Mittwoch, 12. November 2025
Über die Gefährlichkeit von Melatonin
che2001, 17:39h
Riskante Einschlafhilfe? Langzeit-Anwendung von Melatonin könnte Risiko für Herzinsuffizienz erhöhen
Dawn Attride, Medscape
10. November 2025
New Orleans – Melatonin gilt als sanfte Einschlafhilfe und wird millionenfach ohne Rezept eingenommen. Doch eine neue Beobachtungsstudie aus den USA legt nahe, dass die langfristige Einnahme dieser vermeintlich harmlosen Substanz alles andere als harmlos ist: Wer über ein Jahr hinweg regelmäßig Melatonin einnimmt, hat ein deutlich höheres Risiko, eine Herzinsuffizienz zu entwickeln – und häufiger ins Krankenhaus zu müssen oder sogar zu sterben. Darüber berichten Forscher bei den Scientific Sessions der American Heart Association (AHA) 2025.
Widerspruch zu bisherigen Annahmen
Bislang galt Melatonin als eher nützlich für die Herz-Kreislauf-Gesundheit. Studien hatten darauf hingedeutet, dass der körpereigene Botenstoff dank seiner antioxidativen Eigenschaften blutdrucksenkend und gefäßschützend wirken könnte.
Doch die neuen Daten stellen diese Annahme infrage. Nur gab es bislang keine hochwertigen Studien zu langfristigen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System. Diese Lücke schließt eine neue Arbeit
Deutlich erhöhtes Risiko bei Langzeitanwendung
Die Forscher haben Daten der TriNetX Global Research Network-Datenbank analysiert. Ihre Studie umfasste 130.828 Erwachsene mit diagnostizierter Insomnie (Durchschnittsalter 55,7 Jahre; 61 % Frauen). Etwa die Hälfte der Probanden nahm für mindestens 12 Monate regelmäßig Melatonin ein.
Personen mit bestehender Herzinsuffizienz haben die Forscher ausgeschlossen. Das galt auch für Menschen, die andere Schlafmittel als Melatonin eingesetzt haben.
Beide Gruppen – Melatonin-Nutzer und Nichtnutzer – wurden anhand von mehr als 40 Faktoren (darunter Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen, Blutdruck, BMI und Medikation) gematcht.
Im Beobachtungszeitraum von 5 Jahren zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang:
4,6% der Melatonin-Nutzer entwickelten eine Herzinsuffizienz – gegenüber 2,7% in der Kontrollgruppe. Das entspricht einem um 89% erhöhten Risiko (Hazard Ratio [HR] 1,89; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,78-2,00).
Die Wahrscheinlichkeit, wegen Herzinsuffizienz hospitalisiert zu werden, war in der Melatonin-Gruppe 3,5-mal höher (19% vs. 6,6%; HR 3,44; 95 %-KI 3,32-3,56).
Auch die Gesamtsterblichkeit verdoppelte sich bei Probanden der Melatonin-Gruppe innerhalb von 5 Jahren (7,8% vs. 4,3%; HR 2,09; 95%-KI 1,99-2,18).
Studienleiter Dr. Ekenedilichukwu Nnadi, leitender Assistenzarzt für Innere Medizin am SUNY Downstate/Kings County Primary Care in Brooklyn (New York), betonte gegenüber Medscape: „Alle Teilnehmenden litten an Insomnie, das heißt: Das erhöhte Risiko lag nicht an der Schlaflosigkeit selbst“, betonte Nnadi. „Entscheidend war offenbar die Melatonin-Einnahme.“
Die langfristige Anwendung von Melatonin ist möglicherweise nicht so risikofrei, wie wir dachten.
Dr. Ekenedilichukwu Nnadi
Sein Fazit: „Die langfristige Anwendung von Melatonin ist möglicherweise nicht so risikofrei, wie wir dachten. Wenn es Menschen es dauerhaft einnehmen, insbesondere bei bestehenden Herzproblemen oder Risikofaktoren, sollten sie ihren Arzt um Rat fragen.“
Keine eindeutige Ursache – aber klare Warnsignale
Wie genau Melatonin die Entstehung einer Herzinsuffizienz begünstigen könnte, ist offen. Ein direkter ursächlicher Zusammenhang wurde nicht nachgewiesen – die Studie ist beobachtend, nicht experimentell. Dennoch sprechen die Ergebnisse eine deutliche Sprache.
Auch wenn wir den Mechanismus nicht kennen, sollten wir diese Daten nicht ignorieren.
Dr. Logan Schneider
Der Schlafmediziner Dr. Logan Schneider von der Stanford University, der an der Arbeit nicht beteiligt war, hält die Resultate für relevant: „Bei der Größe der Stichprobe ist es unwahrscheinlich, dass schlechter Schlaf allein die Unterschiede erklärt. Auch wenn wir den Mechanismus nicht kennen, sollten wir diese Daten nicht ignorieren.“
Schneider weist allerdings auf methodische Einschränkungen hin. So könnten Personen in der Kontrollgruppe Melatonin ohne ärztliche Verschreibung eingenommen haben, was das Ergebnis verzerren würde. Zudem fehlten Informationen über die Schwere der Insomnie oder über mögliche psychiatrische Begleiterkrankungen.
Forderung nach weiteren Studien
In der Fachwelt sorgt die Untersuchung für Diskussionen, da sie bisherigen Erkenntnissen widerspricht. Noch im Jahr 2024 hatte eine systematische Übersichtsarbeit Melatonin als vielversprechende Zusatztherapie bei Herzinsuffizienz, auch in der Palliativmedizin, bezeichnet.
Carlos Egea, Präsident der Spanischen Föderation der Schlafmedizin-Gesellschaften und Koordinator der Sleep Alliance, rät deshalb auch, die Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren: „Wenn neue Daten unser Wissen infrage stellen, sollten wir weder vorschnell reagieren noch die Augen davor verschließen. Es geht darum, Nutzen und Risiken neu zu bewerten.“
Auch Nnadi will die Thematik weiter untersuchen. Er plant, die Daten nach Risikofaktoren zu stratifizieren und in einer anderen Datenbank zu prüfen, ob sich die Befunde wiederholen.
Fazit: Kein harmloses Schlafmittel
Melatonin wird häufig als sanfter Wirkstoff gegen Schlafprobleme beworben. Die neue Arbeit deutet jedoch auf erhöhte Risiken für Herzinsuffizienz, Krankenhausaufenthalte und Sterblichkeit bei langfristiger Einnahme hin.
Bis weitere randomisierte Studien vorliegen, gilt: Wer Melatonin über längere Zeit einnimmt – insbesondere ältere Menschen oder Patienten mit Herz-Kreislauf-Risiken – sollte das unbedingt mit seinem Arzt besprechen.
„Melatonin ist kein harmloses Medikament für guten Schlaf,“ so Nnadi. „Es ist Zeit, seine Langzeitsicherheit kritisch zu hinterfragen.“
Dawn Attride, Medscape
10. November 2025
New Orleans – Melatonin gilt als sanfte Einschlafhilfe und wird millionenfach ohne Rezept eingenommen. Doch eine neue Beobachtungsstudie aus den USA legt nahe, dass die langfristige Einnahme dieser vermeintlich harmlosen Substanz alles andere als harmlos ist: Wer über ein Jahr hinweg regelmäßig Melatonin einnimmt, hat ein deutlich höheres Risiko, eine Herzinsuffizienz zu entwickeln – und häufiger ins Krankenhaus zu müssen oder sogar zu sterben. Darüber berichten Forscher bei den Scientific Sessions der American Heart Association (AHA) 2025.
Widerspruch zu bisherigen Annahmen
Bislang galt Melatonin als eher nützlich für die Herz-Kreislauf-Gesundheit. Studien hatten darauf hingedeutet, dass der körpereigene Botenstoff dank seiner antioxidativen Eigenschaften blutdrucksenkend und gefäßschützend wirken könnte.
Doch die neuen Daten stellen diese Annahme infrage. Nur gab es bislang keine hochwertigen Studien zu langfristigen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System. Diese Lücke schließt eine neue Arbeit
Deutlich erhöhtes Risiko bei Langzeitanwendung
Die Forscher haben Daten der TriNetX Global Research Network-Datenbank analysiert. Ihre Studie umfasste 130.828 Erwachsene mit diagnostizierter Insomnie (Durchschnittsalter 55,7 Jahre; 61 % Frauen). Etwa die Hälfte der Probanden nahm für mindestens 12 Monate regelmäßig Melatonin ein.
Personen mit bestehender Herzinsuffizienz haben die Forscher ausgeschlossen. Das galt auch für Menschen, die andere Schlafmittel als Melatonin eingesetzt haben.
Beide Gruppen – Melatonin-Nutzer und Nichtnutzer – wurden anhand von mehr als 40 Faktoren (darunter Alter, Geschlecht, Begleiterkrankungen, Blutdruck, BMI und Medikation) gematcht.
Im Beobachtungszeitraum von 5 Jahren zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang:
4,6% der Melatonin-Nutzer entwickelten eine Herzinsuffizienz – gegenüber 2,7% in der Kontrollgruppe. Das entspricht einem um 89% erhöhten Risiko (Hazard Ratio [HR] 1,89; 95%-Konfidenzintervall [KI] 1,78-2,00).
Die Wahrscheinlichkeit, wegen Herzinsuffizienz hospitalisiert zu werden, war in der Melatonin-Gruppe 3,5-mal höher (19% vs. 6,6%; HR 3,44; 95 %-KI 3,32-3,56).
Auch die Gesamtsterblichkeit verdoppelte sich bei Probanden der Melatonin-Gruppe innerhalb von 5 Jahren (7,8% vs. 4,3%; HR 2,09; 95%-KI 1,99-2,18).
Studienleiter Dr. Ekenedilichukwu Nnadi, leitender Assistenzarzt für Innere Medizin am SUNY Downstate/Kings County Primary Care in Brooklyn (New York), betonte gegenüber Medscape: „Alle Teilnehmenden litten an Insomnie, das heißt: Das erhöhte Risiko lag nicht an der Schlaflosigkeit selbst“, betonte Nnadi. „Entscheidend war offenbar die Melatonin-Einnahme.“
Die langfristige Anwendung von Melatonin ist möglicherweise nicht so risikofrei, wie wir dachten.
Dr. Ekenedilichukwu Nnadi
Sein Fazit: „Die langfristige Anwendung von Melatonin ist möglicherweise nicht so risikofrei, wie wir dachten. Wenn es Menschen es dauerhaft einnehmen, insbesondere bei bestehenden Herzproblemen oder Risikofaktoren, sollten sie ihren Arzt um Rat fragen.“
Keine eindeutige Ursache – aber klare Warnsignale
Wie genau Melatonin die Entstehung einer Herzinsuffizienz begünstigen könnte, ist offen. Ein direkter ursächlicher Zusammenhang wurde nicht nachgewiesen – die Studie ist beobachtend, nicht experimentell. Dennoch sprechen die Ergebnisse eine deutliche Sprache.
Auch wenn wir den Mechanismus nicht kennen, sollten wir diese Daten nicht ignorieren.
Dr. Logan Schneider
Der Schlafmediziner Dr. Logan Schneider von der Stanford University, der an der Arbeit nicht beteiligt war, hält die Resultate für relevant: „Bei der Größe der Stichprobe ist es unwahrscheinlich, dass schlechter Schlaf allein die Unterschiede erklärt. Auch wenn wir den Mechanismus nicht kennen, sollten wir diese Daten nicht ignorieren.“
Schneider weist allerdings auf methodische Einschränkungen hin. So könnten Personen in der Kontrollgruppe Melatonin ohne ärztliche Verschreibung eingenommen haben, was das Ergebnis verzerren würde. Zudem fehlten Informationen über die Schwere der Insomnie oder über mögliche psychiatrische Begleiterkrankungen.
Forderung nach weiteren Studien
In der Fachwelt sorgt die Untersuchung für Diskussionen, da sie bisherigen Erkenntnissen widerspricht. Noch im Jahr 2024 hatte eine systematische Übersichtsarbeit Melatonin als vielversprechende Zusatztherapie bei Herzinsuffizienz, auch in der Palliativmedizin, bezeichnet.
Carlos Egea, Präsident der Spanischen Föderation der Schlafmedizin-Gesellschaften und Koordinator der Sleep Alliance, rät deshalb auch, die Ergebnisse vorsichtig zu interpretieren: „Wenn neue Daten unser Wissen infrage stellen, sollten wir weder vorschnell reagieren noch die Augen davor verschließen. Es geht darum, Nutzen und Risiken neu zu bewerten.“
Auch Nnadi will die Thematik weiter untersuchen. Er plant, die Daten nach Risikofaktoren zu stratifizieren und in einer anderen Datenbank zu prüfen, ob sich die Befunde wiederholen.
Fazit: Kein harmloses Schlafmittel
Melatonin wird häufig als sanfter Wirkstoff gegen Schlafprobleme beworben. Die neue Arbeit deutet jedoch auf erhöhte Risiken für Herzinsuffizienz, Krankenhausaufenthalte und Sterblichkeit bei langfristiger Einnahme hin.
Bis weitere randomisierte Studien vorliegen, gilt: Wer Melatonin über längere Zeit einnimmt – insbesondere ältere Menschen oder Patienten mit Herz-Kreislauf-Risiken – sollte das unbedingt mit seinem Arzt besprechen.
„Melatonin ist kein harmloses Medikament für guten Schlaf,“ so Nnadi. „Es ist Zeit, seine Langzeitsicherheit kritisch zu hinterfragen.“
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