Mittwoch, 9. März 2016
Eine streckenweise bizarre Diskussion zum Internationalen Frauentag
Die findet sich bei der Genossin Netbitch: http://netbitch1.twoday.net/stories/1022549387/#1022551444

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Angesichts der Tatsache, dass Männer fünf Jahre früher sterben als Frauen und die Mehrzahl der Selbstmörder, Gefängnisinsassen, Drogenabhängigen und Opfer von Arbeitsunfällen Männer sind, habe ich mit dem Begriff des Patriarchats auch so meine Probleme.

Im übrigen fordere ich eine Frauenquote bei der Müllabfuhr, auf dem Bau und auf dem Fischkutter.

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Der Feminismus hatte in 1. und 2. Welle durchaus seine Berechtigung, in der 3. Welle ist er jedoch vollends durchgeknallt. Das hat netbitch im ursprünglichen Posting völlig richtig formuliert.

Bei Fefe habe ich übrigens diese Gefahr gelesen: das Pendel könnte eines Tages (in zehn, zwanzig Jahren?) mit ebenso sinnloser Wucht zurück schlagen. Wünschen wir es uns nicht.

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Vorsicht! Netbitch ist eine Hardcore-Feministin, die am gängigen Netfeminismus hauptsächlich kritisiert, dass der Klassenkampfositionen vernachlässigt und militante Aktionen gegen Männergewalt nicht wahrnimmt. Der ist der übliche Webfeminismus nicht radikal genug, das ist eigentlich die Zentralaussage.

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Mein Eindruck von ihr ist: recht tough. Radikal, aber keine von diesen widerwärtigen Kampf-Emanzen, sondern vernünftigen Argumenten zugänglich. Bei ihr gehört der Feminismus zu den Lebenseinstellungen, die sich in der Szene der Siebziger und Achtziger herausgebildet und verfestigt haben. Alles gut!

Andernfalls hätte ich sie nicht bei meinen Lesezeichen.

Btw, bei netbitch hast du geäußert, dein Prädikat „bizarr“ bezieht sich auf meine Äußerungen. Ich vermute, du meinst einen Kontrast zwischen meinen eindeutig links anzusiedelnden Äußerungen und andererseits meiner offensiven Positionierung gegen Feminismus, der normalerweise der rechten Szene zugeordnet ist.

Falls das so sein sollte, fühl dich eingeladen, drüber zu sprechen. Ich lerne gerne dazu.

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@willy: Dass die Weltgesellschaft insgesamt, und zwar seit 10.000 Jahren, und auch hierzulande patriarchal ist halte ich für eine selbstverständliche Tatsache. Jede Frau die ich kenne würde das bestätigen. Das ergibt sich schon aus der Tatsache, dass kein Mann bei einem nächtlichen Stadtspaziergang mit begründeten Vergewaltigungsängsten herumlaufen muss, die Mehrzahl aller Frauen aber schon. Es reicht aus, dass ich, wenn ich um 23 Uhr noch eingekauft habe hinter einer jungen und hübschen Frau hergehe: Sie guckt argwöhnisch über die Schulter, sie zückt sicherheitshalber ihr Handy. Sie hat Angst vor mir, obwohl ich ihr nichts Böses will. Sie lebt in einer Gesellschaft, in der Männer für Frauen eine Bedrohung darstellen, besonders, wenn diese Frauen als sexuell attraktiv wahrgenommen werden und merken, dass das für Männer auch so ist. Männer erleben diese Bedrohungssituation niemals, können sie gar nicht.

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Die Chance vergewaltigt zu werden ist für Männer sicher deutlich geringer, aber Opfer von Gewalt werden Männer wesentlich häufiger als Frauen. Meinst du wenn ich nachts allein durch die Stadt gehe, ist das nicht gefährlich? Ich habe keine Waffen dabei.

Angeblich wird ja jede dritte Frau in ihrem Leben Opfer von Gewalt, aber bei Männern dürften das mindestens 98% sein. Kennst du einen Mann, der in seinem Leben nicht mal verprügelt wurde? Ich nicht.

Die Idee eines Patriarchats im Sinne einer stillschweigenden Verschwörung aller Männer zur Unterdrückung aller Frauen scheint mir jedenfalls völlig unberechtigt.

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"Die Idee eines Patriarchats im Sinne einer stillschweigenden Verschwörung aller Männer zur Unterdrückung aller Frauen scheint mir jedenfalls völlig unberechtigt."

Wer behauptet denn auch so einen Quatsch? Du hast es nicht kapiert. Das Patriarchat ist keine Verschwörung sondern eine zum großen Teil unbewußt funktionierende Struktur.

Deine Wortwahl ist spannend: "Meinst du wenn ich nachts allein durch die Stadt gehe, ist das nicht gefährlich?" Nicht etwa "....habe ich keine Angst?"

Hast du wahrscheinlich nicht, ebensowenig wie ich. Außerdu erlebst potentiell bedrohliche Situationen mit Anrufungen wie "Hastn Problem?", "Was glotzt du so?" o.ä. Situativ halt.

Die weibliche Erfahrung, die ich ebensowenig unvermittelt machen kann wie du, geht eher in die Richtung: "Na, Baby?" "Wo rennst du denn so schnell hin, Süße?" "Geiler Arsch!"
Meine Freundin wurde am hellichten Tag mal auf ihre "mörderischen Euter" angesprochen.

DAS ist die Erfahrung die wir Männer nicht machen können. Das ist ein je nach Typ nerviges bis bedrohliches Grundrauschen, das sich von dem vereinzelten "Angeprolle" von Männern durch Männer massiv unterscheiden dürfte. Darüber hinaus glaube ich, dass es sehr wohl Männer gibt, die noch nie verprügelt wurden. Ich werd mal rumfragen. ;-)

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@"Darüber hinaus glaube ich, dass es sehr wohl Männer gibt, die noch nie verprügelt wurden. Ich werd mal rumfragen. ;-)" --- kenne da gleich mehrere. Und habe die Erfahrung gemacht, dass auch Frauen mit konservativem und überhaupt nicht feministischem Habitus und Lebensgefühl diese latente Bedrohungserfahrung mit anderen Frauen - nahezu ALLEN Frauen - teilen. Die Attacken der netten Bitch in Richtung, ich greife mal ihr Vokabular auf, "Jammerfrauen" aus der blogfeministischen Szene gingen ja in die Richtung "Frauen bewaffnet Euch", d.h. ihre feministische Konsequenz ist der Gegenangriff gegen Männergewalt.


@willy: "Meinst du wenn ich nachts allein durch die Stadt gehe, ist das nicht gefährlich? Ich habe keine Waffen dabei." --- Wenn Neonazis unterwegs sind habe ich eine Waffe dabei, abgesehen davon, dass mein Körper eine Waffe ist. Als mich mal ein Messerstecher bedrohte musste ich nur eine bestimmte Körperhaltung einnehmen - Gedan Barai aus dem Shorin-Ryu-Karate-Do- dann war er weg. In der Szene in der ich beheimatet bin ist Kampfsport ein Weg, mit Alltagsgewalt umzugehen. Hervorgegangen aus einem Sportkurs, bei dem es darum ging, sich mit dem Schlagstock gegen Bullen und Neonazis auf Haue-Demos zu behaupten hat sich in meinem Umfeld eine Kultur der vorbereiteten Selbstverteidigung entwickelt. Und dies wiederum ganz besonders bei den Frauen, da diese bedrohter sind als Andere.

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Angst im Dunkeln
@che2001 – Kampfsport, Alltagsgewalt – du benennst sehr spezifische Erfahrung, die mir so fehlt. Als Schüler habe ich schon mal eine auf die Rübe gekriegt, aber seit ich über 190 bin, hatte ich nie mehr Angst – vermutlich war es für die Asis zu viel Arbeit, so weit rauf zu langen.

Diese Angst im Dunkeln kenne ich also sehr persönlich. Dass die Damen ebenfalls Angst im Dunkeln habe, kann ich also nachvollziehen.

Ist es das, worauf du das Patriarchat reduzierst?

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Ich reduziere das Patriarchat überhaupt nicht sondern habe dieses Beispiel nur erwähnt, um eine der augenfälligsten Formen aufzuzeigen, in der sich die patriarchale Grundstruktur dieser Gesellschaft offenbart.

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Ich nehme das „reduziert“ mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück.

Aber du siehst diese Angst im Dunkeln als eine – von vielen – Ausdrucksformen der Männerherrschaft. So weit richtig verstanden?

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Ja, so sehe ich es in der Tat.

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"Das Patriarchat ist keine Verschwörung sondern eine zum großen Teil unbewußt funktionierende Struktur."

Was wissen wir denn über das "Unbewusste"? Nichts, damit kann man nicht argumentieren.

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Um nochmal auf das zurück zu kommen was ich oben gesagt habe: Ist denn das Patriarchat auch dafür verantwortlich, dass Männer früher sterben als Frauen und leichter im Knast oder auf der Straße landen?

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ja, genauso wie das Matriarchat dafür verantwortlich wäre, dass im Matriarchat Männer öfter von Gerüsten oder bei Arbeiten an Decken von hohen Produktions- oder Monatgehallen herunterfallen und zerschmettert werden, bei Sicherheitsübungen auf Bohrinseln aus losgeschossenen Booten fliegen und ertrinken, bei Vermessungsarbeiten auf Autobahnen (Spurrillen) von Porschefahrern übersehen und mit 200 Sachen zerfetzt werden.

nein, das würden sich die Männer natürlich nicht bieten lassen und, wenn schon denn schon, die Machttechniken an sich reißen. Du siehst also, so oder so: Genauso wie die Männer im Matriarchat selber schuld wären, dass sie sich diese gefährlichen Berufe zuschieben ließen, sind sie es auch dann, wenn sie die Hebel der Macht in den Händen halten.

Daraus folgt, dass die Frauen selber schuld sind, dass sie Opfer von Vergewaltigungen und anderer Gewalt werden.

Die Argumentation, die Du insinuiert, rechtfertigt nicht die Vorherrschaft von Männern nach Neandertaler-Modell, sondern soll die Gewalt gegen Frauen legitimieren.

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@che2001 (16. März 2016, 12:30) – Unterthema „Angst im Dunkeln als eine Ausdrucksform des Patriarchats“ – bitte prüfe diese Folge auf Denkfehler.

Ich schlüpfe kurz in die Rolle der Dame, die nachts durch die Gasse wandert: Ich befürchte, ein Lump fällt über mich her. Wenn jetzt helllichter Tag wäre, wäre ich nicht so ängstlich, denn da sind viele Leute. (Rollenschlupf Ende.)

Ich schlüpfe kurz in die Rolle des Lumpen. Ich muss, um nicht erwischt zu werden, die Nacht abpassen. Das ist die Zeit ohne Publikum, ohne Kontrolle. Zeitweise faktische Gesetzlosigkeit (Anarchie). Am Tag traue ich mich nicht. Das ist nicht feige, sondern vernünftig. (Rollenschlupf Ende.)

Die auf die Nacht beschränkte Anarchie ist das genaue Gegenteil von Herrschaft. Ein Patriarchat in deinem Sinn hätten wir, wenn die Dame am helllichten Tage Angst haben müsste; weil z. B. die anwesenden Herren amüsiert grinsen, wenn der Lump sie anfällt.

Conclusio – die „Angst im Dunkeln“ ist definitiv keine Ausdrucksform des Patriarchats. (Freilich könnte es als solches dennoch existieren, aber eben mit anderen Ausdrucksformen.)

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@futuretwin (15. März 2016, 15:54) – „Das Patriarchat ist keine Verschwörung sondern eine zum großen Teil unbewußt funktionierende Struktur“ – dein Argument verwendet zwei Begriffe, die sich jeder Prüfung entziehen:

Das „Unbewusste“ bezeichnet Sphären der Persönlichkeit unterhalb der Verbalisierungsschwelle. Es widersetzt sich objektivem Abgleich und ist darum für gesellschaftliche Definitionen vollkommen untauglich. Ich schlage vor, das „Unbewusste“ aus dem Argumentenkatalog ersatzlos zu streichen.

Das Wort „Struktur“ hat Sinn nur im konkreten Kontext: es gibt Zellstrukturen, mathematische solche, im Bereich Gesellschaft sogar mehrere Unterbereiche mit Strukturierung. Benenne konkret den genauen Kontext – oder folge meinem Beispiel und verzichte ganz auf diesen Begriff.

Natürlich kann ich im Unrecht sein, und das Patriarchat existiert dennoch; jedoch bitte vernünftige Begründung.

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Anarchie heißt nicht Regellosigkeit und Willkür, sondern Ordnung ohne Herrschaft. Der Begriff passt daher hier gar nicht.

Zu: " Ist denn das Patriarchat auch dafür verantwortlich, dass Männer früher sterben als Frauen und leichter im Knast oder auf der Straße landen?" --- Ja, in der Tat. Weil es zu den patriarchalen "Tugenden" gehört, dass Männer sich heldenmäßig zu verhalten hätten. Warren Farell hatte dazu mal geschrieben, dass "heroische" Männer eigentlich Kriegersklaven seien. Dem stimme ich zu, seinen weiteren Ausführungen zum "Mythos Männermacht" hingegen gar nicht.

@"Das „Unbewusste“ bezeichnet Sphären der Persönlichkeit unterhalb der Verbalisierungsschwelle. Es widersetzt sich objektivem Abgleich und ist darum für gesellschaftliche Definitionen vollkommen untauglich. Ich schlage vor, das „Unbewusste“ aus dem Argumentenkatalog ersatzlos zu streichen." --- Die gesamte Tiefenpsychologie basiert auf der Analyse und Interpretation des Unbewussten. Diese streichen zu wollen läuft auf eine komplette Löschung einiger der wichtigsten psychologischen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts hinaus.
Dann gibt es Freud, Jung, Reich, Adler, Mitscherlich nicht mehr. Die Psychoanalyse samt der wichtigsten Kritiken an ihr hätten niemals stattgefunden. (weia: Auf welchem Niveau bewege ich mich eigentlich? Ich dachte 30 Jahre lang, dass das so arschklar sei, dass mensch darüber gar nicht erst reden müsste)

Der Rest, Wolf-Dieter, ist für mich sinnloser Nerdcore.

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@che2001

„Anarchie ... der Begriff passt hier gar nicht“ – nach Duden doch. Die politisch-utopische Bedeutung war nicht hinein zu lesen.

„... Tiefenpsychologie ... streichen ...“ – ich negiere sie nicht als Wissenschaft, sondern als Argument für Gesellschaftsanalyse. Großer Unterschied, bitte nicht durcheinander bringen.

„sinnloser Nerdcore“ – andererseits behauptest du das Patriarchat.

Verabschiede mich aus der Diskussion mit besten Wünschen.

@netbitch – falls ich dir was falsches in den Mund gelegt habe, war es Fehlinterpretation, aber keine böse Absicht. Beste Grüße.

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@Der Feminismus hatte in 1. und 2. Welle durchaus seine Berechtigung, in der 3. Welle ist er jedoch vollends durchgeknallt. Das hat netbitch im ursprünglichen Posting völlig richtig formuliert.

Das hatte ich nie formuliert, ich verstehe mich selbst als Feministin.

Da halte ich allerdings die "Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis" oder die Forschung von Gisela Bock oder Karin Hausen, die täglich gelebte Praxis in Frauenhäusern und Beratungsstellen für sehr viel relevanter als etwa die Mädchenmannschaft.

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Eine lange Tradition der Gesellschaftsanalyse und - Kritik, darunter die Kritische Theorie, basiert gerade auf der Verbindung von Tiefenpsychologie und Soziologie sowie Wertkritik bzw. Analyse des Kapitalismus. Dass die bestehende Gesellschaft in ihren Grundzügen ein Patriarchat ist wird in der Schule der Geschichtswissenschaft in der ich zu Hause bin ebenso wie in der ganzen mir bekannten Linken als feststehende Tatsache anerkannt. Im Übrigen sehe ich keinen Grund, diese Diskussion mit Dir nicht fortzusetzen.

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@willy "Was wissen wir denn über das "Unbewusste"? Nichts, damit kann man nicht argumentieren."

Du vielleicht nicht. Könntest du ändern in dem du ein Buch zur Hand nimmst, hier jetzt etwa von Freud. Machst du aber sonst ja auch nie.

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Psychoanalyse ist so ziemlich das Gegenteil von Wissenschaft, blanker Unsinn. Und wenn die sog, Kritische Theorie auf ihr basiert, wundert das nicht, denn sie ist auch ziemlicher Unsinn.

Immer noch das beste Buch zur Psychoanalyse:

http://www.d-e-zimmer.de/PDF/trugschluesse1986.pdf

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@Che: Wenn das Patriarchat für die Benachteiligung von Männern in unserer Gesellschaft verantwortlich ist, benachteiligen die sich gewissermaßen selber?

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Du zeigst immer wieder, dass du nicht verstanden hast, was das Patriarchat ist. Es handelt sich nicht um eine postulierte Verschwörung sämtlicher Penisträger, wie wäre das auch möglich?

"sich selber Benachteiligen" ist für dich paradox, was?
Ist aber vergleichbar mit dem "falschen Bewußtsein" von Marx. Ein gutes aktuelles Beispiel sind die AfD-Wähler, die gegen ihre ureigenen Interesse abstimmen. Warum machen die das? Hast du da ne naturwissenschaftliche Erklärung für?

Menschen handeln nicht rational, jedenfalls nicht nur. Und klar, sind solche klassischen männlichen Verhaltensweisen z.T. gefährlich. Männer waren ja früher Krieger, hatten mutig und stark zu sein. Das Patriarchat wirkt in uns allen, ob wir wollen oder nicht. das steckt einfach drin. Unabhängig davon, ob es uns Vorteile bringt oder nicht. das wurde uns eingebläut.

Auch die krasseste Feministin kann nur z.T. sehr schwer über ihren Schatten springen und die Wohnung so lange dreckig lassen, bis der Mann mal putzt. Weil es Frauen einfach anerzogen ist, sich für die Sauberkeit verantwortlich zu fühlen. Und Männern eben nicht. Über eine verdreckte Junggesellenbude wird eher weggesehen.

Und das ist jetzt nur ein Beispiel, da gibts noch viel mehr.

Und DAS meine ich mit unbewusst.

Und was die Psychoanalyse angeht hast du halt ein anderes Verständnis von Wissenschaft. Für dich sind anscheinend nur Naturwissenschaften eben solche, oder Disziplinen, die sich deren Methoden befleissigen. Ich bin Soziologe und habe diesen Schmu auch schonmal gehört, bin aber mittlerweile anderer Meinung. Da hat es dann wirklich nicht viel Sinn weiterzudiskutieren. Agree to disagree, zumindest in dem Punkt. Oder?

Links posten kann ich übrigens auch:
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/auf-die-couch

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es ist schon fast traurig, wie manche, hier Che und futuretwin, den Einlassungen, hier die von wolf-dieter u. willy, auf den Leim gehen. was freilich w.-dieter nicht einmal zu bemerken scheint ...

wolf-dieter missversteht bzw. missinterpretiert "unbewusst" als für "objektive[n] Abgleich und [...] darum für gesellschaftliche Definitionen vollkommen untauglich". Tiefenpsychologie und dergleichen mehr seien nun mal nicht "objektiv" genug. Dabei ergibt futurtwins „Das Patriarchat ist keine Verschwörung sondern eine zum großen Teil unbewußt funktionierende Struktur“ bereits bei einer viel weniger anspruchsvollen interpretation von "unbewusst" einen Sinn, und zwar recht trivialer Weise.
Zunächst ist sich aber einmal klarzumachen, dass natürlich Gesellschaftstheorien ohne einen Strukturbegriff im weitesten Sinne überhaupt nicht denkbar sind. Gerade in der Soziologie haben wir es mit Mathematisierungen ebensolocher "gesellschaftlichen Struturn" (as yet not defined) zu tun. Ohne Definitionen von Strukturen wären wir auf die Beschreibung des Verhaltens je einzelner angewiesen, die dann, was noch fataler wäre, nicht klassifizierbar oder vergleichbar wären. Selbst das Verhalten einzelner wäre nicht sinnvoll zu beschreiben: Wir hätten es durchgängig mit pathologischen Fällen zu tun. Die einzige Regularität wäre die Irregularität. Gingen wir von dieser Diagnose aus, dann und nur dann, hätte es Sinn, den Begriff "Struktur" vollkommen zu streichen.

Darüberhinaus hätten wir es dann mit Schicksalen von einzelnen zu tun, denen über Gesellschaftsanalysen oder dergleichen nicht mehr zu helfen wäre: sie gehörten samt und sonders "auf die Couch".

Selbiges gilt für einen Funktionsbegriff.

"Unbewusst" kann nun aber minimal so aufgefasst werden, dass wir es mit Verhaltensweisen zu tun haben, die nicht vollständig als bewusst-intentional erklärt werden können. Führen wir einmal den Gegentest durch, so ergibt sich das konträre Bild dessen, was wolf-dieter im Sinne zu haben scheint: Gerade die vermeintlich bewusst-intentionale Verhaltensweisen harren einer sich "objektiv" verstehenden Erklärung: Woher um alles in der Welt soll ich denn wissen, was mein Gegenüber jetzt gerade will oder aus welchen Motiven er oder sie gerade handelt?

Gerade willys Frage nach dem "Verantwortlichen", in diesem Falle bezüglich Patriarchat, setzt eine nicht-absichtliche Struktur voraus. "Ist denn das Patriarchat auch dafür verantwortlich, dass Männer früher sterben als Frauen und leichter im Knast oder auf der Straße landen?" Diese Frage soll wohl verneint werden. Verantwortlich wäre demzufolge eine Art konspiratives "Matriarchat"? Dass Männer die eigentlichen Opfer wären, ist einfach lächerlich, davon aber zunächst ab, jedesmal wird die Verantwortung für gewisse gesellschaftliche Verhältnisse infrage gestellt. Es sei eine weibliche Weltverschwörung, die seit Jahrtausenden oder meinetwegen Jahunderten einen Masterplan erfolgreich verfolge, damit die Männchen die dreckige und gefährliche Arbeit verrichteten? Absurd. Ebenso wäre kein Patriarchat verantwortlich für Unterdrückung von Frauen, weil letzere ja gar nicht beabsichtigt wäre; wäre ein Patriarcht verantwortlich zu machen, dann ja wohl auch für die Benachteiligung von Männern in gewissen Bereichen. Also kein Matriarchat, kein Patriarchat verantwortlich.

Wir haben also weder "Strukturen" noch "Unbewusstes" oder bewusst-intentionale Unterdrückung/Benachteiligung. Auf solch einen Schmarrn damit zu reagieren, tiefenpsychologische oder psychoanalytische Ansätze in Gesellschaftstheorien zu verteidigen und damit individual-unbewusstes, ist in gar keiner Weise erforderlich, denn die Begriffe der Funktionalität wie der der Struktur und der des "unbewussten" können auch ohne dies aufrechterhalten werden. On Top liefe man dadurch in Gefahr, sich von willy in eine Dikussion eines Naturalismus, den kein Naturwissenschaftler vertritt, hineinziehen zu lassen, der sich bemüßigt zu sehen glaubt, alles irgendwie "mentales" leugnen zu müssen und daraus seine Volten gegen als obskur diffamierte Psychoanalyse zu schlagen.

Alles wäre halt irgendwie ein blinder Naturprozess. Der naturalistische Fehlschluss würde dann fröhliche Urständ feiern, es liege halt in der Natur des Menschen, wenn Männer Alkoholiker werden und Frauen vergewaltigt. Oder: wenn unter Preisgabe des Strukturbegriffs (oder der der Funktionalität) nicht bloß alles Mentale (und wenn damit Bewusstes so auch Unbewusstes) sondern auch überhaupt jeder der Herrschaft oder gesellschaftlicher Ordnung bestenfalls als Sekundärphänomene und damit unbrauchbar abgelehnt werden, so bleibt die Verantwortung bei je einzelnen. Also wären Frauen selber schuld, wenn sie vergewaltigt werden; und Männer, wenn sie gefährliche Berufe ausüben.

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@ futuretwin - willy hat gar kein "Verständnis" von Wissenschaft. Wie gesagt, es sind nicht Naturwissenschaftler, die die Erklärungsleistung von Naturwissenschaft überschätzen. Naturwissenschaft kommt gut ohne Naturbegriff aus und nur wenige erklärte Naturalisten arbeiten mit einem solchen. Willy baut nur immer Stohmänner auf, gegen die anzurennen er vermeint. Dies aber aus einer "Position heraus", die entweder trivial oder falsch ist und die zu erläutern er desh. tunlichst vermeidet

Damit diese Diskussionen nicht immer so kenntnisfrei und darum fruchtlos bleiben, hier mal eine philosophische Sichtung der Debatte:

Keert Keil mit Herbert Schnädelbach: Naturalismus – Philosophische Beiträge. Frankfurt: Suhrkamp (stw 1450), 2000 - Einleitung

(via Wiki: Geert Keil dort verschiedene lesenswerte Texte verlinkt)

Gerade diejenigen, die radikale naturalistische Positionen vertreten, stehen umso entfernter von den eigentlichen Naturwissenschaften, da sie so desto weniger mit ihrer eigenen Arbeit dafür geradestehen müssen. Die Annahme des Laplaceschen Dämons, dass also im Prinzip alles erklärbar sei - und dann vorhersagbar, steht in diametralem Widerspruch zum Vorgehen in den empirischen Wissenschaften.

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Was ziggev beschreibt, trifft mE den Kern des Problems nicht nur dieser Diskussionen hier, sondern der Frauengleichberechtigung im allgemeinen. Im Substrat kritisiert er die unpassende Ebene der Auseinandersetzung mit unsinnigen Einwänden. Denkmängeln ist nicht beizukommen mit einem Begründungswall für etwas, das nicht verstanden werden will (und schon gar nicht verinnerlicht, also ins unbewusste integriert). Denkmängel müssen direkt aufgegriffen und als solche offengelegt werden. Mit Denkmängeln meine ich Verstöße gegen allgemein gültige logische Denkgesetze.

Gemeinsam haben Diskussionen der von ziggev beanstandeten Qualität, dass sie das Auftreten eines bestimmten Schamgefühls nicht zulassen. Wer erkenntnisorientiert an eine Streitfrage herangeht, empfindet eine gewisse Scham, falls er sich plötzlich im Wasser wiederfindet, in das er schnurstracks hinein galoppiert ist. Und er wird im Stillen hinterfragen, weshalb er das getan hat. Anzutreffen ist dagegen immer öfter der Typus "Black Knight" (M.P. and The Holy Grail), der sich bestenfalls auf ein "let's call it a draw" einlässt. Und ungehalten hinterher schimpft.

Beim Weg des sauberen Argumentierens für eine vernünftige Sache wird in solchen Diskurskonfigurationen meiner Beobachtung nach stets vernachlässigt, dass der Gegenpartei die unverzichtbare Grundlage zum ebenso sauberen Zugeständnis fehlt, eine vollständige und sichere Beherrschung der logischen Denkgesetze eben.

Wenn gesellschaftlich weit verbreitet akzeptiert wird, "aus dem Bauch" zu denken und gesellschaftliche Fragen damit zu beantworten, hat die Vernunft einen schweren Stand. Das von Che öfter verwendete [Achtung, bloß sinngemäß wiedergegeben:] "in die Fresse schlagen" hat auf dieser Ebene nicht nur Berechtigung, sondern ist darüber hinaus unerlässlich. Weil's letztlich eine Verteidigungshandlung darstellt.

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... freut mich ja, dass mindest einer Person meine Argumentation plausibel findet ;-)

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Nicht nur eine;-))

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Oha...
Doch eher sone Ü-50 Herrenüberschuß-Goaparty...

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Jep

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sogar bei ner Bekannten ...
sogar bei ner Bekannten aus der Nachbarschaft , die mich sogar mal augenzwinkernd zu sich eingeladen hatte (aber ich kam dem nicht nach, ne andere Geschichte ...) ...

von der U-Bahn-Station ins Wohnviertel am Stadtrand geht es bei uns immer erstmal entlang den Gleisen durch ein baumumstandenes Gebiet, dazu steigen dort oft nur ein paar Leutchen aus, also oft nur zwei oder drei.

Dann reagierte sie einmal aber eben auf die beschriebene Weise "seltsam", als ich zugesehen hatte, dass ich sie überhole, damit sie sich nicht verfolgt fühlt. Tatsächlich hatte sie sich jedoch verfolgt gefühlt.

bei anderer ganz ähnlicher Situation sprach ich sie an: gemeinsame Bekannte X habe mir erzählt, Frauen fühlten sich oft bedroht, allein dadurch, dass die Männer hinter ihnen gehen auf dem Weg von der U-Bahn-Station. Sei das denn jetzt so gewesen das letzt Mal oder auch jetzt? - Ja, sagte sie, ohne jeden Versuch zu lächeln und eindeutig unlustig auf das Gespräch, ja, das sei so. - Keine Chance mehr auf ne erneute Einladung seit dem.

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Tötest alle Kapitalisten, hast immer noch Kapitalismus. Tötest alle Männer, hast kein Patriarchat mehr. :)

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@futuretwin, danke für diesen großartigen Link!

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Verhaltenstherapie vs. Psychoanalyse, bisserl Naturalismus und Meditation
zu futuretwins Verlinkung, zum Text über Verhaltenstherapie vs. Psychoanalyse:

So neu ist das alles (Freunds Couch gewinnt gegenüber VT wieder an Land) nun wieder auch nicht. Seit einigen Jahren besteht relativ Konsens darüber, dass insbesondere Depressionen mit Medikamenten + Therapie recht gut oder zumindest erstaunlich gut behandelbar sind. Und was die Therapien betrifft, so nicht etwa ausschließlich Verkaltenstherapien + medikamentöser Behandlung, sondern Therapien einschließlich solcher psychoanalytischer Provenienz.

Dieser Konsens war nun auch nicht schwer zu erzihlen, denn die Statistiken sprachen einschlägig und deutlich ihre Sprache. Gewissermaßen ein handshake zw. Neurobiologen (denn die Fortschritte wurde insbesondere durch immer spezialisiertere Medikamente erreicht - immer abhängig davon, wie jeweilige Patienten worauf ansprechen) und klassischen Therapeuten, den Willy am liebsten verboten hätte, denn es könne nicht sein, was nicht sein dürfe.

Im übrigen ist am Text im Freitag gut abzulesen, wie ideologisch der Kampf zw. Analytikern und insbesondere den Verhaltenstherapeuten in Amerika gleichsam als Glaubenskrieg geführt wird. Auch hinsichtlich der Naturalismusdebatte ist hier anzumerken, dass diese Diskussion in einem Land geführt wird, in dem die Evolutionstheorie als Unterrichtsgegenstand immer noch Angriffen von religiösen Fanatikern und einflussreichen religiösen Eiferern ausgesetzt ist.

Wie Keil und Schnädelbach überzeugend argumentieren, ist ein Naturalismus, der sich lediglich als Opposition gegen einen überall agierenden Supranaturalismus, Obskurantismus oder Okkultismus versteht, schlecht beraten, sollte es tatsächlich zu einer Umdefinition des Wissenschaftsbegriffs kommen, etwa dergestalt, dass Fälschungen nunmehr als kreative Leistungen akzeptiert würden. Deshalb fordern Keil und Schnädelbach eine interessante Definition des Naturalismus, u.a. unter Rückgriff auf Carnap und Stegmüller(!), durch die deutlich werde, was er an der Naturwissenschaft verteidigenswert finde. Gerade hier besteht unter (nichtideologischen) Naturalisten wenig Einigkeit. (Siehe dort, z.B. S . 31.)

Desweiteren muss man wissen, dass die Naturwissenschaften selbst in Amerika sich gegen Unterstellungen eines gewissen Obskurantismus zur Wehr setzen müssen. Es gibt "demokratisch" motivierte Affekte gegen das "Spezialistentum" von Wissenschaften. Wie Neurowissenschaftler klagen, sei es immer wieder schwierig, gegen diese Forschungsgelder durchzusetzen. Und daraus resultieren dann oft Maximalversprechen von wissenschaftlicher Seite, z.B., inzwischen Geschichte, in Sachen KI.

Vor diesem Hintergrund sieht man oder frau sich immer wieder in der Lage, den Naturalismus gegen selbsterklärte Naturalisten und z.B. Judith Butler gegen ihre sie missverstehenden Leser zu verteidigen (wie Diethmar Dath zu ihrem 60 Geurtstag in der FAZ:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/die-umstrittene-natur-der-sache-judith-butler-wird-60-14086548.html

- hier wird übrigens wieder einmal deutlich, was ich seit Jahren trommele, dass es immer guttut, sich einmal tatsächlich mit den Naturwissenschaften und den dort betriebenen Begriffsbildungen zu beschäftigen!)

Naja, eigentlich nur nebenbei. Zur Verhaltenstherapie ...

... ist zu sagen, dass dieselbe insbesondere dann krank machen kann, wenn die Patienten selber an die Ideologie der VT glauben, dass Ängste und Beklemmungen als Folge von irrationalem Denken und Reaktionsmustern durch Ändern derselben sich dauerhaft verscheuchen ließen, sie in diesem Falle also geheilt wären. - Denn dies ist seinerseits eine irrationale Überzeugung, - dies steht jedenfalls zu vermuten, wenn Patienten - ganz dem Programm des Therapeuten folgend - verkünden "ich habe gelernt, meine Gefühle zu kontrollieren". Diese tun mir leid. Gefühle sind nun mal schwer zu "kontrollieren", wären es dann noch "Gefühle"? Ich wage es zu bezweifeln.

Dass einem unendlich viele Affekte/Reaktionsmuster/automatisierte Gedanken in einem Nu durch den Kopf schießen, diese Erfahrung kann man/frau durch Meditation machen. Wie diese Zwänge sich nach der Meditation langsam nach und nach wieder einstellen, kann man/frau selbst nach ersten Meditationserfahrungen sehr gut wahrnehmen. Eben dadurch, dass gerade nicht an den Emotionen, Affekten, Gedanken usw. gedreht wird, "einfach zulassen", während sich der Geist durch die Übung gewissermaßen abkühlt, können sie einem bewusst werden, was auch eintritt.

Hier aber bewusst etwas dran drehen zu wollen, widerspricht der Intuition des Patienten und der meditativen Erfahrung, dies nun mal kaum tun zu vermögen (man muss sich schon auf die Aussagen des Verhaltenstherapeuten verlassen). Ein Vorhaben, das dem der Selbsttäuschung ziemlich ähnlich sieht: Wer glaubt, sich selbst täuschen zu können, unterliegt einer Selbsttäuschung.

Als mir jemand einmal vorschlug, "ein Diagramm mit verunsichernden 'automatischen Gedanken'zu erstellen" (Zitat aus dem Text), fand ich das eigentlich lachhaft: meditierend mache ich das - freilich ohne Diagramm - ohnehin jeden Tag, dauernd.

Das mit der VT ist also ein ziemlich alter Hut, mit dem Zusatz, dass verhindert werden soll, dass ich meditierend mir selber helfe. Denn, das ist der Witz: die bewussten automatisierten Gedanken verschwinden durch sie ganz von alleine ! Man lernt, die Emotionen zu "kontrollieren" - die Anführungszeichen aber betont. Denn das Mittel ist das Let go!, und das gewünschte Ergebnis kommt von allein.

Wer mir aber mit vorgeblichen Heilungsabsichten die meditativen Erfahrungen wegnehmen will, der will mich und meine Gedanken kontrollieren, so sehe ich das jedenfalls.

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Als jemand, der sowohl Psychoanalyse als auch Verhaltens- und klientenzentrierte Gesprächstherapie gemacht hat
muss ich offen sagen: Große Unterschiede sind mir da nicht aufgefallen. In allen Fällen hörte mir jemand verständnisvoll zu, hakte hart nach, wenn es kritisch wurde und lieferte geistreiche Kommentare. Die Unterschiede bestehen m. E. im theoretischen Selbstverständnis der unterschiedlichen Schulen, aber heutzutage kaum in der Methodik.

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Vielen Dank ziggev, für die skalpelscharfe Darlegung!

@h.z.
Tja, die Vernunft hat oft einen schweren Stand, das ist wahr. Es gibt ja im Netzfeminismus bereits Bezeichnungen für die genannten Abwehrmechanismen, Mansplaining und Derailing etwa. Und es ist schwierig zu erkennen, welche Diskussionen im Netz noch sinnvoll sind und welche ins Leere laufen. Manchmal kann es Sinn machen, auch auf der "Bauchebene" zu argumentieren. Das funktioniert im RL aber tendenziell besser.
Ein Beispiel:
Gestern hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer türkischen Kiokverkäuferin, das bei Religion startetete und bei Politik endete. Bei Religion tauschten wir einfach Informationen aus, bei der Politik wurde es schon bald konfrontativer, da sie tendenziell Erdogan verteidigte und von "den Kurden" eher keine gute Meinug hatte. Sie diagnostizierte bei den Kurden Undank und Gier: Sie hätten unter Erdogan zahlreiche Rechte bekommen und wollten dennoch mehr, bis hin zu einem eigenen Staat.
Ich argumentierte, dass es vermutlich eher Angst sei: Vergünstigungen durch den Staat seien doch leicht rückgängig zu machen.
Das schien dann einigermassen zu verfangen. ;-)

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@futuretwin: Schwieriges Pflaster. Die Frau vom Gemüsetürken gegenüber war auch ernsthaft der Meinung, die drei jungen kurdischen Männer, die der Vermieter eine Zeitlang bei ihnen im Haus einquartiert hatte, seien Terroristen. Das war ursprünglich mehr so ein running gag von meiner Frau und mir, dass wir in dem Zusammenhang von Terrorzelle sprachen, aber als ich die Frau Yildiz (Name von der Redaktion geändert) mal halb im Scherz fragte, wie es sich denn so anließe mit der Terrorzelle im Haus, hat die ernsthaft vom Stapel gelassen, das seien wirklich Terroristen, sie ihre Familie wollten solche Subjekte nicht im Haus haben, und tatsächlich sind die mit ihren beiden Kids dann ein paar Häuser weiter weg gezogen, obwohl das vorher recht praktisch war mit der Wohnung über dem Laden und sie jetzt nach all den Jahren mit für hiesige Verhältnisse erträglicher Miete deutlich mehr abdrücken müssen. Tja...

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@futuretwin: "Manchmal kann es Sinn machen, auch auf der "Bauchebene" zu argumentieren. Das funktioniert im RL aber tendenziell besser." -- völlig d'accord. Gerade dann, wenn's im Grunde um Beziehungspflege geht, wie mit der beispielhaften türkischen Verkäuferin.

Für ziggev, dessen Ausführungen von bemerkenswerter Substanz sind (ohne damit andere herabsetzen oder auch nur relativieren zu wollen), möchte ich den Hinweis auf eine Weiterentwicklung der Psychoanalyse, die Mentalisierung nämlich, deponieren. Das Buch "Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst" von Peter Fonagy et al. bietet spannende Einsichten.

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h.z., danke, das ist sehr hilfreich!

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tatsächlich, viele Aspekte tauchen wieder auf in diesem Konzept der Mentalisierung, und könnten nun anders (re)formuliert oder entsprechend anderswo angereichert werden. So könnte womöglich die VT aufgefasst werden als Antwort auf die Einsicht, dass die "Unfähigkeit, Affekte in der Psyche zu repräsentieren, [...] dazu [führt] , dass sie nicht kontrolliert werden können" (Zitat aus dem wiki-Text). Unzureichende (interpersonale) Mentalisation wäre dann ursächlich oder mitverantwortlich für irrationale Überzeugungen und Denkmechanismen, die die VT aufdecken und austreiben will.

interessant fand ich auch, dass auf eigene Vorstellung über "Überzeugungen, Gefühle, Einstellungen, Wünsche etc." eingegangen wird. Insbesondere ist die Affektkontrolle, wie ich es jetzt verstehe, Vorbedingung für gelingende interpersonale Mentalisierung; also auch die Einsicht, dass auch das eigene Wissen lediglich eine Repräsentation des Mentalen darstellt.

die bei mir hier oben zuerstgenannte Einsicht macht die Folge der Praxis, anders als in der VT gewissermaßen mit Boardmitteln (Meditation) sich einfach nur darin zu üben, Affekte in der Psyche zu repräsentieren (sich ihrer bewusst zu werden), dass dann nämlich sich die Affektkontrolle von alleine einstellt, zumindest 'plausibel'.

und um das mit "den alten Hüten" noch etwas fortzuführen, eine Technik, die seit etwa dem 8. Jh. schriftlich tradiert wird:


WHEN A MOOD AGAINST SOMEONE OR FOR SOMEONE ARISES, DO NOT PLACE IT ON THE PERSON IN QUESTION, BUT REMAIN CENTERED.

es handelt sich um die 24. aus dem "Vigyan Bhairav Tantra".

Affekte also nicht auf das Gegenüber projizieren, sondern deren Quelle, die in einem selbst liegt, aufsuchen, was im Falle aufsteigender Wut umso einfacher sei. "It is easy to move in then. The wire is hot and you can take it in, you can move inward with that hotness. And when you reach a cool point within, you will suddenly realize a different dimension, a different world opening before you." Repräsentation also als spirituelle Praxis ...

... die insbesondere beim Umgang mit Osho-Anhängern, daher habe ich ja das Zitat eben, und der manchmal einigermaßen enervierend sein kann, recht hilfreich sein kann ;-)

aber Scherz beiseite, ich habe die Erfahrung gemacht, dass durch diese Technik die eigene Empathiefähigkeit merklich gesteigert werden kann. Wird man beleidigt, könne man also in gewisser Hinsicht der betreffenden Person dankbar sein, für diesen Anlass. In Buddha würde keine Wut entstehen; Jesus würde die andere Wange hinhalten; der Zen-Meister würde in dröhnendes Gelächter ausbrechen ... und jetzt kommst Du ...

Grenzen, ich denke an Watzlawik, sehe ich allerdings bei der interpersonalen Interpretationsfunktion (IIF) der Mentalisation: er/sie repräsentiert, dass ich repräsentiere, dass er/sie repräsentiert, dass ich... Ist etwas her, dass ich Watzlawik las, glaube mich aber zu erinnern, dass die Alltagsintelligenz relativ früh solche Operationen einfach abbricht.

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