Montag, 3. Mai 2021
Von Ethnogenese und Sprachinseln oder der Rassenirrtum
Auf einem Blog in der entfernten Nachbarschaft war zu lesen, die Finnen seien genetisch von den Schweden stark unterschieden, weil es sich um ein altaiisches Volk handle, im Gegensatz zu den indogermanischen Schweden. Dies ist ein Irrtum in gleich doppelter Hinsicht, der mir aber Gelegenheit gibt, mit einem immer noch wirkmächtigen Missverständnis in der Ur- und Frühgeschichte, Ethnologie und Volkskunde aufzuräumen. Auch wenn ich heute als Unternehmer tätig bin gilt ja doch die Regel einmal historischer Anthropologe - immer historischer Anthropologe.



Grundsätzlich werden bestimmte Sprachgruppen regionalen Bezugsräumen, bevorzugt Gebirgen zugeordnet. Entweder, weil sich dort Rückzugsorte sonst wenig verbreiteter Sprachen befinden oder, weil der Ursprung einer Sprachfamilie dort vermutet wird. Ersteres ist bei den kaukasischen Sprachen der Fall. Im Kaukasus gibt es unzählige Sprachinseln, in manchen Gegenden Georgiens wird in jedem Tal eine andere Sprache gesprochen. Die kaukasischen Sprachen gehören weder zu den indogermanischen noch zu den Turksprachen und auch nicht zu den semitischen Sprachen, daher wird vermutet, dass es sich um sehr alte Sprachen handelt, die in Eurasien gesprochen wurden, ehe sich die Semiten, dann die Indogermanen und zuletzt die Turkvölker ausbreiteten. Es finden sich dort Sprachen, die mit dem Baskischen/Euskera verwandt sind, das wiederum keinerlei Verwandtschaft zu irgendwelchen lebenden europäischen Sprachen aufweist. Es wird daher vermutet dass diese "japhetitisch" genannte Sprachfamilie (nach Japhet, neben Ham und Sem einer der drei Söhne Noahs) in Europa weiträumig verbreitet war ehe sich die Indogermanen ausbreiteten und also die Erbauer von Stonehenge und die Pfahlbauern von Unteruhldingen eine Art "baskisch" sprachen. Nur im Kaukasus und in Euskadi haben diese Sprachen überlebt.

Anders sieht es mit den Altaisprachen aus. Hier ist der Altai kein Rückzugsraum, sondern vermutetes Herkunftsgebiet der Altaisprachen. Dies sind die Turksprachen, Mongolisch, Koreanisch und Tungusisch, nach einer Theorie auch noch die Ryu-Kyu-Sprachen, Japanisch, Ainu und Jakutisch. Aber nicht die Finno-Ugrischen Sprachen mit Finnisch, Estnisch, Karelisch, Ungarisch, Sami, Chantisch und Baschkirisch. Vor längerer Zeit hatte man eine Verwandtschaft dieser Sprachen mit den Altaisprachen angenommen, weil das Ungarische, die Turksprachen und das Mongolische sich mit den vielen Ü- Ö- und Ä-Lauten phonetisch ähneln und die Ungarn wie die Hunnen, Türken, Mongolen und Tataren als Reitervolk aus Innerasien nach Europa vorgedrungen sind. Diese Theorie ist aber seit langem vom Tisch.


Ein anderer Irrtum betrifft die Ethnogenese wandernder Völker. Die Ur- und Frühgeschichtler wie die Anthropologen und Sprachforscher des 19. und 20. Jahrhunderts sind von Konzepten und Vorstellungen ausgegangen die heute längst überholt sind, in populärwissenschaftlichen Diskursen aber noch verbreitet sind und bis in die 1980er Jahre auch im Schulunterricht gelehrt wurden.

Vökerwanderungen wurden als Komplettumzüge von "Völkern" gedacht die man sich vorstellte wie Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit als es hierzu keine Entsprechung gab. Also sprachliche, ethnische, kulturelle und religiöse Einheiten, deutlich von ihrer Umgebung getrennt, die mit Kind und Kegel ihre alten Wohnsitze aufgaben und in die Fremde wanderten, um dort andere Völker zu unterwerfen oder zu verdrängen, was als darwinistisches survival of the fittest begriffen wurde. So war es nicht. Vielmehr vollzog sich die Ethnogenese überwiegend eher so, dass sich die jeweiligen "Völker" erst im Ankunftsgebiet neu definierten.

Nehmen wir die germanische Völkerwanderung. Es gab kein Volk der Franken, sondern ein Gewusel miteinander verbündeter germanischer Stämme, die "frank" genannt wurden weil sie frei waren und weder dem weströmischen noch dem oströmischen Kaiser unterstanden. Es gab auch kein Volk der Goten. Was es gab waren die Stämme der Terwingen, Greutungen und Gepiden, die eine heute "gotisch" genannte Sprache verwendeten, die sich vom Idiom der Westgermanen, einer frühen Form des Altniederdeutschen unterschied.

Die Vorstellung, die Goten wären als geschlossener Verband aus Skandinavien über die Insel Gotland ins Weichselland und von dort südlich in die Schwarzmeerregion gewandert wurde von Anhängern der Idee einer "nordischen Rasse" um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ersonnen.

Unter dem Druck klimabedingter Missernten und des Vorrückens von Hunnen und Alanen aus dem Osten drangen die Terwingen unter Kaiser Aurelian auf früheres, jetzt von den Römern geräumtes Reichsgebiet im heutigen Rumänien vor und erhielten später die Genehmigung, weiter westlich auf Reichsgebiet zu siedeln. Aber es zogen nicht alle Terwingen aus ihrer Heimat, dem heutigen Nordostrumänien, Bulgarien und Moldawien in den Westen, sondern die mobilsten Teile der Gesellschaft, hauptsächlich Junge und Arme. Großgrundbesitzer, Alte und Kranke blieben zurück, verloren später ihre Eigenständigkeit und verschmolzen mit den traditionell weiter östlich siedelnden Greutungen. Erst auf Reichgebiet wurden aus den Terwingen "Visigoten" nach der römischen Bezeichnung ihres Herkunftgebiets "Gothica". Der Begriff "Westgoten" beruht auf einem Übersetzungsfehler.

In der Folge zogen dann die nun so genannten Ostgoten als Zwangsverbündete der Hunnen und die Westgoten als Verbündete der Römer ins Feld und suchten sich nach der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern neue Siedlungsräume in Südeuropa - Heeresverbände mit im Tross nachziehenden Familienangehörigen, aber keine kompletten Volksstämme. Dementsprechend gingen sie in den von ihnen besiedelten Gebieten in Spanien und Italien auch ethnisch in der dort ansässigen Bevölkerung auf. Im Westgotenreich regierten westgotische Könige, gestützt auf ein westgotisches Heer, über eine gemischt keltiberisch-gallisch-römische Bevölkerung, aber es lebte dort kein Volk der Westgoten. Ebenso bildeten die Ostgoten eine kleine kriegerische Elite innerhalb Italiens. Die Vorstellung, die die in nationalistischen und im Lauf der Zeit zunehmend sozialdarwinistischen, in Deutschland rassenhygienischen Gedankengebäuden operierenden Frühgeschichtler hatten, es wanderten in sich zusammenhängende genetisch umschreibbare Abstammungsgemeinschaften ist völlig falsch. Das gilt auch für die Invasion der Arier in Indien um 1500 vor Christus oder der Ungarn in Europa im Frühmittelalter, der Türken im Spätmittelalter. Man sieht dies daran, dass sie in der Bevölkerung der eroberten Länder genetisch aufgingen ohne dort sehr auffällige somatische Spuren zu hinterlassen - die Arier sahen aus wie Südeuropäer, die Ungarn und frühen Türken wie Mongolen. In der Zeit der Rassentheorien glaubten westliche, insbesondere deutsche Forscher ernsthaft, die indische Kastengesellschaft bestünde aus Ariernachfahren in den Brahmanen- und Adelskasten und Drawidas in den unteren Kasten und versuchten dies durch biologische Untersuchungen zu untermauern. Die fatale Unterscheidung zwischen "äthiopiden" Watutsi und "negriden" Hutu in Ruanda, Burundi und Tansania wurde von deutschen Rassenforschern vorgenommen. Deutsche Ostforscher wie Hermann Aubin, einer der Vordenker nationalsozialistischer Ostsiedlungs- und Großraumpolitik waren es, die zusammenfantasierten, dass die Slawen in die von Ostgermanen aufgegebenen Siedlungsräume Osteuropas "einsickerten" und sie als "Bevölkerungsfluten" "überschwemmten" (dieses "hydraulische Vokabular" fand sich später bei der Neuen Rechten in dem Begriff "Asylantenflut" wieder). Über die Ethnogenese der Altslawen ist wenig bekannt, sie tauchen um das Jahr 500 in byzantinischen Quellen plötzlich auf. Die traditionelle Ur- und Frühgeschichte zumindest im Westen weist ihnen als ursprünglichen Siedlungsraum die Pripjetsümpfe, eine ungemütliche Gegend rund um Tschernobyl zu. Von hier sollen sie sich ausgebreitet haben, nachdem in der Folge des Hunnensturms Goten und Alanen Osteuropa verließen. Aber es sind ja gar keinen kompletten "Völker" gewandert, und das passt auch nicht zur sprachtheoretischen Einordnung des Altslawischen, das zu einem sehr frühen Zeitpunkt aus dem Urgermanischen entstanden sein soll, also etwa in der frühesten Eisenzeit. Das heißt, entweder die Slawen haben inselartig verteilt immer schon in den ansonsten germanisch oder keltisch geprägten Siedlungsräumen gelebt - es gibt auch sprachliche slawische Rückzugsräume in den Alpen, oder das Slawische muss anders entstanden sein, zum Beispiel aus den graecoromanokeltischen Kreolsprachen des antiken Balkan und einer dann möglicherweise einsetzenden Lautverschiebung.

Die in Traditionen der Rassenhygiene stehende Völkerkunde und Ur- und Frühgeschichte endete nicht mit dem "Dritten Reich", Theorien und Rassenmodelle der Rassentheoretiker von Eickstedt und Mühlmann fanden sich noch in den 1970ern als Definitionen in Konversationslexika, und die Ideen von Völkerwanderungen als Wanderungen geschlossener genetischer Kollektive hielten sich bis in Bio- und Geschichtsbücher der 1990er. Auch wenn sie nichts Anderes sind als in die Geschichte hinein interpretierte rassistische Projektionen.

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