Donnerstag, 6. November 2025
Einen Trip schmeißen als Therapie - Deutschland folgt dem Schweizer Vorbild
Es geht da weiter wo Albert Hofmann vor 65 Jahren gestoppt wurde, nur nicht mit LSD.



Die Schweiz hat das Regelwerk der psychedelischen Therapie etabliert – nun folgt die EU
Liz Scherer


Steht die EU vor einem neuen goldenen Zeitalter für psychedelische Therapien? Deutschland und die Tschechische Republik haben kürzlich Schritte unternommen, um das Potenzial therapeutischer Psychedelika gesetzlich anzuerkennen, Estland könnte sich ihnen bald anschließen. Weitere EU-Staaten könnten folgen. Ärzte müssen sich möglicherweise auf einen Ansturm von Patienten vorbereiten.

Die Programme haben ein gemeinsames Ziel: eine sichere und wirksame Therapie für sonst schwer behandelbare, oft lebensbedrohliche Erkrankungen anzubieten.


Prof. Dr. Gerhard Gründer
„Ich glaube, allein in Deutschland gibt es wahrscheinlich mehrere Zehntausend Patienten, die die Kriterien für eine behandlungsresistente Depression erfüllen“, sagt der Gründer und Leiter des Psychedelika-Programms in Deutschland, Prof. Dr. Gerhard Gründer, Professor für Psychiatrie und Leiter der Abteilung für Molekulare Neurobildgebung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (CIMH) in Mannheim.


Das Programm erfordert erhebliche Ressourcen und ist sehr personalintensiv. „Ich denke, dass wir im ersten Jahr an jedem Standort wahrscheinlich 50 Patienten pro Jahr behandeln können“, so Gründer

5 bis 10 Standorte in einem Jahr in Deutschland
Deutschland ist das erste EU-Land, das ein Programm für den Einsatz von Psilocybin aus humanitären Gründen eingerichtet hat – einen regulierten erweiterten Zugangsweg, der es Patienten mit schweren Erkrankungen ermöglicht, das Medikament in einer medizinischen Einrichtung zu erhalten, obwohl es kein zugelassenes Arzneimittel ist.

2 Einrichtungen, das CIMH und die OVID Clinic Berlin, wurden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte für die stationäre Therapie von behandlungsresistenter Depression zugelassen. Eine Besonderheit ist, dass die Ärzte dieser Einrichtungen im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern die Eignung der Patienten selbst bestimmen können, ohne auf eine Einzelfallgenehmigung durch die Behörden warten zu müssen.


Gründer betonte, dass die Flexibilität des Programms wichtig ist. Die Ärzte haben die Möglichkeit, nach einer anfänglichen Dosis von 25 mg Psilocybin je nach Bedarf des Patienten eine Dosiserhöhung vorzunehmen, das Medikament nach einem Rückfall erneut zu verabreichen und die Therapie in Gruppensitzungen durchzuführen.

„Unser Programm ermöglicht auch die Einbeziehung weiterer Behandlungszentren”, sagt er. „Zunächst müssen wir eine Routine für die Zulassung anderer Zentren etablieren. Ich weiß, dass einige Universitätszentren bereits an den klinischen Studien teilnehmen. Sobald wir uns davon überzeugt haben, dass die Therapeuten dort wissen, was sie tun, könnten diese Standorte in das Compassionate-Use-Programm aufgenommen werden.“

„Nach einem Jahr werden wir wahrscheinlich fünf oder zehn verschiedene Standorte haben, wodurch sich die Zahl der Patienten, die wir behandeln können, erhöhen würde“, so Gründer.


Legale medizinische Psilocybin-Kategorie in Tschechien
Tschechien hat einen etwas anderen Ansatz gewählt. In Anlehnung an die Legalisierung von medizinischem Cannabis wurde eine legale medizinische Psilocybin-Kategorie geschaffen, die therapeutisches Psilocybin von illegalem Psilocybin der Klasse I unterscheidet.

Dr. Tomáš Páleniček, Leiter des Zentrums für psychedelische Forschung und translationales EEG am Nationalen Institut für psychische Gesundheit in Klecany, Tschechische Republik, erklärte gegenüber Medscape Europe News, dass das tschechische Recht die Verschreibung auf zugelassene Psychiater oder Kliniker beschränkt, die zusätzlich über eine Zweitzulassung in Psychotherapie verfügen. Diese Fachleute werden von Experten geschult, die bereits Erfahrung mit der Verabreichung von Ketamin im gleichen therapeutischen Rahmen haben.


Sie können Psilocybin bei Erkrankungen wie behandlungsresistenter Depression, existenzieller Not onkologischer Patienten und schweren psychiatrischen Störungen mit Suizidrisiko verschreiben, wenn Standardtherapien versagt haben, aber Hinweise auf einen potenziellen Nutzen von Psilocybin vorliegen. Weitere Indikationen sind Essstörungen, refraktäre Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen.

Die Tschechische Psychiatrische Vereinigung entwickelt derzeit klinische Leitlinien, in denen die Anwendung von Psilocybin beschrieben wird. Im Gegensatz zum deutschen Programm werden die Sitzungen individuell gestaltet sein, obwohl Gruppensitzungen in Zukunft in Betracht gezogen werden könnten, sobald mehr Ärzte geschult sind.

Eine zentrale Herausforderung, die den Start des tschechischen Programms verzögern könnte, liegt in der Arzneimittelformulierung. Krankenhausapotheken sind mit der Zubereitung von Psilocybin für Patienten beauftragt und die Vorschriften verlangen, dass es medizinischer Qualität entspricht und nach den Good Manufacturing Practice Standards hergestellt wird.


Mehr als 10 Jahre Erfahrung in der Schweiz

Das erste eingeschränkte Psychedelika-Programm der Schweiz lief von 1988 bis 1993 und erlaubte 5 Psychiatern die Verwendung von Lysergsäurediethylamid (LSD) und 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA) zur Behandlung verschiedener psychiatrischer Störungen.

Auf dieser frühen Erfahrung aufbauend, betreibt das Land seit mehr als einem Jahrzehnt ein strukturiertes, begrenztes Programm zur medizinischen Verwendung von Psychedelika. Ärzte müssen eine Behandlungsgenehmigung vom Bundesamt für Gesundheit einholen, um Psilocybin, MDMA oder LSD in der Behandlung einsetzen zu dürfen.

„Es ist nicht der Wilde Westen, wie manche Leute vielleicht denken“, sagt Dr. Helena Aicher, Psychologin mit Spezialisierung auf psychedelische Forschung und psychedelisch unterstützte Therapie (PAT), Postdoktorandin an den Universitäten Zürich und Basel und Mitglied der Schweizerischen Medizinischen Vereinigung für Psychedelische Therapie, wo sie PAT-Therapeuten ausbildet.

Helena Aicher, PhD
Im Jahr 2024 erteilte das Schweizer Bundesamt für Gesundheit 723 Behandlungsgenehmigungen – 348 für Psilocybin, 245 für MDMA und 130 für LSD. Der Bereich ist jedoch nach wie vor klein: Nur etwa 100 zugelassene Ärzte bieten PAT in 80 Privatpraxen und 15 Einrichtungen, darunter 4 Universitätskliniken, an.

Laut Aicher können Ärzte bestimmte Aspekte der PAT an andere ausgebildete Fachkräfte wie Psychotherapeuten oder psychiatrische Krankenschwestern delegieren – ein Ansatz, der dazu beiträgt, die begrenzten Ressourcen zu entlasten.


Aicher merkt an, dass viele Patienten, die eine PAT in Anspruch nehmen möchten, bereits eine individuelle Psychotherapie absolvieren. Einige tun dies jedoch nicht und beantragen PAT direkt oder werden von anderen Klinikern überwiesen. Je nach Hintergrund und therapeutischem Bedarf des jeweiligen Patienten können die psychedelische Behandlung und die anschließenden Nachsorgetermine einzeln oder in einer Gruppe stattfinden.

„Das hängt vom Therapeuten und seiner Arbeitsweise sowie von der Infrastruktur ab. Es ist ein klinischer Ansatz im Gegensatz zu einem protokollierten, von oben nach unten gerichteten Ansatz“, sagte Aicher.

Erfahrungen eines deutschen Patienten
Das Schweizer Modell hat Patienten wie dem 49-jährigen Frank Ser geholfen, einem gebürtigen Deutschen, der heute zwischen Deutschland und der Schweiz pendelt. Bei Ser wurde eine Erschöpfungsdepression diagnostiziert, ein schwerer depressiver Zustand im Zusammenhang mit einem Burnout. Er wurde von einem der 5 Schweizer Psychiater, die im Rahmen des ersten Pilotprogramms des Landes Ende der 1980er Jahre zur Verwendung von Psychedelika berechtigt waren, an Aicher überwiesen.


Zwischen 2022 und 2024 unterzog sich Ser einer PAT-Behandlung, zunächst in einer Gruppe. „Ich war es gewohnt, alles alleine zu lösen“, berichtet er Medscape Europe News. „Es war eine Erleichterung, von anderen Menschen zu hören, zu erfahren, womit sie zu kämpfen hatten und ob sie ähnlich Probleme hatten wie ich. Das gab mir einen guten Rahmen.“

Wie viele PAT-Patienten begann Ser die Behandlung mit MDMA, das wie Psilocybin eine kürzere Wirkungsdauer als LSD hat. „Ich hatte drei oder vier Behandlungen mit MDMA, aber nach einer Weile wurde mir klar, dass ich etwas mit einer längeren Wirkungsdauer wollte, weil ich dann mehr nachdenken konnte. Also bat ich darum und wechselte zu LSD“, sagt er. Ser beendete die Therapie schließlich, als er das Gefühl hatte, dass sie ihren Zweck erfüllt hatte.

Heute arbeitet er Vollzeit, genießt ein besseres Familienleben mit seiner Frau und seinen 2 Kindern und bereut nichts. „Es gibt dir Perspektiven, Ideen, Orientierungen und Erkenntnisse, die du sonst nicht bekommen würdest ... wenn du offen herangehst und bereit bist, in die dunkleren Ecken, deine dunkelsten Anteile, zu schauen.“


Sowohl Ser als auch Aicher betonten, dass Psychedelika kein Allheilmittel sind. „Psychotherapie ist ein linearer Prozess. Für die meisten ist es ein langer Prozess“, sagte Aicher. „Diese Patienten sind aus einem bestimmten Grund behandlungsresistent und leben auch in einem sozialen Kontext; sie haben eine Lebensgeschichte.“

„Jede Therapie kann ein wenig riskant sein und Psychedelika sind da keine Ausnahme. Man muss ein neues Gleichgewicht oder eine neue Homöostase finden. Die Substanzsitzungen sind ein Anfang, aber die eigentliche Arbeit beginnt danach“, erläutert sie.

Wie geht es weiter?
Die ersten Erfahrungen aus der Schweiz machen deutlich, dass noch einige Fragen offen sind. Es seien noch mehr Daten erforderlich, um zu verstehen, wer auf diese Therapien anspricht, sagt Aicher. Außerdem könnten Struktur, Standardisierung und Protokolle hilfreich sein, insbesondere wenn Therapeuten zu Beginn noch nicht über viel Erfahrung verfügen.

Gleichzeitig betont sie, dass klinische Erfahrung, der Kontext der Patienten und ein offener fachlicher Austausch nach wie vor unerlässlich sind. „In der Medizin lernt man aus Erfahrung und Praxis und stützt sich auf klinisches Fachwissen“, betont sie. „Es ist noch früh, chaotisch und auch riskant ... Diese Standards in Bezug auf Intuition, Supervision und Netzwerk sind von unschätzbarem Wert.“


Wie andere europäische Länder diese Erkenntnisse umsetzen, wird darüber entscheiden, wie schnell – und sicher – psychedelische Therapien einen Platz in der routinemäßigen klinischen Praxis finden.



https://deutsch.medscape.com/viewarticle/psychedelische-therapie-europa-2025a1000uaw?ecd=WNL_mdplsfeat_251106_mscpedit_de_etid7855373&uac=389796AZ&impID=7855373

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