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Donnerstag, 6. Februar 2025
Die fünf Punkte von Merz in der politikwissenschaftlichen Analyse
che2001, 15:51h
Wie gut verträglich ist die 5-Punke-Pille von Friedrich Merz - und welche Nebenwirkungen könnte sie haben? In seiner anliegenden Analyse untersucht der Migrationsforscher Hannes Schammann (UNI Hildesheim), ohne vorschnelle moralische Bewertungen abzugeben, nüchtern die Folgen und Nebenwirkungen einer Umsetzung der Pläne des CDU-Kanzlerkandidaten. Das Essay erschien unter der Überschrift "Die blinden Flecke des Fünf-Punkte-Plans" am 30. Januar in der Süddeutschen Zeitung.
In einem ergänzenden Interview des Bayerischen Rundfunks mit Hannes Schammann erläutert der Autor, dass und warum sich Verantwortlichen über die (ggfs. auch unbeabsichtigten) Folgen ihrer Migrationspolitik mehr Gedanken machen müssen, gerade wenn es um Menschenrechte geht.
Aus: Süddeutsche Zeitung (Online-Version vom 30. Januar 2025; in der Printausgabe vom 1.
Februar 2025, Seite 41 mit dem Titel „Bittere Pillen“)
Die blinden Flecke des Fünf-Punkte-Plans
Deutschland krankt an seiner Migrationspolitik, sagen viele. Doch wie wirksam ist die Sofort-Medizin der Union und welche Nebenwirkungen könnte sie haben? Analyse eines Migrationsforschers.
Ein Gastbeitrag von Hannes Schammann
Wahlkampf in der Erkältungssaison, und alle sagen: Deutschland krankt an seiner Migrationspolitik. Mit schwerem Verlauf. Auf der Suche nach der richtigen Medizin wird hektisch im Arzneischrank gewühlt, Beipackzettel mit Nebenwirkungen werden ignoriert. Weil aber nichts so richtig helfen will, soll neue Medizin her: Politikwechsel, 27 Sofortmaßnahmen, fünf Punkte –
möglichst einfach, möglichst hart, möglichst schnell.
Nun sind politische Maßnahmen keine Medizin, Migration ist keine Krankheit. Doch es verwundert, wie unterschiedlich wir als Gesellschaft in beiden Fällen handeln. Ein neues Medikament braucht Jahre in der Entwicklung. Wir erwarten, dass es gründlich darauf getestet wird, ob es überhaupt gegen die Ursachen oder zumindest die Symptome hilft. Wir wollen wissen,
ob unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Das aufwändige Zulassungsverfahren für SarsCov2-Impfstoffe ist uns noch in leidvoller Erinnerung. Aber selbst in einer Pandemie, unter extremem öffentlichem Druck und großer Polarisierung war beim Impfstoff unstrittig: Es muss Zeit sein für ein Mindestmaß an Sorgfalt. Und jetzt? In der atemlosen igrationsdebatte scheint ein nüchterner Blick auf die Potenziale, auf Risiken und Nebenwirkungen neuer politischer
Programme verzichtbar. Dabei geht es doch, sagen alle, um unsere Demokratie.
Wir Migrationsforschende können im Gegensatz zu unseren naturwissenschaftlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen politische Medikamente nicht unter immer gleichen Bedingungen im Labor testen. Doch wir können auf Basis empirischer Daten und theoretischer Modelle abschätzen, ob eine Maßnahme umsetzbar ist und ob sie überhaupt wirksam sein kann. Wir können die Vorschläge bis zum Ende durchdenken und auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen. Keine Sorge: Das dauert nicht so lange wie das Zulassungsverfahren bei Impfstoffen. Ich versuche es bei Merz‘ Fünf-Punkte-Pille in acht Minuten Lesezeit.
Rechtlich widersprechen die Maßnahmen dem Grundgesetz. Doch das muss kein Hindernis sein.
Zunächst zu den beiden Vorschlägen dauerhafter Grenzkontrollen und der Zurückweisung aller
Menschen ohne Visum. Funktioniert das? Getreu dem rechtskonservativen Motto „Politik vor Recht“ kann Deutschland selbstverständlich den Artikel 16a aus dem Grundgesetz streichen, aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen
Menschenrechtskonvention austreten und europäisches Recht ignorieren. Mit welchen Konsequenzen?
Die europäische Freizügigkeit entstand als Nebenfolge der Zollunion. Wo Waren wanderten, wanderten irgendwann auch Menschen. Umgekehrt gilt aber auch: Wo keine Menschen mehr wandern, haben es auch Waren schwerer. Auch jenseits der Wirtschaftspolitik würde der Multilateralismus weiter in sich zusammenfallen und Platz machen für ein aufgeregtes
„Dealmaking“ Trump’scher Prägung. Da kann man bedauernd mit den Schultern zucken: So ist
die Welt heute eben. Doch es würde migrationspolitisch durchaus Sinn machen, internationales
Recht zu stärken, gerade wenn man Flüchtlingszahlen drücken will. Die Konzentration auf kurzfristige Deals sorgt nämlich für eine weniger verlässliche Welt. Das Risiko für Krisen steigt – und damit potenziell auch die Zahl der Schutzsuchenden vor unseren vielleicht gar nicht so fest verschließbaren Toren.
Wir müssen uns eingestehen, dass einer Handvoll bewachter Grenzübergänge fast 4.000
Kilometer grüne Grenze gegenüberstehen. Die Ozeane Australiens können wir nicht importieren,
eine Mauer nach US-amerikanischem Vorbild kostet mehr als sie nützt. Und selbst wenn doch
etwas weniger Menschen nach Deutschland kämen, droht ein Anstieg der irregulär Aufhältigen im
Land. Warum? Statistisch wird Migration bereits als irregulär bezeichnet, wenn eine Person direkt
nach dem Grenzübertritt einen Asylantrag stellt. Dann ist sie aber immerhin registriert, legalisiert,
kann versorgt und gegebenenfalls auch wieder abgeschoben werden.
Die vorgeschlagene Abweisung aller ohne gültige Einreisedokumente könnte dazu führen, dass
Menschen über zunehmende Schleuserkriminalität irregulär nach Deutschland einreisen, sich
dann aber nicht bei den Behörden melden. Damit wird Irregularität zum Dauerzustand, Schattenwirtschaft floriert, Staatsversagen droht in zahlreichen Bereichen – vom Arbeitsmarkt über das Bildungs- bis zum Sozialsystem. Steuerungswahn führt dann zu Steuerungsverlust.
Legale Zugangswege müssen mitgedacht werden, als eine Art Ventil für Migrationsdruck und Humanität
Um dem die Spitze zu nehmen, müssten in den geplanten Vorhaben legale Zugangswege
mitgedacht werden, als eine Art Ventil für Migrationsdruck und Humanität. Selbst Australien
macht das so. Und die haben ja zwei Ozeane. Mit Weißen Haien.
Nächster Punkt: Wie steht es mit dem Vorhaben, täglich Abschiebungen durchzuführen – in enger
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen? In der Kluft zwischen Ausreisepflichtigen
und den tatsächlich Ausgereisten sehen viele das Problem. Ende des Jahres 2023 waren rund
240.000 Menschen ausreisepflichtig. Ende 2024 nur noch rund 220.000, obwohl ja immer auch
neue Menschen dazu kommen. Lag das an der Abschiebungsoffensive der Ampel? Nur
eingeschränkt. Zwar konnten die Abschiebungen um rund 20 Prozent auf wohl etwa 19.000
Personen gesteigert werden. Aber den größten Beitrag zur Absenkung der Zahlen leistete das
sogenannte Chancenaufenthaltsrecht: 50.000 Personen konnten nachweisen, dass sie das Zeug
dazu haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und wurden mit einem befristeten
Aufenthaltstitel ausgestattet. Den Chancenaufenthalt will die Union nun abschaffen, damit sich
Menschen ihrer Ausreisepflicht nicht entziehen. Kann man machen.
Der Wunsch nach weniger Migration und der Wunsch nach Arbeitskräften existieren keineswegs
harmonisch nebeneinander. Wir müssen uns häufig entscheiden, was uns wichtiger ist. Auch
beim Blick auf die Umsetzung von Abschiebungen. Um diese zu erhöhen, müssen Behörden ihre
ohnehin zu knappen Ressourcen von anderen Bereichen abziehen. Als die Länder beispielsweise
im vergangenen Jahr die Bezahlkarte für Asylbewerberleistungen vorbereiten sollten, mussten
das meist dieselben Ministerialbeamten organisieren, die für die Verteilung von Geflüchteten
zuständig waren. Mit dem Ergebnis, dass sie weniger gut dafür sorgen konnten, dass
Schutzsuchende passgenau und kosteneffizient zugewiesen werden.
Mehr Abschiebungen zu verordnen kann nun beispielsweise bedeuten, dass weniger Personal da
ist für Fachkräftevisa oder Einbürgerungen. Auch langsamere Asylverfahren könnten drohen,
wenn der Bund migrationsrechtlich geschultes Personal für Abschiebungen abziehen würde. Die
Unterstützung des Bundes bei Abschiebungen ist gut gemeint. Ländern und Kommunen würde es
aber vermutlich mehr helfen, wenn der Bund sich auf schnelle Asylverfahren konzentrierte.
Deutschland hat schon einmal die Integration im Abschottungstaumel
vergessen
Überhaupt: Was wünschen sich denn die Kommunen? Zumindest die Verwaltungsfachleute in
unseren eigenen Studien haben eher pragmatische Wünsche. Sie sehnen sich beispielsweise
nach einer gesicherten Finanzierung ihrer Koordinierungs- oder Beratungsstellen. Ein Großteil der
Integrationsarbeit ist nämlich nicht dauerhaft, sondern über befristete Haushaltstitel finanziert.
In Haushaltsdebatten wird daher um jeden Cent gerungen. In Zeiten knapper Kassen und
steigender Migrationsfeindlichkeit befürchten viele den Kahlschlag. Sie warnen vor eklatanten
Folgen für Integrationsprozesse und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In die fünf Punkte
von Friedrich Merz haben sie es damit nicht geschafft.
Deutschland hat schon einmal die Integration im Abschottungstaumel vergessen. Ausgelöst
durch die Ölpreiskrise wurde 1973 der Anwerbestopp für Gastarbeiter mit großem Tamtam
verkündet - mit mäßigem Erfolg. Die Menschen blieben und holten ihre Familien nach.
Integrationskurse des Bundes gab es aber erst sage und schreibe 32 Jahre später, im Jahr 2005.
Die Konzentration der Unionsmaßnahmen auf die 220.000 Ausreisepflichtigen mag aus
wahltaktischen Gründen nachvollziehbar sein. Angesichts der etwas mehr als drei Millionen
Schutzsuchenden, die bereits legal hier sind, verwundert sie allerdings. Nicht zu vergessen sind
zahlreiche andere Migrationsgruppen, Studierende, Fachkräfte oder deren Kinder. Bei ihnen allen
sorgen die aktuellen Debatten für Verunsicherung – und wo Unsicherheit und Ungewissheit
herrschen, geht es langsamer mit der Integration. Eine Binsenweisheit der Migrationsforschung.
Wie also möchte die Union Teilhabe am Arbeitsmarkt, in der Bildung, im sozialen Leben
erreichen? Wie will sie aus den Zugewanderten Deutsche machen? Und was ist eigentlich mit
unserem Fachkräfteproblem? Wie will sie diejenigen halten, die wir brauchen, die aber angesichts
der rhetorischen Aufrüstung keine Lust mehr auf Deutschland haben? Wir erfahren wenig
darüber.
Friedrich Merz bloßen Opportunismus zu unterstellen, würde ihm unrecht tun
Mit dem Fokus auf Zuwanderungsbegrenzung reagiert die CDU auf den vermeintlichen
Wählerwillen. Friedrich Merz aber bloßen Opportunismus zu unterstellen, würde ihm unrecht tun.
Der Säulenheilige konservativer Theorie, Carl Schmitt, hatte einst in Abgrenzung zur liberalen
Demokratietheorie formuliert: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, dass sie das
Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“
Pluralität ist aus dieser Perspektive eine Gefahr für die Demokratie. Wenn Friedrich Merz daher
Zuwanderung, doppelte Staatsbürgerschaft und Einbürgerung skeptisch sieht, dann geschieht
dies vermutlich auch aus Sorge um die Demokratie. Merz war es übrigens auch, der im Jahr 2000
den glücklosen Begriff der Leitkultur aus der wissenschaftlichen Debatte in die Politik überführte.
Tino Chrupalla hat vielleicht nicht ganz das Format von Carl Schmitt, dürfte dessen Dogmen
jedoch kennen. Er verwies diese Woche erfreut darauf, dass die AfD schon lange die Positionen
vertrete, die Merz nun verkünde. Es tritt an: Original gegen Kopie. Wer auf den Ausgang dieses
Rennens wetten will: Parteienforscher sehen immer das Original im Vorteil.
Doch zurück zu den konkreten Vorschlägen. Alle vollziehbar Ausreisepflichtigen in Haft nehmen.
Ist das wirksam und machbar? Zur Umsetzung eines solchen Plans müssten nicht nur Rechte
eingeschränkt, sondern auch große Lager gebaut und das Vollzugssystem entsprechend
ausgestattet werden. Dazu scheint die Union bereit. Wenn die Gerichte mitspielen, ist es
durchaus vorstellbar, dass mit großem personellem und finanziellem Aufwand ein paar Charter-
Maschinen mehr nach Afghanistan abheben.
In der Umsetzung stellen sich allerdings einige unbequeme Fragen, zum Beispiel: Was passiert
mit Familien? Kommen die auch in den Knast? Für wie lange? Gibt es eine Gefängnisschule?
Für Kinder und Migrantinnen scheinen Merz‘ Medikamente nicht gedacht
Apropos Familien, es fällt auf, dass sich die Punkte und Sofortmaßnahmen in der Migrationspolitik
oft an einer stereotypen Karikatur orientieren: dem jungen, allein reisenden muslimischen Mann
ohne Schutzbedarf, dafür mit gehörigem Aggressionsproblem. Was machen wir mit der
alleinerziehenden Mutter, ihren drei Kindern und der Oma? Für Kinder und Migrantinnen scheinen
Merz‘ Medikamente nicht gedacht. Ist das Absicht oder Schludrigkeit?
Fünfter Punkt auf der Zutatenliste der Merz-Pille: der Ausreisearrest für Straftäter und Gefährder.
Letztere sind Personen, bei denen die Sicherheitsbehörden ein hohes terroristisches Potenzial
vermuten. Sie sind ausreisepflichtig, können aber – beispielsweise wegen Staatenlosigkeit – nicht
abgeschoben werden. Das ist natürlich ein Problem. Doch was, wenn die Abschiebung mittel- bis
langfristig unmöglich wäre? Lebenslange Sicherheitsverwahrung ohne Tat und ohne Urteil?
Menschenrechtlich eigentlich undenkbar. Also bei guter Führung Hausarrest mit Fußfessel? Auch
schwierig, denn wer sich das Küchenmesser schnappt und zum Supermarkt um die Ecke
aufbricht, den kümmert wahrscheinlich eine Fußfessel wenig. Aber das ist natürlich nur
Spekulation. Also doch besser Programme zur Deradikalisierung?
Die Migrationspolitik mag schmerzen, aber ist sie auch die alleinige Ursache
unseres Unwohlseins?
Im beschleunigten Zulassungsverfahren der Fünf-Punkte-Pille bestehen in der Summe erhebliche
Zweifel an der Wirksamkeit. Schwere Nebenwirkungen sind absehbar. Doch selbst wenn die
Forschung unrecht hätte und die durch die Bundestagsmehrheit geforderten Maßnahmen
nebenwirkungsfrei blieben und ihren Zweck erfüllten, muss noch eine Frage erlaubt sein: Die
Migrationspolitik mag schmerzen, aber ist sie auch die alleinige Ursache unseres Unwohlseins?
Die Unterbringung Geflüchteter wird vor allem dann zum Problem, wenn die Menschen aus der
kommunalen Sammelunterkunft in ganz normalen Wohnraum vermittelt werden. Dort treffen sie
auf einen Wohnungsmarkt, dessen Dysfunktionalität vermutlich ohne Zuwanderung viel mehr
skandalisiert würde. Doch die Empörung richtet sich gegen die Migranten, die alle Wohnungen
wegschnappen würden. Die Schwierigkeiten bei der Beschulung zugewanderter Kinder könnten
als Ausdruck dafür gelesen werden, dass unser ganzes Bildungssystems konzeptionell und
personell hilfebedürftig ist. Doch lieber behandeln wir schlechte PISA-Ergebnisse als importiertes
Problem. Die fehlende psychosoziale Begleitung traumatisierter Schutzsuchender könnte den
Finger in die Wunde eines schwächelnden Gesundheitssystems legen. Doch die vorschnelle
Forderung nach Abschiebung lässt die Frage nach den Wartezeiten für Therapieplätze gar nicht
erst zu.
Der Verweis auf Zugewanderte lenkt uns ab von den großen sozialen Fragen
unserer Zeit
Wenn wir wirklich glauben, wir könnten all unsere strukturellen Herausforderungen durch
Migrationspolitik lösen, ist uns nicht mehr zu helfen. Der Verweis auf Zugewanderte lenkt uns ab
von den großen sozialen Fragen unserer Zeit. Aber vielleicht wollen wir uns ja selbst im Glauben
wiegen, alles würde gut, wenn wir nur die „Mutter aller Probleme“, wie der ehemalige
Bundesinnenminister Horst Seehofer die Migrationsfrage einst nannte, lösten. Und wenn eine
simpel gestrickte Sofortmaßnahme wieder nicht klappt, können wir weiter träumen, dass mit der
nächsten Maßnahme all die Krisen endlich kleiner würden.
Vom immer neuen Scheitern einer unterkomplexen Migrationspolitik profitieren natürlich vor
allem diejenigen, die das politische System sowieso auf den Kopf stellen wollen. Hält Politik nicht,
was sie verspricht, ist das für sie der Beweis, dass mehr Ordnung nur in einem anderen,
autoritären Staat möglich sei. Das ist zwar, wie die Migrationsforschung inzwischen weiß, zu kurz
gedacht. Denn auch autoritäre Staaten bekommen ihre Grenzen nicht ganz dicht. Doch erstmal
bleibt haften: Die Demokratie kann es nicht.
Zweifellos ist eine kluge Migrationspolitik innenpolitisch wichtig, um unsere Gesellschaft
zukunftsfähig aufzustellen, um Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken und Vielfalt zu
moderieren. Außenpolitisch leistet eine verantwortungsvolle, multilateral ausgerichtete
Migrationspolitik einen Beitrag, um Frieden zu sichern: Sie knüpft Bande zwischen
Gesellschaften, sie mildert globale Ungleichheit. Aber gegen viele gesellschaftliche und
staatliche Krankheiten unserer Zeit hilft Migrationspolitik eben nicht. Manche kann sie sogar
schlimmer machen. Selbst als Placebo.
Hannes Schammann ist Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Er ist
Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration.
Text: Hannes Schammann; Redaktion: Ann-Kathrin Eckardt; Digitales Design: Christian
Tönsman
https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/migration-fuenf-punkte-plan-analyse-e656180/?reduced=true
In einem ergänzenden Interview des Bayerischen Rundfunks mit Hannes Schammann erläutert der Autor, dass und warum sich Verantwortlichen über die (ggfs. auch unbeabsichtigten) Folgen ihrer Migrationspolitik mehr Gedanken machen müssen, gerade wenn es um Menschenrechte geht.
Aus: Süddeutsche Zeitung (Online-Version vom 30. Januar 2025; in der Printausgabe vom 1.
Februar 2025, Seite 41 mit dem Titel „Bittere Pillen“)
Die blinden Flecke des Fünf-Punkte-Plans
Deutschland krankt an seiner Migrationspolitik, sagen viele. Doch wie wirksam ist die Sofort-Medizin der Union und welche Nebenwirkungen könnte sie haben? Analyse eines Migrationsforschers.
Ein Gastbeitrag von Hannes Schammann
Wahlkampf in der Erkältungssaison, und alle sagen: Deutschland krankt an seiner Migrationspolitik. Mit schwerem Verlauf. Auf der Suche nach der richtigen Medizin wird hektisch im Arzneischrank gewühlt, Beipackzettel mit Nebenwirkungen werden ignoriert. Weil aber nichts so richtig helfen will, soll neue Medizin her: Politikwechsel, 27 Sofortmaßnahmen, fünf Punkte –
möglichst einfach, möglichst hart, möglichst schnell.
Nun sind politische Maßnahmen keine Medizin, Migration ist keine Krankheit. Doch es verwundert, wie unterschiedlich wir als Gesellschaft in beiden Fällen handeln. Ein neues Medikament braucht Jahre in der Entwicklung. Wir erwarten, dass es gründlich darauf getestet wird, ob es überhaupt gegen die Ursachen oder zumindest die Symptome hilft. Wir wollen wissen,
ob unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Das aufwändige Zulassungsverfahren für SarsCov2-Impfstoffe ist uns noch in leidvoller Erinnerung. Aber selbst in einer Pandemie, unter extremem öffentlichem Druck und großer Polarisierung war beim Impfstoff unstrittig: Es muss Zeit sein für ein Mindestmaß an Sorgfalt. Und jetzt? In der atemlosen igrationsdebatte scheint ein nüchterner Blick auf die Potenziale, auf Risiken und Nebenwirkungen neuer politischer
Programme verzichtbar. Dabei geht es doch, sagen alle, um unsere Demokratie.
Wir Migrationsforschende können im Gegensatz zu unseren naturwissenschaftlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen politische Medikamente nicht unter immer gleichen Bedingungen im Labor testen. Doch wir können auf Basis empirischer Daten und theoretischer Modelle abschätzen, ob eine Maßnahme umsetzbar ist und ob sie überhaupt wirksam sein kann. Wir können die Vorschläge bis zum Ende durchdenken und auf mögliche Nebenwirkungen hinweisen. Keine Sorge: Das dauert nicht so lange wie das Zulassungsverfahren bei Impfstoffen. Ich versuche es bei Merz‘ Fünf-Punkte-Pille in acht Minuten Lesezeit.
Rechtlich widersprechen die Maßnahmen dem Grundgesetz. Doch das muss kein Hindernis sein.
Zunächst zu den beiden Vorschlägen dauerhafter Grenzkontrollen und der Zurückweisung aller
Menschen ohne Visum. Funktioniert das? Getreu dem rechtskonservativen Motto „Politik vor Recht“ kann Deutschland selbstverständlich den Artikel 16a aus dem Grundgesetz streichen, aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen
Menschenrechtskonvention austreten und europäisches Recht ignorieren. Mit welchen Konsequenzen?
Die europäische Freizügigkeit entstand als Nebenfolge der Zollunion. Wo Waren wanderten, wanderten irgendwann auch Menschen. Umgekehrt gilt aber auch: Wo keine Menschen mehr wandern, haben es auch Waren schwerer. Auch jenseits der Wirtschaftspolitik würde der Multilateralismus weiter in sich zusammenfallen und Platz machen für ein aufgeregtes
„Dealmaking“ Trump’scher Prägung. Da kann man bedauernd mit den Schultern zucken: So ist
die Welt heute eben. Doch es würde migrationspolitisch durchaus Sinn machen, internationales
Recht zu stärken, gerade wenn man Flüchtlingszahlen drücken will. Die Konzentration auf kurzfristige Deals sorgt nämlich für eine weniger verlässliche Welt. Das Risiko für Krisen steigt – und damit potenziell auch die Zahl der Schutzsuchenden vor unseren vielleicht gar nicht so fest verschließbaren Toren.
Wir müssen uns eingestehen, dass einer Handvoll bewachter Grenzübergänge fast 4.000
Kilometer grüne Grenze gegenüberstehen. Die Ozeane Australiens können wir nicht importieren,
eine Mauer nach US-amerikanischem Vorbild kostet mehr als sie nützt. Und selbst wenn doch
etwas weniger Menschen nach Deutschland kämen, droht ein Anstieg der irregulär Aufhältigen im
Land. Warum? Statistisch wird Migration bereits als irregulär bezeichnet, wenn eine Person direkt
nach dem Grenzübertritt einen Asylantrag stellt. Dann ist sie aber immerhin registriert, legalisiert,
kann versorgt und gegebenenfalls auch wieder abgeschoben werden.
Die vorgeschlagene Abweisung aller ohne gültige Einreisedokumente könnte dazu führen, dass
Menschen über zunehmende Schleuserkriminalität irregulär nach Deutschland einreisen, sich
dann aber nicht bei den Behörden melden. Damit wird Irregularität zum Dauerzustand, Schattenwirtschaft floriert, Staatsversagen droht in zahlreichen Bereichen – vom Arbeitsmarkt über das Bildungs- bis zum Sozialsystem. Steuerungswahn führt dann zu Steuerungsverlust.
Legale Zugangswege müssen mitgedacht werden, als eine Art Ventil für Migrationsdruck und Humanität
Um dem die Spitze zu nehmen, müssten in den geplanten Vorhaben legale Zugangswege
mitgedacht werden, als eine Art Ventil für Migrationsdruck und Humanität. Selbst Australien
macht das so. Und die haben ja zwei Ozeane. Mit Weißen Haien.
Nächster Punkt: Wie steht es mit dem Vorhaben, täglich Abschiebungen durchzuführen – in enger
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen? In der Kluft zwischen Ausreisepflichtigen
und den tatsächlich Ausgereisten sehen viele das Problem. Ende des Jahres 2023 waren rund
240.000 Menschen ausreisepflichtig. Ende 2024 nur noch rund 220.000, obwohl ja immer auch
neue Menschen dazu kommen. Lag das an der Abschiebungsoffensive der Ampel? Nur
eingeschränkt. Zwar konnten die Abschiebungen um rund 20 Prozent auf wohl etwa 19.000
Personen gesteigert werden. Aber den größten Beitrag zur Absenkung der Zahlen leistete das
sogenannte Chancenaufenthaltsrecht: 50.000 Personen konnten nachweisen, dass sie das Zeug
dazu haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen und wurden mit einem befristeten
Aufenthaltstitel ausgestattet. Den Chancenaufenthalt will die Union nun abschaffen, damit sich
Menschen ihrer Ausreisepflicht nicht entziehen. Kann man machen.
Der Wunsch nach weniger Migration und der Wunsch nach Arbeitskräften existieren keineswegs
harmonisch nebeneinander. Wir müssen uns häufig entscheiden, was uns wichtiger ist. Auch
beim Blick auf die Umsetzung von Abschiebungen. Um diese zu erhöhen, müssen Behörden ihre
ohnehin zu knappen Ressourcen von anderen Bereichen abziehen. Als die Länder beispielsweise
im vergangenen Jahr die Bezahlkarte für Asylbewerberleistungen vorbereiten sollten, mussten
das meist dieselben Ministerialbeamten organisieren, die für die Verteilung von Geflüchteten
zuständig waren. Mit dem Ergebnis, dass sie weniger gut dafür sorgen konnten, dass
Schutzsuchende passgenau und kosteneffizient zugewiesen werden.
Mehr Abschiebungen zu verordnen kann nun beispielsweise bedeuten, dass weniger Personal da
ist für Fachkräftevisa oder Einbürgerungen. Auch langsamere Asylverfahren könnten drohen,
wenn der Bund migrationsrechtlich geschultes Personal für Abschiebungen abziehen würde. Die
Unterstützung des Bundes bei Abschiebungen ist gut gemeint. Ländern und Kommunen würde es
aber vermutlich mehr helfen, wenn der Bund sich auf schnelle Asylverfahren konzentrierte.
Deutschland hat schon einmal die Integration im Abschottungstaumel
vergessen
Überhaupt: Was wünschen sich denn die Kommunen? Zumindest die Verwaltungsfachleute in
unseren eigenen Studien haben eher pragmatische Wünsche. Sie sehnen sich beispielsweise
nach einer gesicherten Finanzierung ihrer Koordinierungs- oder Beratungsstellen. Ein Großteil der
Integrationsarbeit ist nämlich nicht dauerhaft, sondern über befristete Haushaltstitel finanziert.
In Haushaltsdebatten wird daher um jeden Cent gerungen. In Zeiten knapper Kassen und
steigender Migrationsfeindlichkeit befürchten viele den Kahlschlag. Sie warnen vor eklatanten
Folgen für Integrationsprozesse und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In die fünf Punkte
von Friedrich Merz haben sie es damit nicht geschafft.
Deutschland hat schon einmal die Integration im Abschottungstaumel vergessen. Ausgelöst
durch die Ölpreiskrise wurde 1973 der Anwerbestopp für Gastarbeiter mit großem Tamtam
verkündet - mit mäßigem Erfolg. Die Menschen blieben und holten ihre Familien nach.
Integrationskurse des Bundes gab es aber erst sage und schreibe 32 Jahre später, im Jahr 2005.
Die Konzentration der Unionsmaßnahmen auf die 220.000 Ausreisepflichtigen mag aus
wahltaktischen Gründen nachvollziehbar sein. Angesichts der etwas mehr als drei Millionen
Schutzsuchenden, die bereits legal hier sind, verwundert sie allerdings. Nicht zu vergessen sind
zahlreiche andere Migrationsgruppen, Studierende, Fachkräfte oder deren Kinder. Bei ihnen allen
sorgen die aktuellen Debatten für Verunsicherung – und wo Unsicherheit und Ungewissheit
herrschen, geht es langsamer mit der Integration. Eine Binsenweisheit der Migrationsforschung.
Wie also möchte die Union Teilhabe am Arbeitsmarkt, in der Bildung, im sozialen Leben
erreichen? Wie will sie aus den Zugewanderten Deutsche machen? Und was ist eigentlich mit
unserem Fachkräfteproblem? Wie will sie diejenigen halten, die wir brauchen, die aber angesichts
der rhetorischen Aufrüstung keine Lust mehr auf Deutschland haben? Wir erfahren wenig
darüber.
Friedrich Merz bloßen Opportunismus zu unterstellen, würde ihm unrecht tun
Mit dem Fokus auf Zuwanderungsbegrenzung reagiert die CDU auf den vermeintlichen
Wählerwillen. Friedrich Merz aber bloßen Opportunismus zu unterstellen, würde ihm unrecht tun.
Der Säulenheilige konservativer Theorie, Carl Schmitt, hatte einst in Abgrenzung zur liberalen
Demokratietheorie formuliert: „Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, dass sie das
Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß.“
Pluralität ist aus dieser Perspektive eine Gefahr für die Demokratie. Wenn Friedrich Merz daher
Zuwanderung, doppelte Staatsbürgerschaft und Einbürgerung skeptisch sieht, dann geschieht
dies vermutlich auch aus Sorge um die Demokratie. Merz war es übrigens auch, der im Jahr 2000
den glücklosen Begriff der Leitkultur aus der wissenschaftlichen Debatte in die Politik überführte.
Tino Chrupalla hat vielleicht nicht ganz das Format von Carl Schmitt, dürfte dessen Dogmen
jedoch kennen. Er verwies diese Woche erfreut darauf, dass die AfD schon lange die Positionen
vertrete, die Merz nun verkünde. Es tritt an: Original gegen Kopie. Wer auf den Ausgang dieses
Rennens wetten will: Parteienforscher sehen immer das Original im Vorteil.
Doch zurück zu den konkreten Vorschlägen. Alle vollziehbar Ausreisepflichtigen in Haft nehmen.
Ist das wirksam und machbar? Zur Umsetzung eines solchen Plans müssten nicht nur Rechte
eingeschränkt, sondern auch große Lager gebaut und das Vollzugssystem entsprechend
ausgestattet werden. Dazu scheint die Union bereit. Wenn die Gerichte mitspielen, ist es
durchaus vorstellbar, dass mit großem personellem und finanziellem Aufwand ein paar Charter-
Maschinen mehr nach Afghanistan abheben.
In der Umsetzung stellen sich allerdings einige unbequeme Fragen, zum Beispiel: Was passiert
mit Familien? Kommen die auch in den Knast? Für wie lange? Gibt es eine Gefängnisschule?
Für Kinder und Migrantinnen scheinen Merz‘ Medikamente nicht gedacht
Apropos Familien, es fällt auf, dass sich die Punkte und Sofortmaßnahmen in der Migrationspolitik
oft an einer stereotypen Karikatur orientieren: dem jungen, allein reisenden muslimischen Mann
ohne Schutzbedarf, dafür mit gehörigem Aggressionsproblem. Was machen wir mit der
alleinerziehenden Mutter, ihren drei Kindern und der Oma? Für Kinder und Migrantinnen scheinen
Merz‘ Medikamente nicht gedacht. Ist das Absicht oder Schludrigkeit?
Fünfter Punkt auf der Zutatenliste der Merz-Pille: der Ausreisearrest für Straftäter und Gefährder.
Letztere sind Personen, bei denen die Sicherheitsbehörden ein hohes terroristisches Potenzial
vermuten. Sie sind ausreisepflichtig, können aber – beispielsweise wegen Staatenlosigkeit – nicht
abgeschoben werden. Das ist natürlich ein Problem. Doch was, wenn die Abschiebung mittel- bis
langfristig unmöglich wäre? Lebenslange Sicherheitsverwahrung ohne Tat und ohne Urteil?
Menschenrechtlich eigentlich undenkbar. Also bei guter Führung Hausarrest mit Fußfessel? Auch
schwierig, denn wer sich das Küchenmesser schnappt und zum Supermarkt um die Ecke
aufbricht, den kümmert wahrscheinlich eine Fußfessel wenig. Aber das ist natürlich nur
Spekulation. Also doch besser Programme zur Deradikalisierung?
Die Migrationspolitik mag schmerzen, aber ist sie auch die alleinige Ursache
unseres Unwohlseins?
Im beschleunigten Zulassungsverfahren der Fünf-Punkte-Pille bestehen in der Summe erhebliche
Zweifel an der Wirksamkeit. Schwere Nebenwirkungen sind absehbar. Doch selbst wenn die
Forschung unrecht hätte und die durch die Bundestagsmehrheit geforderten Maßnahmen
nebenwirkungsfrei blieben und ihren Zweck erfüllten, muss noch eine Frage erlaubt sein: Die
Migrationspolitik mag schmerzen, aber ist sie auch die alleinige Ursache unseres Unwohlseins?
Die Unterbringung Geflüchteter wird vor allem dann zum Problem, wenn die Menschen aus der
kommunalen Sammelunterkunft in ganz normalen Wohnraum vermittelt werden. Dort treffen sie
auf einen Wohnungsmarkt, dessen Dysfunktionalität vermutlich ohne Zuwanderung viel mehr
skandalisiert würde. Doch die Empörung richtet sich gegen die Migranten, die alle Wohnungen
wegschnappen würden. Die Schwierigkeiten bei der Beschulung zugewanderter Kinder könnten
als Ausdruck dafür gelesen werden, dass unser ganzes Bildungssystems konzeptionell und
personell hilfebedürftig ist. Doch lieber behandeln wir schlechte PISA-Ergebnisse als importiertes
Problem. Die fehlende psychosoziale Begleitung traumatisierter Schutzsuchender könnte den
Finger in die Wunde eines schwächelnden Gesundheitssystems legen. Doch die vorschnelle
Forderung nach Abschiebung lässt die Frage nach den Wartezeiten für Therapieplätze gar nicht
erst zu.
Der Verweis auf Zugewanderte lenkt uns ab von den großen sozialen Fragen
unserer Zeit
Wenn wir wirklich glauben, wir könnten all unsere strukturellen Herausforderungen durch
Migrationspolitik lösen, ist uns nicht mehr zu helfen. Der Verweis auf Zugewanderte lenkt uns ab
von den großen sozialen Fragen unserer Zeit. Aber vielleicht wollen wir uns ja selbst im Glauben
wiegen, alles würde gut, wenn wir nur die „Mutter aller Probleme“, wie der ehemalige
Bundesinnenminister Horst Seehofer die Migrationsfrage einst nannte, lösten. Und wenn eine
simpel gestrickte Sofortmaßnahme wieder nicht klappt, können wir weiter träumen, dass mit der
nächsten Maßnahme all die Krisen endlich kleiner würden.
Vom immer neuen Scheitern einer unterkomplexen Migrationspolitik profitieren natürlich vor
allem diejenigen, die das politische System sowieso auf den Kopf stellen wollen. Hält Politik nicht,
was sie verspricht, ist das für sie der Beweis, dass mehr Ordnung nur in einem anderen,
autoritären Staat möglich sei. Das ist zwar, wie die Migrationsforschung inzwischen weiß, zu kurz
gedacht. Denn auch autoritäre Staaten bekommen ihre Grenzen nicht ganz dicht. Doch erstmal
bleibt haften: Die Demokratie kann es nicht.
Zweifellos ist eine kluge Migrationspolitik innenpolitisch wichtig, um unsere Gesellschaft
zukunftsfähig aufzustellen, um Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken und Vielfalt zu
moderieren. Außenpolitisch leistet eine verantwortungsvolle, multilateral ausgerichtete
Migrationspolitik einen Beitrag, um Frieden zu sichern: Sie knüpft Bande zwischen
Gesellschaften, sie mildert globale Ungleichheit. Aber gegen viele gesellschaftliche und
staatliche Krankheiten unserer Zeit hilft Migrationspolitik eben nicht. Manche kann sie sogar
schlimmer machen. Selbst als Placebo.
Hannes Schammann ist Professor für Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Er ist
Mitglied im Sachverständigenrat für Integration und Migration.
Text: Hannes Schammann; Redaktion: Ann-Kathrin Eckardt; Digitales Design: Christian
Tönsman
https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesellschaft/migration-fuenf-punkte-plan-analyse-e656180/?reduced=true
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