingsrat Niedersachsen sie gemeinsam mit Partnerkommunen modellhaft im Projekt „Wege ins Bleiberecht“ umsetzt, könnte dazu beitragen, den Menschen ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen und Abschiebungen zu vermeiden. Dafür braucht es entsprechende, klare Rahmenbedingungen: Geduldete, die erwerbstätig sind, sollten grundsätzlich auch einen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht haben.
Wünschenswert ist eine noch weiter gehende humanitäre Bleiberechtsregelung, nach der alle Geduldeten bleiben dürfen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
5. Nachhaltiger Ausbau des sozialen Wohnungsbaus (auch für Geflüchtete)
Allein 2022 ist die Anzahl der Sozialwohnungen um 14.000 gesunken. Der Neubau hält mit dem Wegfall der Zweckbindung nicht Schritt. Und auch hinsichtlich der dezentralen Unterbringung Geflüchteter hat sich nichts verbessert. Maroder Wohnungsbestand und würdelose Großgruppenunterkünfte prägen nach wie vor die Landschaft und sorgen für nicht wenig Konfliktpotential auf allen Seiten. Eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus wird zwar seit Jahren propagiert, aber nicht umgesetzt, offenkundig auch, weil die bisherige Politik diesen Bereich nicht mit Priorität bearbeitet.
Mit diesen fünf einfach umzusetzenden Maßnahmen könnte die Aufnahme Geflüchteter konstruktiv gestaltet werden. Dass stattdessen der extremen Rechten nach dem Mund geredet wird, zeigt nur, wie billig das Schwert des Rassismus zu führen ist.
Mit Sorge nehmen wir wahr, wie der bundesrepublikanische Mainstream mehr und mehr in den europäischen Chor der Länder einstimmt, die von rechtsradikalen Parteien geführt oder mitregiert werden. Sie alle verfolgen das Ziel, gesellschaftlichen Belastungen und Herausforderungen u.a. durch Sozialabbau in der Krise und durch Ausgrenzung nach unten aus dem Weg zu gehen und Sündenböcke für bestehende Probleme zu präsentieren. Um so wichtiger wird es für uns deshalb in Zukunft sein, uns mit jenen Teilen der Gesellschaft wieder stärker öffentlich zusammen zu schließen, denen die Würde des Menschen unantastbar bleibt und die im Wissen handeln, dass angesichts von Krieg und Klimakrise ein gemeinsames Handeln nötig ist.
240.000 Menschen haben 2018 an der #unteilbar-Demo in Berlin teilgenommen. An die Stärken der damaligen Bewegung ist anzuknüpfen. Deutschland ist bunt, wir lassen uns nicht spalten und stehen ein für eine Zukunft, die für alle menschenwürdige Perspektiven bereithält.
Die innenpolitische Debatte um Asyl wird weiter aufgeheizt. Kein Tag vergeht, an dem nicht neue, menschenfeindliche Vorschläge zur Lösung eines „Problems“ aufgetischt werden, das keines wäre, wenn tatsächlich die Bereitschaft bestünde, die bestehenden Herausforderungen pragmatisch und lösungsorientiert anzugehen.
Nachfolgend übersenden wir eine kurze Analyse der aktuellen Asyldebatte und präsentieren fünf Lösungsvorschläge.
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„Die Zahl der Asylbewerber ist erst gesunken, als die Buschtrommeln signalisiert haben – geht nicht nach Baden-Württemberg, dort müsst ihr ins Lager“
(Ministerpräsident Lothar Späth, zitiert nach Schwäbisches Tagblatt 5.5.1982)
„Es strömen die Tamilen zu Tausenden herein, und wenn sich die Situation in Neukaledonien zuspitzt, dann werden wir bald die Kanaken im Land haben.“
(Franz Josef Strauß, zitiert nach Spiegel 17.02.1985)
„Deng Xiaoping hat einmal gesagt: Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein.“
(Peter Ramsauer, zitiert nach: FR 14.08.2023)
Wenn es ein Phänomen gibt, welches die Arbeit des Flüchtlingsrats seit seiner Gründung 1984 begleitet, dann ist es das Phänomen des Rassismus. Immer wieder erleben wir diese würdelose Abwertung von Menschen auf der Flucht oder in der Migration, wenn von ihnen als „den Anderen“ gesprochen wird und sie eine entsprechende Behandlung erfahren. Diese Abgrenzung dient der individuellen Ermächtigung – einfach gesagt: Ich fühle mich stärker, wenn ich andere klein mache. Der nationale Schulterschluss dient der Kanalisierung gesellschaftlich erlebter Widersprüche: Mensch möchte Teil einer starken, homogenen Gemeinschaft sein gerade dann, wenn sich die Umgebung als widersprüchlich und kompliziert erweist. Schutzsuchende und Migrant:innen sind meist Opfer dieser Erzählungen und der ihnen folgenden Taten. Insbesondere die sogenannte Asylpolitik steht im Mittelpunkt einer strukturell rassistischen Debatte, in der die Bekämpfung und Begrenzung der Zahl Schutzsuchender zu einem zentralen innenpolitischen Thema gemacht und als Allheilmittel verkauft wird. Nancy Faesers (SPD) Vorschläge zur Ausweisung und Abschiebung ganzer Familien ohne strafrechtliche Verurteilung und die Vorschläge von Frei (CDU) und Gabriel (SPD) für eine Abschaffung des Asylrechts bilden nur die Spitze dieser wieder verschärft geführten innenpolitischen Diskussion.
Dabei ist die bundesrepublikanische Öffentlichkeit zu Flucht und Migration durchaus gespalten. Auf der einen Seite wird lautstark ein Mangel an Arbeitskräften in Deutschland beklagt, der im Produktions- wie im Dienstleistungsbereich zu Ausfällen führt und die Bundesregierung veranlasst, rund um den Globus für eine Arbeitsmigration nach Deutschland zu werben. Auf der anderen Seite klagen vor allem die Kommunen über eine Überforderung bei der Aufnahme von Geflüchteten.
Rechtspopulisten sehen ihre Stunde gekommen: Sie schüren und pflegen lautstark und öffentlich Paranoia über die Zahl der in Deutschland Schutz suchenden Menschen. Sie betonen Verunsicherung, Überforderung und Sorge um ihre „kulturelle Identität“ – und haben damit Erfolg nicht zuletzt deshalb, weil die sogenannte „Brandmauer gegen rechts“ bröckelt: Zwar wird die formale Abgrenzung überwiegend weiter aufrechterhalten, jedoch ist inhaltlich ein Dissens in der Flucht- und Migrationspolitik immer weniger auszumachen: Die Problemdefinition der AfD zum Themenkomplex „Flucht und Asyl“ beherrscht die öffentliche Agenda, und die von der rechtsradikalen Partei schon 2015 geforderten Schritte („robuste“ Grenzkontrollen, Rückführung, Stärkung von Frontex, Abschiebung in „sichere Drittstaaten“ usw.) sind im Mainstream angekommen. Die AfD frohlockt: „Echte Migrationswende leitet nur die AfD ein!“ Dabei wissen wir: Eine Entrechtung von Geflüchteten bringt nur den Tod ungezählter Menschen auf der Suche nach Schutz und Asyl und treibt sie in die Illegalität.
Nach den letzten Erfahrungen mit Faschisten an der Macht hat Deutschland nur deshalb eine zweite Chance bekommen, weil der Schwur galt: NIE WIEDER! Aufgrund dieser Erfahrungen wurde das Grundrecht aus Asyl in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen. Politisch Verfolgte sollten sich in Deutschland sicher fühlen. Der gesellschaftliche Alltag ist heute geprägt von vielen Menschen, Beheimateten und Neuzugewanderten, denen Solidarität kein Fremdwort ist und die die offene Gesellschaft tagtäglich gestalten. Nur, dass sie in der aktuellen öffentlichen Diskussion wenig Gehör finden.
Trotz der Aufnahme von über einer Million Menschen aus der Ukraine redete in Deutschland bis zum Beginn des Jahres 2023 kaum jemand von einer „Flüchtlingskrise“ . Bis dahin war es ein unhinterfragter gesellschaftlicher Konsens, dass die Solidarität mit Geflüchteten nicht in Frage gestellt werden dürfe. Das änderte sich erst, als die Zusammensetzung der Flüchtlingspopulation sich änderte:
Deshalb hat die derzeitige Hetze gegen Schutzsuchende in unseren Augen auch nichts mit den Kapazitäten des deutschen Asylsystems, aber viel mit dem Erstarken der AfD zu tun. Denn tatsächlich erleben wir einen deutlichen Rückgang der Gesamtzuwanderung. Während die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine drastisch sinkt, ist die Zahl der Asylsuchenden zwar gestiegen: 175.000 Asylsuchende wurden in Deutschland bis Ende Juli registriert. Darunter befinden sich rund 10% hier geborene Kinder und 10% Asylfolgeantragsteller, die sich längst in Deutschland befinden, nach Deutschland zugezogen sind also nur ca. 140.000 Menschen). Aber gemessen an der Gesamtzuwanderung sind Asylsuchende eine kleine Gruppe: Im Jahr 2022 wurden rund 2.666.000 Zuzüge und 1.204.000 Fortzüge über die Grenzen Deutschlands erfasst. Selbst wenn 2023 insgesamt 400.000 Asylsuchende Schutz in Deutschland suchen sollten, wären das nicht mehr als 15% der Zuwanderungszahl von 2022.
Offenkundig hängt die Frage, ob die (menschenwürdige Ausgestaltung der) Zuwanderung als notwendig und sinnvoll oder als belastend wahrgenommen wird, nicht primär von deren Charaktereigenschaften oder Qualifikationen, sondern a) vom (persönlichen) Nutzen ab, dem man sich aus der Hetze gegen Einwandernde verspricht, b) der aktuellen öffentlich-medialen Stimmung, und c) von Status und Hautfarbe der Menschen, die man nicht hier haben will. Die Zuwanderungsdebatte in Deutschland ist von einem strukturell rassistischen Grundtenor geprägt.
Die Aufnahme von Asylsuchenden ist nicht deshalb schwierig, weil so viele Menschen kommen, sondern sie wird schwierig gemacht, weil die Bedingungen nur teilweise auf Integration angelegt sind. Diese Rahmenbedingungen der Flüchtlingsaufnahme verhindern eine schnelle und nachhaltige Teilhabe der Geflüchteten oder machen sie zumindest schwierig. Wir appellieren daher an die Politik, diese Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Aufnahme der ukrainischen Geflüchteten kann dabei in mancher Hinsicht als gutes Modell dienen.
Vorschläge für eine andere Asylpolitik
Um die bestehenden Herausforderungen bei der Aufnahme von Asylsuchenden zu meistern und den strukturellen Rassismus der deutschen Asyl- und Migrationspolitik zu überwinden, schlagen wir folgende Maßnahmen vor:
1. Verzicht auf Lagerzwang
Die Registrierung Asylsuchender kann, wie wir bei der Aufnahme der Ukraine-Flüchtlinge gesehen haben, dezentral durch die Ausländerbehörden erfolgen. Die Daten können vor Ort von den Ausländerbehörden erhoben und der Landesaufnahmebehörde zugeleitet werden. Mit dem bisherigen rigiden System einer zentralen Aufnahme verzichtet die Politik darauf, die Selbsthilfekräfte der Betroffenen zu nutzen. Eine zentrale Aufnahme braucht es nur für solche Asylsuchenden, die sich nicht selbst helfen können und über keine Angehörigen verfügen, bei denen sie (befristet) wohnen können.
2. Verzicht auf Verteilungszwang
Eine Verteilung von Asylsuchenden auf alle Länder ist sinnvoll, um lokale Überforderungen zu vermeiden. Auch hier wäre es allerdings sinnvoll, zunächst einmal zu klären, wo die Geflüchteten Verwandte und Unterstützer:innen haben, und eine Verteilung nur derjenigen vorzunehmen, die keine Anknüpfungspunkte in Deutschland haben. Es ist absurd, wenn der Enkel einer seit Jahren in Münster lebenden und arbeitenden Frau nicht bei seiner Großmutter wohnen darf, weil er dem Land Niedersachsen zugewiesen wurde.
3. Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes
Die Bundesrepublik koppelt seit 30 Jahren Asylsuchende vom bundesweiten System der Arbeitsmarktintegration ab: Zuständig für sie sind nicht die Jobcenter, sondern die Sozialämter, die nur in Ausnahmefällen (v.a. in den Optionskommunen) eine Arbeitsmarktvermittlung und -integration für ihre Kund:innen betreiben und es überwiegend dabei belassen, (für Asylsuchende gekürzte) Sozialleistungen auszuzahlen. Bis Asylsuchende den Weg zu den Arbeitsagenturen gefunden haben und dort auch vermittelt werden, vergehen in der Regel mindestens zwei Jahre. Die fehlende systematische Begleitung, restriktive Auflagen und behördliche Arbeitsverbote behindern die Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten zusätzlich.
Durch die Abschaffung des erst 1993 eingeführten Asylbewerberleistungsgesetzes und eine Wiedereingliederung aller (erwerbsfähigen) Asylsuchenden in das SGB II könnten Geflüchtete von Beginn an und systematisch gefördert und gefordert werden. Die im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbarte, aber bis heute nicht umgesetzte Streichung diskriminierender Arbeitsverbote und die betroffenenorientierte Ausgestaltung der geplanten „Willkommensbehörden“ täten ein Übriges, dass sich viele Geflüchtete schneller in den deutschen Arbeitsmarkt integrieren könnten.
4. Bleiberechtsberatung statt Verschärfung der Abschiebungsregeln
Das deutsche Aufenthaltsrecht sieht inzwischen eine Vielzahl von Möglichkeiten vor, um Geduldeten, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, einen „Spurwechsel“ aus dem asylabhängigen Aufenthalt in einen Aufenthalt zu Erwerbszwecken zu ermöglichen. Doch die Regeln sind kompliziert und teilweise widersprüchlich ausgestaltet. Statt den Betroffenen dabei zu helfen, einen Aufenthaltsstatus zu erwerben, werden „Duldungen“ über viele Jahre erteilt und prekäre Aufenthalte damit weiter verlängert. Das Damoklesschwert einer Abschiebung schwebt weiterhin über den nur geduldeten Menschen. Oftmals fehlt nur eine Kleinigkeit, um erwerbstätigen Geduldeten eine Aufenthaltsrecht zu Arbeitszwecken zu erteilen und den Aufenthalt zu legalisieren. So kommt es in Deutschland immer wieder zu der absurden Situation, dass erwerbstätige Geduldete abgeschoben werden, obwohl sie in Deutschland eigentlich dringend als Arbeitskräfte gebraucht würden.
Eine systematische Beratung aller Geduldeten mit einem grundsätzlichen Bleiberechtsanspruch, wie der Flüchtlingsrat Niedersachsen sie gemeinsam mit Partnerkommunen modellhaft im Projekt „Wege ins Bleiberecht“ umsetzt, könnte dazu beitragen, den Menschen ein Aufenthaltsrecht zu verschaffen und Abschiebungen zu vermeiden. Dafür braucht es entsprechende, klare Rahmenbedingungen: Geduldete, die erwerbstätig sind, sollten grundsätzlich auch einen Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht haben.
Wünschenswert ist eine noch weiter gehende humanitäre Bleiberechtsregelung, nach der alle Geduldeten bleiben dürfen, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
5. Nachhaltiger Ausbau des sozialen Wohnungsbaus (auch für Geflüchtete)
Allein 2022 ist die Anzahl der Sozialwohnungen um 14.000 gesunken. Der Neubau hält mit dem Wegfall der Zweckbindung nicht Schritt. Und auch hinsichtlich der dezentralen Unterbringung Geflüchteter hat sich nichts verbessert. Maroder Wohnungsbestand und würdelose Großgruppenunterkünfte prägen nach wie vor die Landschaft und sorgen für nicht wenig Konfliktpotential auf allen Seiten. Eine Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus wird zwar seit Jahren propagiert, aber nicht umgesetzt, offenkundig auch, weil die bisherige Politik diesen Bereich nicht mit Priorität bearbeitet.
Mit diesen fünf einfach umzusetzenden Maßnahmen könnte die Aufnahme Geflüchteter konstruktiv gestaltet werden. Dass stattdessen der extremen Rechten nach dem Mund geredet wird, zeigt nur, wie billig das Schwert des Rassismus zu führen ist.
Mit Sorge nehmen wir wahr, wie der bundesrepublikanische Mainstream mehr und mehr in den europäischen Chor der Länder einstimmt, die von rechtsradikalen Parteien geführt oder mitregiert werden. Sie alle verfolgen das Ziel, gesellschaftlichen Belastungen und Herausforderungen u.a. durch Sozialabbau in der Krise und durch Ausgrenzung nach unten aus dem Weg zu gehen und Sündenböcke für bestehende Probleme zu präsentieren. Um so wichtiger wird es für uns deshalb in Zukunft sein, uns mit jenen Teilen der Gesellschaft wieder stärker öffentlich zusammen zu schließen, denen die Würde des Menschen unantastbar bleibt und die im Wissen handeln, dass angesichts von Krieg und Klimakrise ein gemeinsames Handeln nötig ist.
240.000 Menschen haben 2018 an der #unteilbar-Demo in Berlin teilgenommen. An die Stärken der damaligen Bewegung ist anzuknüpfen. Deutschland ist bunt, wir lassen uns nicht spalten und stehen ein für eine Zukunft, die für alle menschenwürdige Perspektiven bereithält.
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