Mittwoch, 27. Januar 2016
Der Pass wird passend gemacht. Von der Willkürpraxis deutscher und afrikanischer Behörden
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Abschiebung Wenn die deutschen Behörden einen Flüchtling nicht
loswerden, lassen sie eben dessen Staatsangehörigkeit ändern.
Afrikanische Botschaften werden für ihre Mithilfe bezahlt
Der Pass wird passend gemacht

Im Oktober 2012 besetzten aufgebrachte Geflüchtete die nigerianische
Botschaft



Joseph Koroma versteht bis heute nicht, warum er nach Nigeria
abgeschoben wurde – einem Land, in das er nie zuvor einen Fuß gesetzt
hatte. Als er 2006 nach Deutschland floh, stellte er einen Asylantrag
und erzählte seine Fluchtgeschichte: Er sei in Sierra Leone verfolgt
worden, von Anhängern des Poro-Geheimbundes, der in Westafrika ganze
Landstriche kontrolliert. Sie töteten seinen Vater und drohten ihn
ebenfalls zu ermorden, falls er dem Bund nicht beitrete.

Doch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag
ab. Unter anderem bezweifelten die Beamten, ob Koroma wirklich aus
Sierra Leone komme. Er stellte einen Folgeantrag und legte neue Belege
seiner Verfolgung vor, unter anderem einen aktuellen Zeitungsartikel,
der seinen Fall aufgriff. Doch auch der Folgeantrag wurde abgelehnt,
Koroma klagte – und verlor. Nach Ansicht des zuständigen Gerichts könne
man in Sierra Leone problemlos Zeitungsartikel lancieren.

Nun war er ausreisepflichtig, aber ohne Pass. Also wurde sein Aufenthalt
von den deutschen Behörden viele Jahre geduldet – bis seine Identität
definitiv geklärt sein würde. Im Jahr 2012 änderten Angehörige der
Botschaft Nigerias seinen Geburtsort in den nigerianischen Bundesstaat
Ogun – zunächst ohne Koromas Wissen. Ein Jahr später klopften Polizisten
an seine Zimmertür. Er solle rasch ein paar Sachen packen, sagten die
Beamten, sie würden ihn mitnehmen. Seine Maschine nach Nigeria fliege in
wenigen Stunden. Koroma war fassungslos.

Viele Flüchtlinge haben keine Papiere, wenn sie in Deutschland ankommen.
Entweder weil sie nie welche besaßen – Pässe werden in vielen Ländern
Afrikas nur auf Anfrage ausgestellt. Oder weil sie ihren Ausweis vorher
wegwerfen, aus Angst, schneller abgeschoben zu werden.

Für die Geflüchteten bedeutet das, dass sie im rechtlichen Nirgendwo
existieren. „Vogelfrei“ nannte Hannah Arendt diese Heimatlosen, weil sie
offiziell zu keinem Staat gehören und daher nur eingeschränkte
Bürgerrechte genießen. Für die deutschen Behörden hingegen sind diese
Personen vor allem ein Problem, denn in manche Länder sind keine
Abschiebungen möglich – weil dort Gefahr für Leib und Leben droht oder
weil das Land keine Pässe ausstellt. Ungeklärte Staatsangehörigkeit ist
das häufigste Abschiebehindernis. Deswegen hat sich die
Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rückführung“, eine Art Thinktank für
innovative Abschiebepraktiken, vor einigen Jahren eine Methode einfallen
lassen, die Abschiebungen auch ohne gesichertes Wissen über die Herkunft
der Flüchtlinge ermöglicht: Massenanhörungen durch Botschaftsangehörige
vermuteter Heimatstaaten.
Dubiose Verhöre

Die Bundespolizei und die Ausländerbehörden lassen seit Jahren Beamte
aus afrikanischen Staaten einfliegen, die in den oft nur wenige Minuten
dauernden Gesprächen mit den Betroffenen entscheiden, ob es sich um
einen Bürger ihres Staates handelt. Wenn sie das glauben, stellen sie
einen Passersatz aus, das „Emergency Travel Certificate“. Wenn nicht,
geht die Identitätssuche weiter. Die Flüchtlinge müssen sich an den
Befragungen beteiligen. Asylbewerber sind in Deutschland gesetzlich
verpflichtet, „an der Beschaffung eines Identitätspapiers mitzuwirken“.

Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2014. Damals fanden nach
Auskunft der Bundespolizei 50 Massenanhörungen mit Vertretern 18
afrikanischer Staaten statt. Insgesamt wurden 720 Flüchtlinge befragt,
also im Durchschnitt mehr als zehn pro Termin. Dazu kommt eine
unbekannte Zahl von Anhörungen, die die Bundesländer organisieren. Die
„Erfolgsquoten“ variieren: Bei Anhörungen durch nigerianische
Delegationen wurde etwa die Hälfte der Vorgeführten zu Staatsbürgern
erklärt, bei der Botschaft Benins sind es drei von vier Geflüchteten.

Das Verfahren ist alles andere als seriös. Von den Sammelverhören dringt
nur wenig nach außen. Oft finden sie an schwer zugänglichen Orten statt,
beispielsweise auf dem Münchner Flughafengelände. Weder Anwälte noch
Dolmetscher dürfen die Betroffenen begleiten. Bevor die Vorgeladenen zur
Delegation gelassen werden, werden sie durchsucht und ihre Sachen
beschlagnahmt. Drei bis fünf Minuten dauern die Anhörungen in der Regel,
Gesprächsprotokolle gibt es nicht. Ausländische Beamte, deren einzige
Qualifikation darin besteht, im Dienst ihrer Regierung zu stehen, werden
ad hoc zu Staatsangehörigkeits-Experten, die jemandes Identität via
Sichtkontakt und Kurzinterview ermitteln sollen. Viele Flüchtlinge
verlassen das Verhörzimmer und wissen nicht einmal, was gerade passiert ist.

Der Rechtsanwalt Michael Wanke-Lasom kennt solche Fälle gut. Er vertrat
Koroma bis zu seiner Abschiebung und spricht von „reiner
Behördenwillkür“. Aufschluss über die Staatsangehörigkeit könnten nur
eine Geburtsurkunde oder vergleichbare amtliche Dokumente geben, aber
„in keinem Fall ein bloßes Gespräch“. Auch die Rechtsanwältin Vera
Kohlmeyer-Kaiser vertritt diese Einschätzung: Sie spricht von „erdachten
Wahrscheinlichkeiten“, die so nah wie möglich an die Wahrheit
heranreichen sollen, um der Öffentlichkeit das Bild eines seriösen
Verfahrens zu vermitteln.

Zu den Leidtragenden dieser Praxis gehört Koroma, den die
Ausländerbehörde partout zum Nigerianer machen wollte. Dabei hatte zuvor
die Sprachanalyse des Bundesamtes noch bestätigt, dass seine Identität
als Sierra Leoner durchaus wahrscheinlich ist. Trotzdem schickte ihn die
Ausländerbehörde zu einer Sammelanhörung der diplomatischen Vertretung
Nigerias, um seine Identität feststellen zu lassen. „Sie fragten mich
landesspezifische Dinge über Nigeria“, erinnert er sich. „Ich sagte
ihnen nur, dass ich nicht weiß, was sie von mir wollen, weil ich nicht
aus Nigeria bin.“ Koroma verteidigte vehement seine sierraleonische
Herkunft. Nach wenigen Minuten wurde er aus dem Raum geschickt.

Drei Monate später soll er noch einmal vor einer nigerianischen
Delegation erscheinen. Koroma weigerte sich dort erneut, sich als
Nigerianer auszugeben. Was Koroma zu diesem Zeitpunkt nicht wusste:
Seine neue Identität stand für die Behörden bereits nach der ersten
Anhörung fest. In seinem Passersatzpapier steht später, dass er sich
selbst als Nigerianer bezeichnet habe.

Auch Yusupha Jarboh aus Gambia geriet unter die Räder der
deutsch-nigerianischen Abschiebekooperation: Er wurde 2013 von
nigerianischen Beamten als Nigerianer eingestuft und abgeschoben, nach
19 Jahren in Deutschland. Der Grund war offenbar, dass in seinem Handy,
das Polizisten vor dem Verhör beschlagnahmten, eine nigerianische Nummer
gefunden wurde.

Mehrere deutsche Gerichte haben das Gebaren der Abschiebebehörden im
Rahmen der Passersatzbeschaffung bereits bemängelt, bis zur höchsten
Instanz hat sich aber noch niemand geklagt. Das Verwaltungsgericht
Lüneburg urteilte im Jahr 2008, dass die Praxis „erheblichen
rechtsstaatlichen Zweifeln unterliegt“ und „nicht im Ansatz geeignet
sei, eine Staatsangehörigkeit festzulegen“. Das Verwaltungsgericht
Bremen kam 2010 zu dem Schluss, dass „eine Staatsangehörigkeit sich
nicht anhand von Kopfform und Sprache feststellen“ ließe und stoppte die
Vorladung eines Flüchtlings vor sierraleonische Vertreter.
Finanzielle Interessen

Das Lüneburger Gericht kritisierte, dass eine Delegation die Kopfform
von Flüchtlingen inspiziert hatte, um ihre Herkunft zu ermitteln. Das
geschah auch Koroma, dem der Delegationsleiter bei der ersten Anhörung
bescheinigte, er sehe aus wie jemand aus dem nigerianischen Bundesstaat
Ogun, woraufhin er seinen Geburtsort änderte. Bundespolizisten saßen
daneben und schwiegen.

Offiziell äußert sich die Bundespolizei nicht zu diesem Fall. Die Praxis
der Botschaftsanhörungen aber verteidigt sie wortreich. Es sei keine
Seltenheit, dass ausreisepflichtige Ausländer widersprüchliche Angaben
zu ihrer Identität machten, um ihre Identität zu verschleiern, sagt ihr
Sprecher. Daher sei die Mithilfe mutmaßlicher und tatsächlicher
Herkunftsstaaten nötig. Auch die Bundesregierung will an der Praxis
festhalten. Sie erklärte schon 2011 in einer Antwort auf eine Kleine
Anfrage der Linksfraktion, dass die Anhörungen „oftmals die einzige
Möglichkeit darstellen, die Nationalität der Ausreisepflichtigen
festzustellen“.

Doch das Verfahren ist nicht nur fehleranfällig. Es gibt auch
Interessenkonflikte. Die Botschaftsangehörigen bekommen nämlich Geld,
wenn sie eine Abschiebung ermöglichen. Für Deutschland kommt das
günstiger als die monatelange Duldung der Flüchtlinge.

Die Zusammenarbeit mit der nigerianischen Botschaft gestaltete sich
lange Zeit schwierig, bis den Mitarbeitern eine Kostenerstattung für die
Anhörungen versprochen wurde: 250 Euro pro Vorladung, weitere 250 Euro
für eine Identifizierung inklusive Ausstellung des Reisepapiers. Benins
Angestellte erhalten jeweils 300 Euro. Die unterschiedliche Höhe wird
offiziell damit begründet, dass es sich um Gebühren der jeweiligen
Botschaft handele und Deutschland darauf keinen Einfluss habe.

2011 stoppte das Verwaltungsgericht Magdeburg die Abschiebung eines
Flüchtlings, weil es Hinweise gebe, dass die sierraleonischen Vertreter
„gegen Bezahlung tätig werden und möglicherweise
Gefälligkeitsbescheinigungen ausstellen“. Auch andere Gerichte schlossen
sich solchen Zweifeln an. Aber kaum eine Abschiebung wurde deswegen
gestoppt.

Für nigerianische Beamte werden inzwischen keine Abschiebeprämien mehr
gezahlt. Die Linkspolitikerin Ulla Jelpke erklärt sich das damit, dass
versucht werde, ein wenig „den Ruch des Korrupten loszuwerden.“ Zudem
stieg der öffentliche Druck auf die nigerianische Botschaft: Die
Flüchtlingsorganisation The Voice organisiert seit Jahren Proteste gegen
die beschleunigten Abschiebeverfahren. Im Jahr 2012 besetzte eine Gruppe
sogar die nigerianische Botschaft.

Trotzdem gibt es noch die Abschiebekooperation. Rex Osa von The Voice
sieht einen beiderseitigen Vorteil: Die deutschen Behörden seien
„verzweifelt, weil sie nicht wissen, was sie mit den Flüchtlingen machen
sollen“. Die nigerianische Seite erhoffe sich eine engere Partnerschaft
mit der stärksten Volkswirtschaft Europas. Die Botschaft funktioniere
mittlerweile wie eine Art Schleuse zwischen der Bundesrepublik und dem
afrikanischen Kontinent, durch die schwarzafrikanische Flüchtlinge im
Schnellverfahren hinausbefördert werden, sagt Osa.

Abseits der zweifelhaften Verfahren der Identitätsfeststellung stellt
sich die Frage, ob es vertretbar ist, ausgerechnet Nigeria zu einem der
wichtigsten Abschiebungsziele Afrikas zu machen. Im Jahr 2012 wurde eine
Absichtserklärung zwischen Deutschland und Nigeria unterzeichnet, welche
den Ablauf der Anhörungen festlegt und den gemeinsamen Willen zur
Zusammenarbeit bekräftigt. Auch Frontex lobt die enge Kooperation mit
Nigeria, es gibt ein Arbeitsvertrag gegen „illegale Migration“.

Dabei ist die Lage in dem afrikanischen Land instabil. Seit Ende 2010
verübt die islamistische Miliz Boko Haram regelmäßig Anschläge auf die
Bevölkerung. Auch den staatlichen Sicherheitskräften werden schwere
Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen, brutale Misshandlungen und
Folter vorgeworfen. Die Botschaft der Republik Nigeria möchte auch auf
wiederholte Anfrage keine Stellung beziehen.

Koroma hat Nigeria mittlerweile verlassen und ist zurück nach Sierra
Leone gegangen. Als er 2013 in ein fremdes Land abgeschoben wurde, ohne
Geld, wollte er schnellstmöglich weg. Freunde, ebenfalls Flüchtlinge,
sammelten von Deutschland aus Spenden, damit er sich ein Flugticket in
sein Heimatland besorgen konnte. Am Telefon berichtet Koroma heute von
seiner schwierigen Lage. Er lebe unter ständiger Angst. Sein
Rechtsanwalt hat alles versucht, ihn nach Deutschland zurückzuholen –
ohne Erfolg. Die Akte ist geschlossen.

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