Donnerstag, 12. September 2024
Deutschland im Notstand? Veirrungen und Verwirrungen in der Asyldebatte
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Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fordern demokratische Parteien die Ausrufung eines übergesetzlichen, „nationalen Notstands“, um sich über eine bestehende Rechtslage und verbindliche Gerichtsurteile hinwegzusetzen. Es sind dramatische Worte, mit denen die Vorsitzenden der CDU/CSU und der FDP einen „nationalen Notstand“ beim Asylrecht beschwören: Die hohe Zahl der Menschen, die derzeit nach Deutschland gelangt, überfordere unser Gemeinwesen. Der Anteil der Kinder ohne deutsche Muttersprache sei „so hoch, dass der Bildungserfolg ganzer Schulklassen gefährdet ist“, so Friedrich Merz (Newsletter vom 31.08.2024). “ „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland“, assistiert Christian Lindner (Tagesschau vom 05.09.2024). Auch Markus Söder beklagt: „Wir sind mit den Folgen und der Integration überfordert – und zwar nicht nur, was Kitas betrifft und Schulen und Wohnungen. Sondern wir sind auch zum Teil kulturell überfordert. (…) Und die Wahrheit ist einfach: Es ist uns über den Kopf gewachsen.“ (Tagesschau vom 08.09.2024)

Die Beschreibungen geben Anlass, sich diese „Überforderung“ einmal näher anzusehen: Vernachlässigen wir an dieser Stelle den strukturellen Rassismus eines Söder, der mit der Feststellung einer „kulturellen Überforderung“ noch ein qualitatives „Argument“ in die Diskussion bringt, und widmen uns allein den Zahlen: Wie stellt sich das Migrationsgeschehen in Deutschland in den vergangenen Jahren und aktuell dar? Ein Blick auf die Wanderungsbewegungen aus und nach Deutschland macht klar, dass Deutschland ganz offensichtlich in starkem Maße von Migration geprägt und abhängig ist:

Im Jahr 2023 sind 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen. Die Anzahl der Auswander*innen aus Deutschland betrug im selben Jahr rund 1,3 Millionen. Der Wanderungssaldo, also der Saldo zwischen Zuzügen und Fortzügen, betrug demnach plus 600.000. Die Nettozuwanderung lag damit um 55 % niedriger als im Jahr 2022, als eine Rekordzahl von 2,67 Mio Menschen nach Deutschland zuwanderten. Dieser hohe Wert ist im Wesentlichen auf die Aufnahme von 1,1 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine zurückzuführen. 1,2 Millionen Menschen verließen die Bundesrepublik. Im Saldo lässt sich für das Jahr 2022 eine Zzuwanderung von 1,46 Mio Menschen feststellen. 2021 wurden 1.32 Mio Zuzüge und 990.000 Fortzüge erfasst. Die Nettomigration lag bei rund 330.000 Personen. Im Jahr 2020 wurden insgesamt 1.19 Mio Zuzüge und 970.000 Fortzüge erfasst. Resultat dieser Entwicklungen ist ein Wanderungssaldo von +220.000 Personen, ein deutlich geringerer Wert als im Jahr 2019 (+330.000 Personen).

Gemessen an diesen Zahlen erscheint die Zahl der erfassten Asylsuchenden pro Jahr vergleichsweise klein: Bis zur Jahresmitte 2024 wurden gerade mal 120.000 Asylerstanträge registriert.

Im Jahr 2023 entfielen mit 329.000 Asylerstanträgen rund 17% aller Zuwanderungen auf Asyl. Im Jahr 2022 wurden 218.000 Asylerstanträge gestellt. Gemessen an der Gesamtzuwanderung des Jahres 2022 waren das gerade mal 8 %. Auch in den Vorjahren bewegte sich der Anteil der Asylsuchenden an der Gesamtzuwanderung in dieser Größenordnung (2019: 9%; 2020: 8%; 2021: 16%). Selbst 2015 und 2016, als die Bundesrepublik Rekordzahlen für Asylsuchende verzeichnete, machten Geflüchtete unter den Zugewanderten weniger als ein Viertel aus (2015: 23%; 2016: 17%, siehe Fachkräftemonitor 2023, S. 23).

Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Zwischen 77% und 92% aller Zugewanderten haben in den vergangenen zehn Jahren keinen Asylantrag gestellt. Wenn wir die Sondersituation des Jahres 2022 außer acht lassen, als ukrainische Schutzsuchende mit über einer Million Menschen die größte Zuwanderungsgruppe darstellten, fällt die überwiegende Zuwanderung auf Menschen aus EU-Staaten: Die EU-Binnenmigration liegt traditionell zwischen 30% und 50% aller Zuwanderungen. 2022 war ein Ausnahmejahr, da betrug der Anteil der EU-Zuwanderungen mit über 600.000 Menschen „nur“ 20% – die Zahl ist aber immer noch knapp dreimal höher als die Zahl der Asylsuchenden im gleichen Jahr. 217.000 Menschen kamen allein aus Rumänien nach Deutschland – das waren fast ebenso viele, wie aus allen Ländern der Welt über Asyl nach Deutschland kamen. 100.000 wanderten aus Polen ein, 77.000 aus Bulgarien. 180.000 zogen als „deutsche Staatsangehörige“ nach Deutschland. 90.000 kamen im Rahmen des Familiennachzugs, 70.000 zu Erwerbszwecken, 60.000 im Rahmen eines Bildungsangebotes.
Für 2023 liegen noch nicht alle Zahlen vor, aber erneut ist die Gruppe der EU_Bürger*innen mit rund 466.500 Menschen die größte Zuwanderungsgruppe. Die meisten EU-Einwanderer*innen kamen 2023 aus Rumänien (rund 152.300), Polen (79.000) und Bulgarien (51.700). Aus der Ukraine kamen 2023 insgesamt 276 000 Personen.

Fazit:
Für Deutschland lässt sich ein bemerkenswert hohes und über die Jahre tendenziell ansteigendes Migrationsgeschehen feststellen. Angesichts der hohen Zuwanderungszahlen vergrößern sich die bereits seit Jahren aufgelaufenen Probleme im Wohnungs- und Bildungsbereich. Die Aufnahme von Schutzsuchenden über das Asylrecht macht in dem Gesamtgeschehen allerdings nur einen kleinen Teil aus. Für die langfristigen Versäumnisse im Bildungsbereich und beim sozialen Wohnungsbau sind Asylsuchende weder verantwortlich, noch lassen sich die Probleme auf ihrem Rücken lösen. Dennoch wird eine „Lösung“ allein beim Thema Asyl verortet.

Die vor allem von der CDU/CSU, aber auch von der FDP vorgenommene Zuspitzung der Diskussion auf Fragen der Asylgewährung ist sachlich unbegründet: Auch andere Zuwanderungsgruppen benötigen Wohnraum, Schul- und Kindergartenplätze. Die Ausrufung eines „nationalen Notstands“ aufgrund des aktuellen Asylgeschehens ist offenkundig nicht gerechtfertigt und drückt eher den Unwillen als das Unvermögen der beteiligten Politiker*innen aus, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu sorgen. Nicht die Kontrolle über das Asylgeschehen ist verloren gegangen, sondern die Debatte darüber ist völlig außer Kontrolle, weil besonnene und mäßigende Stimmen fehlen. Leider setzen auch die Parteispitzen von SPD und Grünen dem Notstandsgerede bislang nichts Substanzielles entgegen und suchen den Schulterschluss mit der Opposition. Von dieser Entwicklung profitiert vor allem die AFD, die nicht zu Unrecht für sich reklamiert, die Tonlage vorgegeben zu haben. Dass man auch anders und pragmatisch die mit der Aufnahme von Menschen aus dem Ausland verbundenen Herausforderungen meistern kann, hat die deutsche Politik 2022 bewiesen, als die den Betroffenen alle Möglichkeiten eröffnete, sich selbst zu helfen und bei Freund*innen und Bekannten unterzukommen (siehe dazu ausführlich unseren Kommentar vom 18.09.2023: Kritische Anmerkungen zur aktuellen Asyldiskussion).

Das Asylrecht steht als subjektives Recht in unserer Verfassung und ist völkerrechtlich geschützt, weil sich nach den Erfahrungen von Krieg und Faschismus nie wieder die Situation wiederholen sollte, dass Schutzsuchende an Grenzen abgewiesen und in Verfolgerstaaten zurückgezwungen werden. Insofern verbieten sich Zahlenspiele, die Flüchtlingsaufnahme ist nicht auf eine willkürlich gewählte Zahl kontingentierbar. Dennoch lohnt sich in der Debatte auch ein Blick auf die gesamtgesellschaftliche Lage: Deutschland benötigt nach Aussagen des DIW-Chefs Fratzscher jährlich rund eine halbe Million zusätzliche Arbeitskräfte, um den Arbeitskräftebedarf der Bundesrepublik Deutschlands für die Zukunft zu decken. Diese Arbeitskräfte haben Partner*innen, Kinder und Familienangehörige, insofern wird es nicht bei einer halben Million bleiben. Es wäre mehr als zynisch und wird auch nicht funktionieren, Schutzsuchende unter Beschwörung eines „Nationalen Notstands“ an den Grenzen abzuweisen und dann den Fachkräften eine „Willkommenskultur“ vorzugaukeln. Und es ist mehr als logisch, zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs auch Geflüchtete einzubeziehen, deren Integration in den Arbeitsmarkt seit 2015 ganz gut geklappt hat: Von den 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten hatten knapp zwei Drittel sieben Jahre später eine Arbeit. 90 Prozent dieser Beschäftigten sind sozialversicherungspflichtig angestellt, rund drei Viertel in einer Vollzeitstelle. Um den Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu decken, braucht es ein Werben um Arbeitskräfte u n d verstärkte Anstrengungen für eine Arbeitsmarktintegration auch derjenigen, die als Geflüchtete unter uns leben.

Ein pragmatischer Umgang mit den Herausforderungen erfordert zunächst einmal verbale Abrüstung und einen nüchternen Blick auf die Faktenlage. Die verbale Ausgrenzung und Kriminalisierung beginnt schon mit der Begrifflichkeit, mit der wir über Geflüchtete sprechen: Asylsuchende sind keine „irreguläre Migrant*innen“, sondern Menschen in Not, die ein verbrieftes Grundrecht in Anspruch nehmen, für das es ein geordnetes Verfahren gibt. Zu einer rationalen Betrachtung gehört die Erkenntnis, dass die Gefahr eines Terroranschlags durch Islamisten unabhängig von der Asylthematik besteht: In Großbritannien, Frankreich oder Belgien ist es trotz geringer Asylzahlen zu mehr Anschlägen gekommen als in Deutschland. Es ist nicht auszuschließen, dass islamistische Terroristen das Asylrecht missbrauchen, aber die übergroße Mehrzahl der Geflüchteten sucht Schutz vor islamistischer Gewalt und autoritärer Verfolgung. Es wäre widersinnig und fragwürdig, den Opfern von islamistischen Terrorregimen den Schutz zu verweigern und zur Organisation von Abschiebungen mit den Vertretungen dieser Regime zusammenzuarbeiten. Gegen Autoritarismus und Terrorismus braucht es einen starken Staat, der die Verfassung, die demokratischen Werte und die Menschenrechte verteidigt und mit den Opfern von Verfolgung Solidarität und Empathie zeigt.

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Kai Weber Geschäftsführer
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.,

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Ein sehr aufschlußreicher und informativer Artikel, der als Kletterseil für das eigene Denken dienen kann. Nicht jeder "Flachland-Tiroler" kann bis zum Schluß aufmerksam und konzentriert dabei bleiben. Vor allem meine Freunde von der AfD schmieren da mit ihrer übergroßen Nächstenliebe meist vorher ab. 😉

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Denen gefällt natürlich Dänemark besser.

"Zum Beispiel für abgelehnte Asylbewerber wie Yasin. Der 36-Jährige lebt hier quasi im offenen Vollzug. Jede Nacht hinter Gittern. Seit sieben Jahren geht das so - tagein, tagaus. "Wir dürfen hier gar nichts", sagt er. "Es ist wirklich hart. Dänemark ist ein Land der Möglichkeiten - aber nicht, wenn man hier in Kærshovedgård lebt. Hier bist du auf dich allein gestellt."

Der Alltag im Lager für mehr als 200 Insassen sei deprimierend, erzählt Yasin. Eine Matratze, drei Mahlzeiten und strenge Regeln. Die Botschaft hier ist einfach zu verstehen: Geflüchtete sollen Dänemark wieder verlassen.

In seine Heimat Iran zurückkehren kann Yasin nicht, selbst wenn er wollte. Es existiert kein Rückführungsabkommen. Ein Leben in der Endlosschleife. Er spricht gut Dänisch, möchte arbeiten, seine dänische Freundin treffen. Einmal hat er bei ihr übernachtet. Doch dann kam die Polizei, sagt er: "Morgens um sieben Uhr kamen drei Beamte ins Zimmer. Sie haben gesagt: 'Pack' die Zahnbürste und Klamotten ein, Du bist festgenommen.' Ich habe gefragt: 'Warum?' Sie sagten: 'Du hast unangemeldet woanders übernachtet.'"

Ein elektronisches System hatte den Verstoß registriert. Die Folge: drei Monate Gefängnis."

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Ja, denen gefällt die Barbarei besser.

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Noch mehr dänische Asyl-Hygge

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Dass so etwas im Land von Kristiania passiert macht schon wundern. Obwohl, es ist auch das Land von Jyllands Komposten...

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Es ist auch gar nicht lustig, wie die Dänen mit den inuitischen Ureinwohnern Grönlands umgehen. "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" vermittelt einen kleinen Eindruck davon. Purifikation der weißen Rasse trifft es schon ganz gut.

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Man sollte nie hinter gemütliche Fassaden sehen, da tun sich schnell Abgründe auf.

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Hinter den blanken Glasfassaden der Business Cities auch...

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Gemütliche Fassaden
Da tun sich nicht immer Abgründe auf, aber allzuoft.

Im zweiten Fall sind die zwangsläufig;-)

Allerdings liebe ich Abgründe, so als Alpinist.

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