Montag, 4. November 2013
Die große Flüchtlingswelle ist nur ein Rinnsal
che2001, 16:29h
http://www.blogspan.net/presse/landeszeitung-luneburg-fluchtlingswelle-ist-nur-ein-rinnsal-kai-weber-geschaftsfuhrer-des-niedersachsischen-fluchtlingsrates-absurd-verengte-zuwanderungsdebatte/mitteilung/434187/
Landeszeitung Lüneburg: Flüchtlingswelle ist nur ein Rinnsal / Kai
Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates: Absurd
verengte Zuwanderungsdebatte
31 October 2013
Lüneburg (ots) – Weltweit werden die Grenzen dichtgemacht. Ein Zaun
trennt Erste und Dritte Welt zwischen den USA und Mexiko. Australien
vertrat in den 1990er-Jahren – und jetzt auch wieder – die “Pazifische
Lösung”, also die Abdrängung von Flüchtlingsbooten auf hoher See. Kai
Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, meint:
“Europa macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, wenn
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken.”
Die UNO hat nach Lampedusa die Einwanderungspolitik der EU hart
kritisiert. Fällt der EU nichts anderes ein als die Zugbrücke hochzuziehen?
Kai Weber: Es sieht so aus. Wir hoffen zwar, dass wir eine
grundsätzliche Änderung erleben dürfen, also eine Politik, die die Augen
nicht schließt, sondern die Not lindert. Aber es ist zu befürchten, dass
die EU sich dazu nicht aufraffen kann. Seit längerem ist das Mittelmeer
eines der bestbewachten Meere der Welt. Kaum eine Bewegung bleibt
unbemerkt. Trotzdem ertranken und verhungerten Hunderte von Menschen
unter den Augen von Frontex. Es gab zwar Strafverfahren, doch diese
verlaufen im Sand, weil sich wegen der Informationspolitik der Agenten
des Grenzregimes die Verantwortlichen letztendlich nicht identifizieren
lassen. Das, was dort passiert, erfüllt den Straftatbestand der
unterlassenen Hilfeleistung.
Wer profitiert von der Abschottung der Grenzen?
Weber: Die EU verfolgt nicht das Ziel, Menschen umzubringen. Die EU hat
ein Interesse daran, die Kontrolle über die Struktur der Zuwanderung zu
behalten. Wir haben zum Beispiel in Deutschland 2012 eine Zuwanderung
von 1,08 Millionen Menschen gehabt. Davon waren 77·000 Flüchtlinge. Das
heißt, nur 7,1 Prozent der Zuwanderer waren Asylsuchende. Die Debatte
wird allerdings auf eine absurde Weise auf eben diese Minderheit
verengt. Das Gros der Zuwanderer sind ganz andere Gruppen. Das sind
Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen erwünscht sind; das sind
Menschen, die im Rahmen des Familiennachzugs einwandern. Die
ungesteuerte Zuwanderung soll begrenzt, ja sogar bekämpft werden. Hier
müssen wir zu einem Umdenken kommen, weil davon letztendlich nur die
Schlepper profitieren. Es liegt auf der Hand, dass der Schnitt der
Flüchtlinge nicht das Maß an Bildung und beruflichen Fertigkeiten
mitbringt, das eine gezielte Auswahl unter den Zuwanderern erbringen
würde. Wir sollten unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen wahren,
indem wir die Fähigkeiten auch der Flüchtlinge frühzeitig fördern,
müssen aber gleichzeitig akzeptieren, dass wir ihnen auch humanitär
verpflichtet sind und manche dauerhaft Hilfe brauchen werden.
Müsste der alternde alte Kontinent nicht ein Interesse am Zuzug junger,
hochmotivierter Menschen haben?
Weber: Sicher. Und das passiert auch massenhaft. So hat Deutschland 2012
um die 180·000 junge Menschen aus Polen aufgenommen. Das wurde nicht
thematisiert, weil diese Zuwanderer uns nützen. Da fragt auch niemand,
was dieser Abfluss von fähigen Menschen aus der polnischen Gesellschaft
macht. Diese Zuwanderung wird begrüßt und also geräuschlos organisiert.
Die sehr viel weniger Asylsuchenden werden eigentlich nur deswegen
bemerkt, weil es bürokratische Formen gibt, diese Einwanderung sichtbar
zu machen. Hier sind der Flaschenhals der Erstaufnahmeeinrichtungen zu
nennen und Engpässe im Unterbringungsverfahren, die an neuralgischen
Punkten Probleme entstehen lassen. Man könnte hier vieles erleichtern,
wenn man die Tore ein wenig weiter öffnen würde und die bestehenden
Gesetze liberaler handhaben würde – auch bei der Teilhabe von
Flüchtlingen. Nach wie vor dürfen sie in den ersten vier Jahren nicht
oder nur eingeschränkt arbeiten, erhalten keinen Zugang zu Integrations-
und Sprachkursen. Diese Politik, Flüchtlinge zu isolieren, ist
anachronistisch. Die Kosten einer nachholenden Integration nach
mehrjährigem Aufenthalt sind entsprechend hoch. Ein afghanischer Arzt,
der erst nach fünf Jahren unsere Sprache erlernen darf, wird nicht
umstandslos auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben. Der kann auch nicht
einfach zurückgehen und helfen, sein Land wieder aufzubauen, wie es so
oft gefordert wird. Sowohl die Integration in Deutschland als auch die
Re-Integration im Herkunftsland setzen voraus, dass die Menschen
permanent lernen und nicht aus dem Prozess der Beschäftigung und des
Qualifizierens herausgerissen werden.
Sind Ihre Hoffnungen auf eine Kehrtwende in der Asylpolitik durch den
Regierungswechsel in Niedersachsen erfüllt worden?
Weber: Es hat einige positive, grundsätzliche Veränderungen gegeben, die
wir begrüßen. Aber noch fehlt eine organisierte Politik des
Willkommenheißens und der Integration der Flüchtlinge. Wir wünschen uns,
dass die Kommunen entsprechende Konzepte entwickeln, wie es sie etwa für
Aussiedler auch gibt. Das Land hat die Pauschalen, die den Kommunen
gezahlt werden, zwar erhöht, aber sie decken die Kosten noch nicht.
Allerdings haben die Kommunen die Chance, in die Menschen zu
investieren: Jeder Flüchtling, der seine beruflichen Fähigkeiten nutzen
und entwickeln darf, sich in die Gesellschaft einbringt und arbeitet,
verwandelt sich von einem Hilfeempfänger zum gewinnbringenden Mitglied
der Kommune. Einige Städte gehen hier voran: Bad Hersfeld etwa. Gute
Ansätze für ein Unterbringungs- und Aufnahmekonzept entwickeln auch
Osnabrück und Hannover. Dazu zählt auch, dass Flüchtlinge aus
Sammelunterkünften in eigene Wohnungen ziehen dürfen. Das würde den
Lagerkoller unterbinden.
Rechtspopulistische Bewegungen profitieren von der verbreiteten Angst
vor einer gewaltigen Flüchtlingswelle. Ist dieses Gefühl gerechtfertigt?
Weber: Diese Welle ist eigentlich nur ein Rinnsal, gemessen an der
Gesamtzuwanderung. Deutschland ist wie kein anderes europäisches Land
auf Migration angewiesen. Ministerin von der Leyen hat es deshalb jüngst
als “Glücksfall” bezeichnet, dass im Vorjahr 300·000 Menschen als
Migrationsüberschuss in Deutschland geblieben sind. Rund einer Million
Zuwanderern standen 700·000 Auswanderer gegenüber. Noch 2008 hatten wir
eine Netto-Abwanderung von Menschen. Flüchtlingspolitik lässt sich wegen
des humanitären Anspruchs nicht in Gänze unter Migrationsökonomie
fassen. Europa sollte etwa denjenigen stärker helfen, die dem
furchtbaren Bürgerkrieg in Syrien entkommen wollen.
Wie verhält sich der Anstieg der Flüchtlingszahlen gegenüber den Zahlen
von Anfang der 90er-Jahre?
Weber: Wir erwarten für dieses Jahr rund 100·000 Flüchtlinge. Auf dem
Höhepunkt 1992 hatten wir 438·000 Flüchtlinge. Es liegt auf der Hand,
dass die Kommunen nicht jahrzehntelang Wohnraum leer stehen lassen
konnten, obwohl sie wissen konnten, dass auch einmal wieder mehr
Flüchtlinge kommen würden. Zudem hatte die alte Landesregierung
signalisiert, alle Flüchtlinge in den landeseigenen Lagern lassen zu
wollen. In der Folge kommt es nun in einigen Städten zu Engpässen, die
nun kurzfristig organisiertes Verwaltungshandeln erfordern, aber keine
grundsätzliche Überforderung darstellen.
Lösen Auffanglager und Einkaufsgutscheine Probleme oder schaffen sie welche?
Weber: Zig Untersuchungen belegen, dass das Leben im Lager eine
eigenständige Lebensführung verhindert und zu Folgeschäden führt. Dass
Menschen, die widrigsten Umständen trotzten und sich durchgekämpft
haben, todunglücklich sind in Lagern, in denen das Arbeiten verboten
wird und in denen ihnen sogar das Kochen abgenommen wird, ist klar.
Dösen und Warten ist eine Strafe, das dequalifiziert die Menschen. Die
Gutscheine waren seit jeher ein Mittel der Abschreckung und wir sind
froh, dass wir dieses Kapitel so gut wie beendet haben. Nur Vechta hält
noch an den Gutscheinen fest.
Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge der Welt schultern. Könnte es
aber mehr Menschen von der Flucht abhalten, indem es in taumelnden
Staaten präventive Sicherheitspolitik betreibt?
Weber: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die europäische Außen- und
Wirtschaftspolitik nicht im Ergebnis dazu führt, dass die
Lebensgrundlagen der Menschen in den Herkunftsländern zerstört werden,
wie dies etwa für die industrielle Fischerei in großen Trawlern vor
afrikanischen Küsten nachgewiesen werden kann. Verschärfend wirken die
Wirtschaftsabkommen, mit denen die Europäische Union (EU) die
rohstoffreichen Länder zwingt, ihre Handelsbedingungen zu liberalisieren
und Exportsteuern abzuschaffen. Eine an der Erhaltung der
Subsistenzwirtschaften und Verbesserung der Lebensbedingungen
orientierte Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern, aus
denen Flüchtlinge nach Europa fliehen, wäre insofern langfristig eine
sinnvolle Orientierung. Die Menschen begeben sich auf die Flucht, wenn
sie nicht mehr weiter wissen. Oft bleibt ihnen keine andere Option, und
der Bürgerkrieg in Syrien lässt sich auch nicht kurzfristig beenden.
Aber es gibt Handlungsmöglichkeiten: Wer etwa sieht, wie Roma in Serbien
leben, ohne Bildung, in Slums ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, der
kann ihnen keinen Missbrauch vorwerfen, wenn sie hierher kommen.
Natürlich muss man hier Perspektiven zur Teilhabe in der serbischen
Gesellschaft eröffnen. Dies erfordert auch eine kulturelle Sensibilität
im Umgang mit Menschen, die seit Jahrhunderten darin erprobt sind, sich
in der Randständigkeit einzurichten. Um hier etwas bewirken zu können,
bedarf es einer langfristigen Perspektive.
Gibt es die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem insbesondere vom
Balkan?
Weber: Das ist von Innenminister Friedrich eine böswillige Formulierung
des richtigen Sachverhalts, dass Menschen Angst haben, zu erfrieren,
dass sich nicht wissen, wovon sie ihre Kinder ernähren sollen. Auch die
meisten Roma wollen arbeiten. Und wenn sie es könnten, würden sie es
tun. So haben wir unter den Gastarbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien
eine Vielzahl von Roma, die sich längst eingefügt haben.
Europa war Jahrhunderte lang ein Kontinent, der Flüchtlinge exportierte.
Hat die Wohlstandsinsel vergessen, dass Europäer einst überall Zuflucht
fanden?
Weber: Die Erinnerung an Deutschland als Auswanderungsland lebt nicht
mehr. Was aber noch virulent ist bei vielen Menschen, ist die Erfahrung
der Vertreibung. Mindestens in jeder dritten Familie gibt es Menschen,
die aus den deutschen Ostgebieten stammen. Sie haben die Erfahrung von
feindseliger Ablehnung, Missgunst, Aggressivität bis hin zu Rassismus am
eigenen Leibe erfahren. Viele von denen identifizieren sich heute mit
den Betroffenen, haben deshalb Mitleid. Andere ziehen die Grenze umso
strikter. Nach dem Motto: Wir gehören jetzt dazu und wollen mit den
Neuen nicht verwechselt werden. Ähnliches erleben wir auch bei
Migrantenfamilien, die ihren mühsam erarbeiteten Status durch die
Asylbewerber gefährdet wähnen. Hier der eigenen Verantwortung gerecht zu
werden, verlangt, sich der eigenen Geschichte bewusst zu sein.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
Landeszeitung Lüneburg: Flüchtlingswelle ist nur ein Rinnsal / Kai
Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates: Absurd
verengte Zuwanderungsdebatte
31 October 2013
Lüneburg (ots) – Weltweit werden die Grenzen dichtgemacht. Ein Zaun
trennt Erste und Dritte Welt zwischen den USA und Mexiko. Australien
vertrat in den 1990er-Jahren – und jetzt auch wieder – die “Pazifische
Lösung”, also die Abdrängung von Flüchtlingsbooten auf hoher See. Kai
Weber, Geschäftsführer des Niedersächsischen Flüchtlingsrates, meint:
“Europa macht sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, wenn
Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken.”
Die UNO hat nach Lampedusa die Einwanderungspolitik der EU hart
kritisiert. Fällt der EU nichts anderes ein als die Zugbrücke hochzuziehen?
Kai Weber: Es sieht so aus. Wir hoffen zwar, dass wir eine
grundsätzliche Änderung erleben dürfen, also eine Politik, die die Augen
nicht schließt, sondern die Not lindert. Aber es ist zu befürchten, dass
die EU sich dazu nicht aufraffen kann. Seit längerem ist das Mittelmeer
eines der bestbewachten Meere der Welt. Kaum eine Bewegung bleibt
unbemerkt. Trotzdem ertranken und verhungerten Hunderte von Menschen
unter den Augen von Frontex. Es gab zwar Strafverfahren, doch diese
verlaufen im Sand, weil sich wegen der Informationspolitik der Agenten
des Grenzregimes die Verantwortlichen letztendlich nicht identifizieren
lassen. Das, was dort passiert, erfüllt den Straftatbestand der
unterlassenen Hilfeleistung.
Wer profitiert von der Abschottung der Grenzen?
Weber: Die EU verfolgt nicht das Ziel, Menschen umzubringen. Die EU hat
ein Interesse daran, die Kontrolle über die Struktur der Zuwanderung zu
behalten. Wir haben zum Beispiel in Deutschland 2012 eine Zuwanderung
von 1,08 Millionen Menschen gehabt. Davon waren 77·000 Flüchtlinge. Das
heißt, nur 7,1 Prozent der Zuwanderer waren Asylsuchende. Die Debatte
wird allerdings auf eine absurde Weise auf eben diese Minderheit
verengt. Das Gros der Zuwanderer sind ganz andere Gruppen. Das sind
Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen erwünscht sind; das sind
Menschen, die im Rahmen des Familiennachzugs einwandern. Die
ungesteuerte Zuwanderung soll begrenzt, ja sogar bekämpft werden. Hier
müssen wir zu einem Umdenken kommen, weil davon letztendlich nur die
Schlepper profitieren. Es liegt auf der Hand, dass der Schnitt der
Flüchtlinge nicht das Maß an Bildung und beruflichen Fertigkeiten
mitbringt, das eine gezielte Auswahl unter den Zuwanderern erbringen
würde. Wir sollten unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen wahren,
indem wir die Fähigkeiten auch der Flüchtlinge frühzeitig fördern,
müssen aber gleichzeitig akzeptieren, dass wir ihnen auch humanitär
verpflichtet sind und manche dauerhaft Hilfe brauchen werden.
Müsste der alternde alte Kontinent nicht ein Interesse am Zuzug junger,
hochmotivierter Menschen haben?
Weber: Sicher. Und das passiert auch massenhaft. So hat Deutschland 2012
um die 180·000 junge Menschen aus Polen aufgenommen. Das wurde nicht
thematisiert, weil diese Zuwanderer uns nützen. Da fragt auch niemand,
was dieser Abfluss von fähigen Menschen aus der polnischen Gesellschaft
macht. Diese Zuwanderung wird begrüßt und also geräuschlos organisiert.
Die sehr viel weniger Asylsuchenden werden eigentlich nur deswegen
bemerkt, weil es bürokratische Formen gibt, diese Einwanderung sichtbar
zu machen. Hier sind der Flaschenhals der Erstaufnahmeeinrichtungen zu
nennen und Engpässe im Unterbringungsverfahren, die an neuralgischen
Punkten Probleme entstehen lassen. Man könnte hier vieles erleichtern,
wenn man die Tore ein wenig weiter öffnen würde und die bestehenden
Gesetze liberaler handhaben würde – auch bei der Teilhabe von
Flüchtlingen. Nach wie vor dürfen sie in den ersten vier Jahren nicht
oder nur eingeschränkt arbeiten, erhalten keinen Zugang zu Integrations-
und Sprachkursen. Diese Politik, Flüchtlinge zu isolieren, ist
anachronistisch. Die Kosten einer nachholenden Integration nach
mehrjährigem Aufenthalt sind entsprechend hoch. Ein afghanischer Arzt,
der erst nach fünf Jahren unsere Sprache erlernen darf, wird nicht
umstandslos auf dem Arbeitsmarkt Erfolg haben. Der kann auch nicht
einfach zurückgehen und helfen, sein Land wieder aufzubauen, wie es so
oft gefordert wird. Sowohl die Integration in Deutschland als auch die
Re-Integration im Herkunftsland setzen voraus, dass die Menschen
permanent lernen und nicht aus dem Prozess der Beschäftigung und des
Qualifizierens herausgerissen werden.
Sind Ihre Hoffnungen auf eine Kehrtwende in der Asylpolitik durch den
Regierungswechsel in Niedersachsen erfüllt worden?
Weber: Es hat einige positive, grundsätzliche Veränderungen gegeben, die
wir begrüßen. Aber noch fehlt eine organisierte Politik des
Willkommenheißens und der Integration der Flüchtlinge. Wir wünschen uns,
dass die Kommunen entsprechende Konzepte entwickeln, wie es sie etwa für
Aussiedler auch gibt. Das Land hat die Pauschalen, die den Kommunen
gezahlt werden, zwar erhöht, aber sie decken die Kosten noch nicht.
Allerdings haben die Kommunen die Chance, in die Menschen zu
investieren: Jeder Flüchtling, der seine beruflichen Fähigkeiten nutzen
und entwickeln darf, sich in die Gesellschaft einbringt und arbeitet,
verwandelt sich von einem Hilfeempfänger zum gewinnbringenden Mitglied
der Kommune. Einige Städte gehen hier voran: Bad Hersfeld etwa. Gute
Ansätze für ein Unterbringungs- und Aufnahmekonzept entwickeln auch
Osnabrück und Hannover. Dazu zählt auch, dass Flüchtlinge aus
Sammelunterkünften in eigene Wohnungen ziehen dürfen. Das würde den
Lagerkoller unterbinden.
Rechtspopulistische Bewegungen profitieren von der verbreiteten Angst
vor einer gewaltigen Flüchtlingswelle. Ist dieses Gefühl gerechtfertigt?
Weber: Diese Welle ist eigentlich nur ein Rinnsal, gemessen an der
Gesamtzuwanderung. Deutschland ist wie kein anderes europäisches Land
auf Migration angewiesen. Ministerin von der Leyen hat es deshalb jüngst
als “Glücksfall” bezeichnet, dass im Vorjahr 300·000 Menschen als
Migrationsüberschuss in Deutschland geblieben sind. Rund einer Million
Zuwanderern standen 700·000 Auswanderer gegenüber. Noch 2008 hatten wir
eine Netto-Abwanderung von Menschen. Flüchtlingspolitik lässt sich wegen
des humanitären Anspruchs nicht in Gänze unter Migrationsökonomie
fassen. Europa sollte etwa denjenigen stärker helfen, die dem
furchtbaren Bürgerkrieg in Syrien entkommen wollen.
Wie verhält sich der Anstieg der Flüchtlingszahlen gegenüber den Zahlen
von Anfang der 90er-Jahre?
Weber: Wir erwarten für dieses Jahr rund 100·000 Flüchtlinge. Auf dem
Höhepunkt 1992 hatten wir 438·000 Flüchtlinge. Es liegt auf der Hand,
dass die Kommunen nicht jahrzehntelang Wohnraum leer stehen lassen
konnten, obwohl sie wissen konnten, dass auch einmal wieder mehr
Flüchtlinge kommen würden. Zudem hatte die alte Landesregierung
signalisiert, alle Flüchtlinge in den landeseigenen Lagern lassen zu
wollen. In der Folge kommt es nun in einigen Städten zu Engpässen, die
nun kurzfristig organisiertes Verwaltungshandeln erfordern, aber keine
grundsätzliche Überforderung darstellen.
Lösen Auffanglager und Einkaufsgutscheine Probleme oder schaffen sie welche?
Weber: Zig Untersuchungen belegen, dass das Leben im Lager eine
eigenständige Lebensführung verhindert und zu Folgeschäden führt. Dass
Menschen, die widrigsten Umständen trotzten und sich durchgekämpft
haben, todunglücklich sind in Lagern, in denen das Arbeiten verboten
wird und in denen ihnen sogar das Kochen abgenommen wird, ist klar.
Dösen und Warten ist eine Strafe, das dequalifiziert die Menschen. Die
Gutscheine waren seit jeher ein Mittel der Abschreckung und wir sind
froh, dass wir dieses Kapitel so gut wie beendet haben. Nur Vechta hält
noch an den Gutscheinen fest.
Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge der Welt schultern. Könnte es
aber mehr Menschen von der Flucht abhalten, indem es in taumelnden
Staaten präventive Sicherheitspolitik betreibt?
Weber: Es wäre schon viel gewonnen, wenn die europäische Außen- und
Wirtschaftspolitik nicht im Ergebnis dazu führt, dass die
Lebensgrundlagen der Menschen in den Herkunftsländern zerstört werden,
wie dies etwa für die industrielle Fischerei in großen Trawlern vor
afrikanischen Küsten nachgewiesen werden kann. Verschärfend wirken die
Wirtschaftsabkommen, mit denen die Europäische Union (EU) die
rohstoffreichen Länder zwingt, ihre Handelsbedingungen zu liberalisieren
und Exportsteuern abzuschaffen. Eine an der Erhaltung der
Subsistenzwirtschaften und Verbesserung der Lebensbedingungen
orientierte Ausgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern, aus
denen Flüchtlinge nach Europa fliehen, wäre insofern langfristig eine
sinnvolle Orientierung. Die Menschen begeben sich auf die Flucht, wenn
sie nicht mehr weiter wissen. Oft bleibt ihnen keine andere Option, und
der Bürgerkrieg in Syrien lässt sich auch nicht kurzfristig beenden.
Aber es gibt Handlungsmöglichkeiten: Wer etwa sieht, wie Roma in Serbien
leben, ohne Bildung, in Slums ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, der
kann ihnen keinen Missbrauch vorwerfen, wenn sie hierher kommen.
Natürlich muss man hier Perspektiven zur Teilhabe in der serbischen
Gesellschaft eröffnen. Dies erfordert auch eine kulturelle Sensibilität
im Umgang mit Menschen, die seit Jahrhunderten darin erprobt sind, sich
in der Randständigkeit einzurichten. Um hier etwas bewirken zu können,
bedarf es einer langfristigen Perspektive.
Gibt es die Einwanderung in das deutsche Sozialsystem insbesondere vom
Balkan?
Weber: Das ist von Innenminister Friedrich eine böswillige Formulierung
des richtigen Sachverhalts, dass Menschen Angst haben, zu erfrieren,
dass sich nicht wissen, wovon sie ihre Kinder ernähren sollen. Auch die
meisten Roma wollen arbeiten. Und wenn sie es könnten, würden sie es
tun. So haben wir unter den Gastarbeitern aus dem ehemaligen Jugoslawien
eine Vielzahl von Roma, die sich längst eingefügt haben.
Europa war Jahrhunderte lang ein Kontinent, der Flüchtlinge exportierte.
Hat die Wohlstandsinsel vergessen, dass Europäer einst überall Zuflucht
fanden?
Weber: Die Erinnerung an Deutschland als Auswanderungsland lebt nicht
mehr. Was aber noch virulent ist bei vielen Menschen, ist die Erfahrung
der Vertreibung. Mindestens in jeder dritten Familie gibt es Menschen,
die aus den deutschen Ostgebieten stammen. Sie haben die Erfahrung von
feindseliger Ablehnung, Missgunst, Aggressivität bis hin zu Rassismus am
eigenen Leibe erfahren. Viele von denen identifizieren sich heute mit
den Betroffenen, haben deshalb Mitleid. Andere ziehen die Grenze umso
strikter. Nach dem Motto: Wir gehören jetzt dazu und wollen mit den
Neuen nicht verwechselt werden. Ähnliches erleben wir auch bei
Migrantenfamilien, die ihren mühsam erarbeiteten Status durch die
Asylbewerber gefährdet wähnen. Hier der eigenen Verantwortung gerecht zu
werden, verlangt, sich der eigenen Geschichte bewusst zu sein.
Das Interview führte Joachim Zießler
Pressekontakt:
Landeszeitung Lüneburg
Werner Kolbe
Telefon: +49 (04131) 740-282
werner.kolbe@landeszeitung.de
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