Donnerstag, 12. September 2024
Aggressiver, aber einfacher: Neue ESC-Bluthochdruck-Leitlinie senkt die Zielwerte – und empfiehlt neue Lebensstil-Änderungen
Sue Hughes, Medscape


"London – Vereinfachte, aber aggressivere Zielwerte gehören zu den wichtigsten Veränderungen in der aktualisierten Hypertonie-Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC). Für die meisten Patienten, die eine Blutdrucktherapie erhalten, liegt der neue Zielwert für den systolischen Blutdruck jetzt direkt bei 120 bis 129 mmHg. Den vorherigen zweistufigen Ansatz gibt es nicht mehr.

Das beim ESC-Kongress 2024 in London vorgestellte Leitlinien-Update definiert Hypertonie weiterhin als systolischen Blutdruck von mindestens 140 mmHg und als diastolischen Blutdruck von mindestens 90 mmHg. Aber es gibt eine neue Kategorie – erhöhten Blutdruck [1].

Definiert ist der erhöhte Blutdruck als systolischer Blutdruck von 120 bis 139 mmHg und diastolischer Blutdruck von 70 bis 89 mmHg. Bei diesen Patienten soll eine kardiovaskuläre Risikobeurteilung stattfinden, bevor über eine Therapie entschieden wird – speziell bei Patienten mit einem Blutdruck ≥130/80 mmHg.

Die aktualisierte Leitlinie enthält auch neue Empfehlungen für Lebensstil-Optionen zur Senkung des Blutdrucks, etwa zur körperlichen Aktivität und zur Supplementation mit Kalium. Und zum ersten Mal gibt die ESC-Leitlinie auch Empfehlungen für den Einsatz der renalen Denervation zur Behandlung einer Hypertonie – unter bestimmten Bedingungen.

Die Leitlinie wurde von einem internationalen Autorenteam unter Leitung von Bill McEvoy von der University of Galway in Irland und Dr. Rhian Touyz von der McGill University in Montreal erstellt.

3 Kategorien von Blutdruck
McEvoy berichtete beim Kongress, dass es jetzt 3 Kategorien für die Einteilung des Blutdrucks gebe:

nicht erhöhter Blutdruck: < 120/70 mm Hg,

erhöhter Blutdruck: 120-139 mm Hg/70-89 mm Hg und

Hypertonie: ≥ 140/90 mm Hg.

Der Fokus auf die ambulante Blutdruckmessung sei stärker als in den früheren Versionen der Leitlinie, aber auch in den Praxen werde weiter gemessen, betonte er.

Alle Patienten, die in die Hypertonie-Kategorie fallen, sollen der Leitlinie zufolge behandelt werden, während bei denjenigen mit erhöhtem Blutdruck eine Beurteilung des kardiovaskulären Risikos stattfinden soll, bevor über eine Therapie entschieden wird.

n erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wird bei Patienten mit erhöhtem Blutdruck angenommen, die zusätzlich eine mittelschwere bis schwere chronische Nierenerkrankung (CKD), eine bestehende kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes oder eine familiäre Hypercholesterinämie aufweisen. Dasselbe gilt für Patienten mit einem geschätzten kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von 10% oder höher. Diese Patienten sollen, wenn der Blutdruck bei mindestens 130/80 mmHg liegt, nach einer 3-monatigen Lebensstilintervention medikamentös behandelt werden.

Diese neue Kategorie des erhöhten Blutdrucks berücksichtigt, dass die Leute nicht von normalen Blutdruckwerten über Nacht zur Hypertonie übergehen. Bill McEvoy
„Diese neue Kategorie des erhöhten Blutdrucks berücksichtigt, dass die Leute nicht von normalen Blutdruckwerten über Nacht zur Hypertonie übergehen“, sagte McEvoy. „Es ist in den meisten Fällen ein steter Anstieg, und verschiedene Subgruppen von Patienten – etwa diejenigen mit einem höheren Risiko für die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen – könnten von einer intensiveren Behandlung profitieren, selbst wenn ihr Blutdruck noch nicht den traditionellen Grenzwert für Hypertonie erreicht hat.“

Neuer niedrigerer Zielwert
Die Absenkung der Blutdruck-Zielwerte basiert auf neuen Studiendaten, die bestätigten, dass ein niedrigerer Blutdruck mit einer niedrigeren Rate an kardiovaskulären Ereignissen einhergeht. Das Resultat ist ein neuer systolischer Zielwert von 120-129 mmHg für die meisten Patienten, die mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt werden.

Der systolische Zielwert stelle eine einschneidende Veränderung im Vergleich zur vorherigen ESC-Leitlinie dar, so McEvoy. Diese habe empfohlen, die Patienten bis zu einem Blutdruckwert von unter 140/90 mmHg zu behandeln, und erst wenn das erreicht war, einen Zielwert von 130/80 mmHg anzustreben – ein zweistufiger Ansatz. „Diese Veränderung ist getrieben durch neue Studienevidenz, die zeigt, dass ein intensiveres Blutdruckziel die kardiovaskulären Outcomes über ein breites Spektrum von Patienten reduziert“, so McEvoy.

Die Empfehlung hat aber mehrere Vorbehalte: Die Behandlung bis zum Erreichen des Zielwerts muss zum einen gut vertragen werden. Zum anderen können bei Patienten mit symptomatischer orthostatischer Hypotonie, bei Patienten ≥ 85 Jahren, bei moderat bis schwer gebrechlichen Patienten und bei Patienten mit begrenzter Lebenserwartung weniger strenge Therapieziele angesetzt werden. Für diese Patienten empfiehlt die Leitlinie einen Zielwert, „der so niedrig ist, wie in vernünftiger Weise erreicht werden kann“.

Mehr Übereinstimmungen mit US-Leitlinie
„Die neuen Empfehlungen der ESC stimmen jetzt stärker mit der US-amerikanischen Leitlinie überein“, sagte Dr. Eugene Yang von der University of Washington in Seattle, Vorsitzender der Hypertension Writing Group des American College of Cardiology.

Die neuen Empfehlungen der ESC stimmen jetzt stärker mit der US-amerikanischen Leitlinie überein. Dr. Eugene Yang
„Diese neue europäische Leitlinie hat die jüngsten Studiendaten sorgfältig genutzt, um die Empfehlungen für ein spezifisches niedrigeres Blutdruckziel zu vereinfachen. Als die vorherige ESC-Leitlinie herauskam, gab es nur SPRINT. Jetzt gibt es eine Reihe weiterer Studien, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen“, so Yang. „Das ist ein Schritt nach vorne. Die Empfehlungen in Europa und den USA sind jetzt mehr auf einer Linie. Das ist gut, um Verwirrungen zu reduzieren und einen Konsens zu schaffen, der auf der ganzen Welt gilt.“

Neue Lebensstil-Empfehlungen
Neu ist in der Leitlinie auch die Empfehlung, jede Woche mindestens 75 Minuten Sport von hoher Intensität zu treiben – als Alternative zu den schon zuvor empfohlenen 2,5 Stunden moderat intensiver körperlicher Aktivität pro Woche. Ergänzt werden sollte dies weiterhin mit 2- bis 3-mal dynamischem oder isometrischem Krafttraining von geringer bis moderater Intensität in der Woche.

Empfohlen wird auch, dass Patienten mit Hypertonie ihre Kaliumzufuhr erhöhen, entweder mit Salzersatzprodukten oder einer Ernährung, die reich an Obst und Gemüse ist – allerdings nur, wenn sie keine mittelschwere bis schwere CKD haben.

Erstmals wird renale Denervation empfohlen
Die Leitlinie umfasst erstmals die renale Denervation als Option für die Behandlung der Hypertonie – in Zentren mit moderatem oder hohem Behandlungsvolumen und nur für Patienten mit resistenter Hypertonie, deren Blutdruck auch mit einer Dreifach-Kombination von Blutdrucksenkern nicht unter Kontrolle gebracht werden kann.

Aber die renale Denervation wird nicht als Erstlinientherapie empfohlen, da noch die Evidenz für einen Effekt auf die kardiovaskulären Outcomes fehlt. Auch bei Patienten mit stark beeinträchtigter Nierenfunktion und bei denjenigen mit sekundären Ursachen für die Hypertonie wird von der renalen Denervation abgeraten.

Yang lobte die Aufnahme einer Beurteilung der Gebrechlichkeit in der neuen Leitlinie und weniger aggressive Zielwerte für Patienten in schlechter gesundheitlicher Verfassung oder über 85 Jahren, fügte aber hinzu, dass die neuen Empfehlungen „alles in allem weniger altersspezifisch stratifizieren als zuvor, was eine signifikante Veränderung ist“.

"Meiner Ansicht nach sollten Empfehlungen für die Blutdrucktherapie so einfach wie möglich sein, deshalb denke ich, dass wir daran noch arbeiten müssen". Dr. Eugene Yang

Auch dies sei eine verstärkte Übereinstimmung mit der US-Leitlinie, die keine Altersgrenzen habe und für alle ein Blutdruckziel von 130/80 mmHg vorgebe, mit der Einschränkung, dass bei Patienten in Pflegeheimen das ärztliche Urteilsvermögen gefragt sei, ergänzte er.

Yang ergänzte, er sei nicht besonders angetan davon, dass bei Patienten mit einem systolischen Blutdruck von 130-139 mmHg eine Beurteilung des kardiovaskulären Risikos die Therapieentscheidung steuern soll, aber das finde man so auch in der aktuellen US-Leitlinie.

„Als Kliniker denke ich, dass dies die Dinge zu kompliziert macht und dadurch nur ein Hindernis für die Behandlung ist. Meiner Ansicht nach sollten Empfehlungen für die Blutdrucktherapie so einfach wie möglich sein, deshalb denke ich, dass wir daran noch arbeiten müssen.“

ttps://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914160?ecd=WNL_mdplsfeat_240912_mscpedit_de_etid6822772&uac=389796AZ&impID=6822772

------ Ich finde die Zielwerte ziemlich absurd, zumal damit "normaler" Blutdruck etwas ist, was früher als Hypotonie galt und in meiner Jugend noch mit Ephedrin behandelt wurde und demzufolge wohl die Bevölkerungsmehrheit qua definitionem unter Bluthochdruck leiden dürfte. Ist so ähnlich wie mit den aktuellen Sucht-Definitionen, die so ziemlich jede regelmäßige Einnahme von Genussmitteln inzwischen als Sucht definieren.

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Deutschland im Notstand? Veirrungen und Verwirrungen in der Asyldebatte
https://www.nds-fluerat.org/60340/aktuelles/selektive-ueberforderung/


Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fordern demokratische Parteien die Ausrufung eines übergesetzlichen, „nationalen Notstands“, um sich über eine bestehende Rechtslage und verbindliche Gerichtsurteile hinwegzusetzen. Es sind dramatische Worte, mit denen die Vorsitzenden der CDU/CSU und der FDP einen „nationalen Notstand“ beim Asylrecht beschwören: Die hohe Zahl der Menschen, die derzeit nach Deutschland gelangt, überfordere unser Gemeinwesen. Der Anteil der Kinder ohne deutsche Muttersprache sei „so hoch, dass der Bildungserfolg ganzer Schulklassen gefährdet ist“, so Friedrich Merz (Newsletter vom 31.08.2024). “ „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland“, assistiert Christian Lindner (Tagesschau vom 05.09.2024). Auch Markus Söder beklagt: „Wir sind mit den Folgen und der Integration überfordert – und zwar nicht nur, was Kitas betrifft und Schulen und Wohnungen. Sondern wir sind auch zum Teil kulturell überfordert. (…) Und die Wahrheit ist einfach: Es ist uns über den Kopf gewachsen.“ (Tagesschau vom 08.09.2024)

Die Beschreibungen geben Anlass, sich diese „Überforderung“ einmal näher anzusehen: Vernachlässigen wir an dieser Stelle den strukturellen Rassismus eines Söder, der mit der Feststellung einer „kulturellen Überforderung“ noch ein qualitatives „Argument“ in die Diskussion bringt, und widmen uns allein den Zahlen: Wie stellt sich das Migrationsgeschehen in Deutschland in den vergangenen Jahren und aktuell dar? Ein Blick auf die Wanderungsbewegungen aus und nach Deutschland macht klar, dass Deutschland ganz offensichtlich in starkem Maße von Migration geprägt und abhängig ist:

Im Jahr 2023 sind 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen. Die Anzahl der Auswander*innen aus Deutschland betrug im selben Jahr rund 1,3 Millionen. Der Wanderungssaldo, also der Saldo zwischen Zuzügen und Fortzügen, betrug demnach plus 600.000. Die Nettozuwanderung lag damit um 55 % niedriger als im Jahr 2022, als eine Rekordzahl von 2,67 Mio Menschen nach Deutschland zuwanderten. Dieser hohe Wert ist im Wesentlichen auf die Aufnahme von 1,1 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine zurückzuführen. 1,2 Millionen Menschen verließen die Bundesrepublik. Im Saldo lässt sich für das Jahr 2022 eine Zzuwanderung von 1,46 Mio Menschen feststellen. 2021 wurden 1.32 Mio Zuzüge und 990.000 Fortzüge erfasst. Die Nettomigration lag bei rund 330.000 Personen. Im Jahr 2020 wurden insgesamt 1.19 Mio Zuzüge und 970.000 Fortzüge erfasst. Resultat dieser Entwicklungen ist ein Wanderungssaldo von +220.000 Personen, ein deutlich geringerer Wert als im Jahr 2019 (+330.000 Personen).

Gemessen an diesen Zahlen erscheint die Zahl der erfassten Asylsuchenden pro Jahr vergleichsweise klein: Bis zur Jahresmitte 2024 wurden gerade mal 120.000 Asylerstanträge registriert.

Im Jahr 2023 entfielen mit 329.000 Asylerstanträgen rund 17% aller Zuwanderungen auf Asyl. Im Jahr 2022 wurden 218.000 Asylerstanträge gestellt. Gemessen an der Gesamtzuwanderung des Jahres 2022 waren das gerade mal 8 %. Auch in den Vorjahren bewegte sich der Anteil der Asylsuchenden an der Gesamtzuwanderung in dieser Größenordnung (2019: 9%; 2020: 8%; 2021: 16%). Selbst 2015 und 2016, als die Bundesrepublik Rekordzahlen für Asylsuchende verzeichnete, machten Geflüchtete unter den Zugewanderten weniger als ein Viertel aus (2015: 23%; 2016: 17%, siehe Fachkräftemonitor 2023, S. 23).

Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Zwischen 77% und 92% aller Zugewanderten haben in den vergangenen zehn Jahren keinen Asylantrag gestellt. Wenn wir die Sondersituation des Jahres 2022 außer acht lassen, als ukrainische Schutzsuchende mit über einer Million Menschen die größte Zuwanderungsgruppe darstellten, fällt die überwiegende Zuwanderung auf Menschen aus EU-Staaten: Die EU-Binnenmigration liegt traditionell zwischen 30% und 50% aller Zuwanderungen. 2022 war ein Ausnahmejahr, da betrug der Anteil der EU-Zuwanderungen mit über 600.000 Menschen „nur“ 20% – die Zahl ist aber immer noch knapp dreimal höher als die Zahl der Asylsuchenden im gleichen Jahr. 217.000 Menschen kamen allein aus Rumänien nach Deutschland – das waren fast ebenso viele, wie aus allen Ländern der Welt über Asyl nach Deutschland kamen. 100.000 wanderten aus Polen ein, 77.000 aus Bulgarien. 180.000 zogen als „deutsche Staatsangehörige“ nach Deutschland. 90.000 kamen im Rahmen des Familiennachzugs, 70.000 zu Erwerbszwecken, 60.000 im Rahmen eines Bildungsangebotes.
Für 2023 liegen noch nicht alle Zahlen vor, aber erneut ist die Gruppe der EU_Bürger*innen mit rund 466.500 Menschen die größte Zuwanderungsgruppe. Die meisten EU-Einwanderer*innen kamen 2023 aus Rumänien (rund 152.300), Polen (79.000) und Bulgarien (51.700). Aus der Ukraine kamen 2023 insgesamt 276 000 Personen.

Fazit:
Für Deutschland lässt sich ein bemerkenswert hohes und über die Jahre tendenziell ansteigendes Migrationsgeschehen feststellen. Angesichts der hohen Zuwanderungszahlen vergrößern sich die bereits seit Jahren aufgelaufenen Probleme im Wohnungs- und Bildungsbereich. Die Aufnahme von Schutzsuchenden über das Asylrecht macht in dem Gesamtgeschehen allerdings nur einen kleinen Teil aus. Für die langfristigen Versäumnisse im Bildungsbereich und beim sozialen Wohnungsbau sind Asylsuchende weder verantwortlich, noch lassen sich die Probleme auf ihrem Rücken lösen. Dennoch wird eine „Lösung“ allein beim Thema Asyl verortet.

Die vor allem von der CDU/CSU, aber auch von der FDP vorgenommene Zuspitzung der Diskussion auf Fragen der Asylgewährung ist sachlich unbegründet: Auch andere Zuwanderungsgruppen benötigen Wohnraum, Schul- und Kindergartenplätze. Die Ausrufung eines „nationalen Notstands“ aufgrund des aktuellen Asylgeschehens ist offenkundig nicht gerechtfertigt und drückt eher den Unwillen als das Unvermögen der beteiligten Politiker*innen aus, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu sorgen. Nicht die Kontrolle über das Asylgeschehen ist verloren gegangen, sondern die Debatte darüber ist völlig außer Kontrolle, weil besonnene und mäßigende Stimmen fehlen. Leider setzen auch die Parteispitzen von SPD und Grünen dem Notstandsgerede bislang nichts Substanzielles entgegen und suchen den Schulterschluss mit der Opposition. Von dieser Entwicklung profitiert vor allem die AFD, die nicht zu Unrecht für sich reklamiert, die Tonlage vorgegeben zu haben. Dass man auch anders und pragmatisch die mit der Aufnahme von Menschen aus dem Ausland verbundenen Herausforderungen meistern kann, hat die deutsche Politik 2022 bewiesen, als die den Betroffenen alle Möglichkeiten eröffnete, sich selbst zu helfen und bei Freund*innen und Bekannten unterzukommen (siehe dazu ausführlich unseren Kommentar vom 18.09.2023: Kritische Anmerkungen zur aktuellen Asyldiskussion).

Das Asylrecht steht als subjektives Recht in unserer Verfassung und ist völkerrechtlich geschützt, weil sich nach den Erfahrungen von Krieg und Faschismus nie wieder die Situation wiederholen sollte, dass Schutzsuchende an Grenzen abgewiesen und in Verfolgerstaaten zurückgezwungen werden. Insofern verbieten sich Zahlenspiele, die Flüchtlingsaufnahme ist nicht auf eine willkürlich gewählte Zahl kontingentierbar. Dennoch lohnt sich in der Debatte auch ein Blick auf die gesamtgesellschaftliche Lage: Deutschland benötigt nach Aussagen des DIW-Chefs Fratzscher jährlich rund eine halbe Million zusätzliche Arbeitskräfte, um den Arbeitskräftebedarf der Bundesrepublik Deutschlands für die Zukunft zu decken. Diese Arbeitskräfte haben Partner*innen, Kinder und Familienangehörige, insofern wird es nicht bei einer halben Million bleiben. Es wäre mehr als zynisch und wird auch nicht funktionieren, Schutzsuchende unter Beschwörung eines „Nationalen Notstands“ an den Grenzen abzuweisen und dann den Fachkräften eine „Willkommenskultur“ vorzugaukeln. Und es ist mehr als logisch, zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs auch Geflüchtete einzubeziehen, deren Integration in den Arbeitsmarkt seit 2015 ganz gut geklappt hat: Von den 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten hatten knapp zwei Drittel sieben Jahre später eine Arbeit. 90 Prozent dieser Beschäftigten sind sozialversicherungspflichtig angestellt, rund drei Viertel in einer Vollzeitstelle. Um den Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu decken, braucht es ein Werben um Arbeitskräfte u n d verstärkte Anstrengungen für eine Arbeitsmarktintegration auch derjenigen, die als Geflüchtete unter uns leben.

Ein pragmatischer Umgang mit den Herausforderungen erfordert zunächst einmal verbale Abrüstung und einen nüchternen Blick auf die Faktenlage. Die verbale Ausgrenzung und Kriminalisierung beginnt schon mit der Begrifflichkeit, mit der wir über Geflüchtete sprechen: Asylsuchende sind keine „irreguläre Migrant*innen“, sondern Menschen in Not, die ein verbrieftes Grundrecht in Anspruch nehmen, für das es ein geordnetes Verfahren gibt. Zu einer rationalen Betrachtung gehört die Erkenntnis, dass die Gefahr eines Terroranschlags durch Islamisten unabhängig von der Asylthematik besteht: In Großbritannien, Frankreich oder Belgien ist es trotz geringer Asylzahlen zu mehr Anschlägen gekommen als in Deutschland. Es ist nicht auszuschließen, dass islamistische Terroristen das Asylrecht missbrauchen, aber die übergroße Mehrzahl der Geflüchteten sucht Schutz vor islamistischer Gewalt und autoritärer Verfolgung. Es wäre widersinnig und fragwürdig, den Opfern von islamistischen Terrorregimen den Schutz zu verweigern und zur Organisation von Abschiebungen mit den Vertretungen dieser Regime zusammenzuarbeiten. Gegen Autoritarismus und Terrorismus braucht es einen starken Staat, der die Verfassung, die demokratischen Werte und die Menschenrechte verteidigt und mit den Opfern von Verfolgung Solidarität und Empathie zeigt.

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Kai Weber Geschäftsführer
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.,

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