Sonntag, 17. Januar 2016
Bewegungsbilder
Anknüpfend an einen Thread bei Kritik&Kunst

https://kritikundkunst.wordpress.com/2015/12/29/pro-linkem-hedonismus/#comment-19394



möchte ich darauf hinweisen, welche Dimension das Erstellen von Bewegungsbildern heute hat. Ursprünglich wurden diese im Zuge der Terroristenfahndung der 1970er Jahre entwickelt, als Weiterentwicklung der Raster-Schleier-und Schleppnetzfahndung, um eine komplette Szene so zu erfassen, dass im Vorfeld von Taten bereits das komplette potenzielle TäterInnenumfeld erfasst war. Die SPUDOK-Affäre in Göttingen machte Anfang der 1980er deutlich, was das alles umfasst. Da wurden Linke von der Polizei ausspioniert, systematisch überwacht und all ihre Lebensgewohnheiten erfasst. Der Begriff "terroristisches Umfeld" umfasste für die Polizei alle Leute, die in eine bestimmte Politszene gehörte oder dieser zugerechnet wurde, und das bedeutete, dass dazu etwa regelmäßige Gäste der Kneipe "Theaterkeller" gezählt wurden. Zu den Methoden der Datenerfassung zählten Entführungen solcher Leute durch Zivilstreifen, etwa die "Operation Harzreise", bei der ein Tramper von einer Zivilstreife mitgenommen, seine Daten erfasst, er verprügelt und im Harz ausgesetzt wurde. Da die linke Szene damals den Polizeifunk mitschnitt und die Protokolle veröffentlichte wurde dies sattsam dokumentiert. Die Reaktion der Szene bestand darin, in Telefongesprächen überhaupt nichts Wichtiges mehr zu erzählen und bei Aktionsbesprechungen das Telefon auszustöpseln, in den Kühlschrank zu stellen, die Dusche aufzudrehen und Musik anzustellen. Ich erinnere mich an eine Anwaltskanzlei, in der morgens vor Eröffnung sämtliche Wände mit Wanzensuchgeräten abgescannt wurden. Das Interesse der Bullen an "bewegungsrelevanten Hinweisen" umfasste Dinge wie wer mit wem schläft oder wie lange und wie häufig sich Leute an bestimmten Lokalitäten aufhalten. Die Verbreitung ortbarer Handys ermöglicht heute eine ganz andere, flächendeckende Erzeugung von Bewegungsbildern. Und diese werden keineswegs nur von der Terroristenfahndung verwendet. Dienstleister haben die Möglichkeit, aus Handydaten abzuleiten, wie lange sich jemand in einem Kaufhaus oder Fitnesscenter aufhält oder wann sie/er dort ist, um analog zum polizeilichen Profiling zielgruppenspezifische Spam-Mailings zu generieren. Alle machen wie die Blöden mit: Wer seine Handydaten in einem Googleaccount anmeldet, um sich Apps herunterladen zu können oder das Handy als Navi zu nutzen verkauft die Kontrolle über die eigene Privatsphäre.

Alle Leute, die das tun können permanent geortet werden und unterliegen damit potenziell der fortlaufenden Standortkontrolle durch Polizei, Staatsanwaltschaft, Finanzamt, Geheimdienste und diversen Dienstleistern. Für die gibt es kein abgeschottetes Privatleben mehr. Der tschetschenische Rebellenführer Dudajew wurde getötet, indem seine Handydaten in das Feuerleitsystem einer russischen Boden-Boden-Rakete einprogrammiert wurden. Das war 1995. Inzwischen ist die Technologie schon viel weiter. Aus den Handydaten lässt sich nicht nur feststellen, wer wann wie lange wo ist, daraus werden auch Bewegungsbilder erstellt, die komplette Lebensgewohnheiten von Menschen erfassen. Früher diente das mal der Terroristenfahndung (tut es auch heute noch), heute bedienen sich Handels- und Dienstleistungsunternehmen dieser Informationen, um individualisierte Werbemails zu verschicken. Als ich mein neues Notebook eingerichtet habe war meine erste Handlung, die Webcam zu überkleben und das Mikro mit einer Stahlnadel zu behandeln. Non serviam!

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Gut, das ist jetzt (für mich als Berufsparanoiker) nicht wirklich neu. Tatsächlich bin ich die ganze Zeit mit einem nicht auf mich angemeldeten Prepaid-Handy unterwegs gewesen, das nichts konnte außer telefonieren. Und selbst das war im Prinzip schon eine potenzielle Wanze, solange der Akku drin ist.

Aber wozu der konspirative Aufwand? Für meine Radtouren oder meinen Kindershuttle zur Musikschule wird sich die Obrigkeit nicht sooo dringend interessieren. Was Werbung und Marketing über mich wissen und was diese Instanzen zusätzlich via Smartphone noch über mich erfahren, mit diesen Fragen bin ich zum Teil auch beruflich befasst, und so mulmig mir bei den Möglichkeiten immer wieder wird, sehe ich, dass die tatsächliche Praxis den Möglichkeiten doch noch ganz enorm hinterherhinkt. Banalstes Beispiel: Beim Freemailanbieter meiner Wahl hatte ich seinerzeit im Benutzerprofil meinen Familienstand in "verheiratet" geändert, die Werbung für irgendwelche Partnerbörsen (ich habe mich nie bei so etwas je angemeldet) kriege ich aber auch nach all den Jahren immer noch zu sehen. Was mich lehrt, dass es in vielen Fällen immer noch billiger ist, mit der großen Gießkanne zu werben und Streuverluste in Kauf zu nehmen, statt sich den Aufwand zu machen, für teureres Geld vorsortierte und mit einschlägigen Konsummerkmalen versehene Zielgruppen zu buchen.

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OK, für mich als ehemaliges Zielobjekt dieser Fahndung und Freund von jemandem, dessen Stasi-Akte in der Lubjanka verschwunden ist und von Leuten, über die ich hier nicht rede stellt sich das etwas anders dar.

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Dass Du da von einem völlig anderen Background aus argumentierst, ist mir bewusst.

Ich selber habe bei der Thematik inzwischen leichte Burnout-Symptome. Im FAZ-Blog habe ich mich an alledem ziemlich abgearbeitet, nicht nur an den Datenmarketing-Geschichten, sondern auch am "predictive policing" und an der schleichenden Beweislastumkehr, mit der die gesamte Bevölkerung zunehmend unter Generalverdacht gestellt wird. Aber selbst auf einer so vergleichsweisen großen Kanzel predigt man zuvorderst den eh schon Bekehrten.

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