Mittwoch, 5. Januar 2022
Oliver Tolmein: "Die DIVI liegt falsch!" Welche Kriterien Behinderte bei einer Triage gefährden. Ärzte sollten nicht allein entscheiden
che2001, 17:50h
Interview, das Christian Beneker für Medscape mit meinem alten Genossen Oliver Tolmein geführt hat
Christian Beneker
Prof. Dr. Oliver Tolmein, Mitbegründer der Kanzlei ?Menschen und Rechte? in Hamburg, ist Spezialist für Fragen der Inklusion und des Krankenversicherungsrechts. Er unterstützt Mandantinnen und Mandanten, die sich gegen Diskriminierung wehren wollen. Mit ihm sprach Medscape anlässlich der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur potentiellen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei möglichen Triage-Entscheidungen bei Corona-Patienten.
In dem Beschluss vom 16. Dezember hatte das Bundeverfassungsgericht entschieden ( Medscape berichtete ), dass der Gesetzgeber im Fall einer Triage Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen treffen muss. Solche Vorkehrungen seien bisher nicht getroffen worden und er sei ?gehalten, dieser Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen.?
Medscape : Herr Professor Tolmein, wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?
Prof. Dr. Oliver Tolmein
Tolmein: Die Entscheidung ist für uns ein großer Erfolg. Aber eine gute Umsetzung wird nicht einfach.
Medscape : Warum nicht?
Tolmein: Ein Punkt an dem Schwierigkeiten vorgezeichnet sind, ist die Frage nach der möglichen Bedeutung der ?klinischen Erfolgsaussicht?. Für die DIVI ist das das zentrale Kriterium bei einer Triage. Wir halten es für ein bedenkliches utilitaristisches Kriterium. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem Beschluss, das ?Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung? sei für sich genommen verfassungsrechtlich unbedenklich. Das versteht die DIVI anders als wir.
Medscape : Die DIVI hat gefordert, dass keine Richter am Krankenbett sitzen sollen, sondern Ärztinnen und Ärzte. Dass also die Medizin und die Mediziner entscheiden. Was sollte daran problematisch sein?
?Die DIVI liegt falsch!?
Tolmein: Die DIVI fühlt sich durch diese Formulierung mit Blick auf den von ihr favorisierten medizinischen Kriterienkatalog bei einer Triage bestärkt. Damit liegt sie aus meiner Sicht falsch. Denn das Bundesverfassungsgericht hat sehr klar gemacht, dass Erfolgsaussichten ?im Sinne des Überlebens der aktuellen? Krankheit ein Unterscheidungsmerkmal sein können. Es hat auch deutlich gesagt, dass die von der DIVI als Indikatoren gesehenen Kriterien Komorbidität und Fragilität dazu führen können, dass Menschen mit Behinderungen bei einer Triage strukturell benachteiligt werden.
Medscape : Welche Kriterien wären denn fair?
Tolmein: Ich möchte im Augenblick keinen alternativen Kriterienkatalog aufstellen. Klar ist nur: Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht lässt eine Benachteiligung befürchten. Es ist darüber hinaus auch kein besonders taugliches Kriterium ? wie sollen die Berechnungen bei verschiedenen Kriterien entscheidungsrelevant laufen? Und wie hoch muss die Erfolgsaussicht sein, um behandelt zu werden?
Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht lässt eine Benachteiligung befürchten. Prof. Dr. Oliver Tolmein
Muss es eine 80-prozentige Erfolgsaussicht sein oder reichen 20%? Existieren eigentlich die Daten, um hier zuverlässige Prognosen zu treffen? Wie viele Studien oder Fallbeschreibungen über die Behandlung von Menschen mit zum Beispiel spinaler Muskelatrophie oder Glasknochenkrankheit gibt es, die zuverlässige Daten als Grundlage für so eine weit reichende Entscheidung generiert haben?
Ich halte es für eine große Gefahr, dass Kliniker hier letzten Endes Zufallsentscheidung treffen, die durch Scores wissenschaftlich verbrämt werden. Schließlich müssen die Patienten nicht nur gute Erfolgsaussichten haben, sondern diese müssen auch als solche erkannt werden. Ich werfe dabei den Ärztinnen und Ärzte gar nichts vor. Aber es kann ja durchaus sein, dass sie sich irren oder eine falsche Perspektive einnehmen.
Medscape : Also wollen Sie letztlich doch lieber die Juristen ans Krankenbett setzen!
?Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum!?
Tolmein: Ich bin als Jurist schon von Behandlungsteams und Angehörigen gebeten worden ans Krankenbett zu kommen, um bei Entscheidungen zu helfen. Ich sage ja als Jurist nicht: Werft die Ärzte hinaus aus der Intensivstation! Aber Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum! Und die Ärztinnen und Ärzte arbeiten in einem öffentlich mit viel Geld finanziertem Sektor, sie sind Dienstleister. Sie können nicht einfach sagen: ?Hier ist nur richtig, was ich entscheide.? Im Gericht sitzen übrigens in der Regel auch Schöffen als Laienrichter.
Medscape : Inwieweit werden Menschen mit Behinderungen allgemein im Gesundheitssystem diskriminiert?
Aber Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum! ? Ärzte können nicht einfach sagen: Hier ist nur richtig, was ich entscheide. Prof. Dr. Oliver Tolmein
Tolmein: Patientinnen und Patienten mit Behinderungen haben im Krankenhaus und der Arztpraxis oft Probleme. Es ist in Krankenhäusern längst nicht die Regel, dass für gehörlose Menschen stets Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung stehen. Und wer beherrscht im Krankenhaus die einfache Sprache für Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Wer nimmt sich die Zeit, ihnen alles Wesentliche zu erklären?
Vor Jahren musste darum prozessiert werden, ob ein Orthopäde einen Menschen mit Blindenführhund durch seine Praxis gehen lassen kann. Der Orthopäde hatte es dem Behinderten verwehrt. Der Arzt hatte nicht verstanden, dass der Hund eine Unterstützung und keine Störung ist. Der Arzt wollte nicht diskriminieren, hat es aber getan.
Das Gesundheitssystem ist nicht barrierefrei und schlecht zugänglich, es ist auch nicht diskriminierungsfrei.
Medscape : Was können Ärztinnen und Ärzte für die Behinderten in die Kliniken und Praxen tun?
Tolmein: Es wäre gut, wenn sie sich stärker klar machten, dass Menschen mit Behinderungen Menschen mit umfassenden Teilhaberechten sind und nicht in erster Linie Menschen mit medizinischen Defekten. Manche Rollstuhlfahrerin ist gesünder und fitter als ein Fußgänger. In Kliniken gilt es zum Beispiel, Behindertenverbände einzubeziehen und mit ihnen nach einem Weg zu suchen, zum Beispiel diskriminierungsfrei Anamnesen zu erstellen. Oder zu klären: Wie sollte und könnte man mit Behinderten im Krankenhaus kommunizieren?
?Ich kann verstehen, dass die Alten bitter reagieren.?
Medscape : Jetzt haben sich auch die Seniorenverbände zu Wort gemeldet und fordern diskriminierungsfreie medizinische Behandlung.
Tolmein: Alte Menschen haben ein Recht auf Gleichbehandlung aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz. Das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen reicht weiter. Allerdings haben auch viele alte Menschen Behinderungen ? zumindest im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich kann versehen, dass die Alten bitter reagieren.
Medscape : Was muss der Gesetzgeber jetzt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts tun?
Tolmein: Er muss eine ?geeignete Vorkehrung? treffen, also vermutlich ein Gesetz entwerfen. Er sollte dafür Menschen mit Behinderungen frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess mit einbinden. Menschen mit Behinderungen haben diese wichtige und klärende Verfassungsbeschwerde schließlich auf den Weg gebracht. Sie sind Experten in dieser Frage.
Die UN-Behindertenkonvention verlangt auch, die Behinderten aktiv an allen sie gesellschaftlich betreffenden Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Dass auch die Triage dazu gehört, ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts völlig klar.
Christian Beneker
Prof. Dr. Oliver Tolmein, Mitbegründer der Kanzlei ?Menschen und Rechte? in Hamburg, ist Spezialist für Fragen der Inklusion und des Krankenversicherungsrechts. Er unterstützt Mandantinnen und Mandanten, die sich gegen Diskriminierung wehren wollen. Mit ihm sprach Medscape anlässlich der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur potentiellen Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei möglichen Triage-Entscheidungen bei Corona-Patienten.
In dem Beschluss vom 16. Dezember hatte das Bundeverfassungsgericht entschieden ( Medscape berichtete ), dass der Gesetzgeber im Fall einer Triage Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen treffen muss. Solche Vorkehrungen seien bisher nicht getroffen worden und er sei ?gehalten, dieser Handlungspflicht unverzüglich durch geeignete Vorkehrungen nachzukommen.?
Medscape : Herr Professor Tolmein, wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?
Prof. Dr. Oliver Tolmein
Tolmein: Die Entscheidung ist für uns ein großer Erfolg. Aber eine gute Umsetzung wird nicht einfach.
Medscape : Warum nicht?
Tolmein: Ein Punkt an dem Schwierigkeiten vorgezeichnet sind, ist die Frage nach der möglichen Bedeutung der ?klinischen Erfolgsaussicht?. Für die DIVI ist das das zentrale Kriterium bei einer Triage. Wir halten es für ein bedenkliches utilitaristisches Kriterium. Das Bundesverfassungsgericht sagt in seinem Beschluss, das ?Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des Überlebens der aktuellen Erkrankung? sei für sich genommen verfassungsrechtlich unbedenklich. Das versteht die DIVI anders als wir.
Medscape : Die DIVI hat gefordert, dass keine Richter am Krankenbett sitzen sollen, sondern Ärztinnen und Ärzte. Dass also die Medizin und die Mediziner entscheiden. Was sollte daran problematisch sein?
?Die DIVI liegt falsch!?
Tolmein: Die DIVI fühlt sich durch diese Formulierung mit Blick auf den von ihr favorisierten medizinischen Kriterienkatalog bei einer Triage bestärkt. Damit liegt sie aus meiner Sicht falsch. Denn das Bundesverfassungsgericht hat sehr klar gemacht, dass Erfolgsaussichten ?im Sinne des Überlebens der aktuellen? Krankheit ein Unterscheidungsmerkmal sein können. Es hat auch deutlich gesagt, dass die von der DIVI als Indikatoren gesehenen Kriterien Komorbidität und Fragilität dazu führen können, dass Menschen mit Behinderungen bei einer Triage strukturell benachteiligt werden.
Medscape : Welche Kriterien wären denn fair?
Tolmein: Ich möchte im Augenblick keinen alternativen Kriterienkatalog aufstellen. Klar ist nur: Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht lässt eine Benachteiligung befürchten. Es ist darüber hinaus auch kein besonders taugliches Kriterium ? wie sollen die Berechnungen bei verschiedenen Kriterien entscheidungsrelevant laufen? Und wie hoch muss die Erfolgsaussicht sein, um behandelt zu werden?
Menschen mit Behinderungen dürfen nicht benachteiligt werden. Und das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht lässt eine Benachteiligung befürchten. Prof. Dr. Oliver Tolmein
Muss es eine 80-prozentige Erfolgsaussicht sein oder reichen 20%? Existieren eigentlich die Daten, um hier zuverlässige Prognosen zu treffen? Wie viele Studien oder Fallbeschreibungen über die Behandlung von Menschen mit zum Beispiel spinaler Muskelatrophie oder Glasknochenkrankheit gibt es, die zuverlässige Daten als Grundlage für so eine weit reichende Entscheidung generiert haben?
Ich halte es für eine große Gefahr, dass Kliniker hier letzten Endes Zufallsentscheidung treffen, die durch Scores wissenschaftlich verbrämt werden. Schließlich müssen die Patienten nicht nur gute Erfolgsaussichten haben, sondern diese müssen auch als solche erkannt werden. Ich werfe dabei den Ärztinnen und Ärzte gar nichts vor. Aber es kann ja durchaus sein, dass sie sich irren oder eine falsche Perspektive einnehmen.
Medscape : Also wollen Sie letztlich doch lieber die Juristen ans Krankenbett setzen!
?Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum!?
Tolmein: Ich bin als Jurist schon von Behandlungsteams und Angehörigen gebeten worden ans Krankenbett zu kommen, um bei Entscheidungen zu helfen. Ich sage ja als Jurist nicht: Werft die Ärzte hinaus aus der Intensivstation! Aber Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum! Und die Ärztinnen und Ärzte arbeiten in einem öffentlich mit viel Geld finanziertem Sektor, sie sind Dienstleister. Sie können nicht einfach sagen: ?Hier ist nur richtig, was ich entscheide.? Im Gericht sitzen übrigens in der Regel auch Schöffen als Laienrichter.
Medscape : Inwieweit werden Menschen mit Behinderungen allgemein im Gesundheitssystem diskriminiert?
Aber Intensivstationen sind kein rechtsfreier Raum! ? Ärzte können nicht einfach sagen: Hier ist nur richtig, was ich entscheide. Prof. Dr. Oliver Tolmein
Tolmein: Patientinnen und Patienten mit Behinderungen haben im Krankenhaus und der Arztpraxis oft Probleme. Es ist in Krankenhäusern längst nicht die Regel, dass für gehörlose Menschen stets Gebärdensprachdolmetscher zur Verfügung stehen. Und wer beherrscht im Krankenhaus die einfache Sprache für Menschen mit kognitiven Einschränkungen? Wer nimmt sich die Zeit, ihnen alles Wesentliche zu erklären?
Vor Jahren musste darum prozessiert werden, ob ein Orthopäde einen Menschen mit Blindenführhund durch seine Praxis gehen lassen kann. Der Orthopäde hatte es dem Behinderten verwehrt. Der Arzt hatte nicht verstanden, dass der Hund eine Unterstützung und keine Störung ist. Der Arzt wollte nicht diskriminieren, hat es aber getan.
Das Gesundheitssystem ist nicht barrierefrei und schlecht zugänglich, es ist auch nicht diskriminierungsfrei.
Medscape : Was können Ärztinnen und Ärzte für die Behinderten in die Kliniken und Praxen tun?
Tolmein: Es wäre gut, wenn sie sich stärker klar machten, dass Menschen mit Behinderungen Menschen mit umfassenden Teilhaberechten sind und nicht in erster Linie Menschen mit medizinischen Defekten. Manche Rollstuhlfahrerin ist gesünder und fitter als ein Fußgänger. In Kliniken gilt es zum Beispiel, Behindertenverbände einzubeziehen und mit ihnen nach einem Weg zu suchen, zum Beispiel diskriminierungsfrei Anamnesen zu erstellen. Oder zu klären: Wie sollte und könnte man mit Behinderten im Krankenhaus kommunizieren?
?Ich kann verstehen, dass die Alten bitter reagieren.?
Medscape : Jetzt haben sich auch die Seniorenverbände zu Wort gemeldet und fordern diskriminierungsfreie medizinische Behandlung.
Tolmein: Alte Menschen haben ein Recht auf Gleichbehandlung aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz. Das Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen reicht weiter. Allerdings haben auch viele alte Menschen Behinderungen ? zumindest im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich kann versehen, dass die Alten bitter reagieren.
Medscape : Was muss der Gesetzgeber jetzt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts tun?
Tolmein: Er muss eine ?geeignete Vorkehrung? treffen, also vermutlich ein Gesetz entwerfen. Er sollte dafür Menschen mit Behinderungen frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess mit einbinden. Menschen mit Behinderungen haben diese wichtige und klärende Verfassungsbeschwerde schließlich auf den Weg gebracht. Sie sind Experten in dieser Frage.
Die UN-Behindertenkonvention verlangt auch, die Behinderten aktiv an allen sie gesellschaftlich betreffenden Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Dass auch die Triage dazu gehört, ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts völlig klar.
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