Dienstag, 27. April 2021
Tübingen: Mehr Infektionen durch Modellprojekt?
Daten zum Impfschutz nach 1. Dosis und zur Impf-Sicherheit für Schwangere

Michael van den Heuvel, Sonja Boehm, Dr. Thomas Kron





Am Morgen meldete das RKI 11.907 weitere Infektionen mit SARS-CoV-2. Vor einer Woche waren es 11.437. Die 7-Tage-Inzidenz erhöhte sich leicht auf 169 Fälle pro 100.000 Einwohner. Am Vortag lag der Wert bei 164. Es kam zu 60 weiteren Todesfällen durch COVID-19, verglichen mit 286 vor einer Woche.

Bei einer Pressekonferenz kommentierten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, RKI-Vizepräsident Prof. Dr. Lars Schaade und PEI-Präsident Prof. Dr. Klaus Cichutek die Entwicklung. Schaade erklärte, dass obwohl die Fallzahlen derzeit weniger schnell steigen, sie immer noch zu hoch sind. Er warnte: ?Auch für Jüngere kann das Virus gefährlich sein.?

Zu B.1.617, der Variante, die derzeit in Indien für riesige Probleme sorgt, erklärte er: ?Diese Variante könnte uns vor neue Herausforderungen stellen. Aber die Belege sind noch nicht da.? Cichutek rechnet mit einer niedrigeren Wirksamkeit bereits zugelassener Impfstoffe gegen die neue Variante, stellt aber auch klar: ?Sie wird nicht null sein.?

Optimistische Botschaften kamen dagegen von Spahn. ?Über 18 Prozent der Deutschen sind geimpft, und 7 Prozent haben eine zweite Impfung erhalten?, sagte der Minister. ?Im Verlauf des Junis werden wir die Impfpriorisierung aufheben können.? Dies schließt er aus den aktuellen Lieferprognosen für Corona-Impfstoffe. Bald könne jeder 3. Deutsche geimpft sein. Doch die 3. Welle lasse sich nicht wegtesten und man könne auch nicht gegen sie animpfen, gab der Minister zu bedenken. Er verwies weiter auf den ?Bundeslockdown?, Abstandsregeln und auf Maskenpflicht.

Mehr Infektionen durch das Corona-Modellprojekt in Tübingen?
Ausnahmen wie das bundesweit beachtete Tübinger Corona-Modellprojekt, es wurde mittlerweile gestoppt, sind umstritten. Auch Tübinger Wissenschaftler haben jetzt aufgrund von Analysen ihre Bedenken geäußert.

Zum Vergleich zogen sie Regionen mit ähnlicher Bevölkerungsdichte, ähnlichem Durchschnittsalter und vergleichbar vielen Arztpraxen heran. Ihre Wahl fiel auf die Städte Heidelberg und Freiburg im Breisgau sowie die Landkreise Enzkreis und Heilbronn. Anhand der Daten simulierten sie, welche Infektionszahlen Tübingen ohne das Modellprojekt mit seinen Lockerungen gehabt hätte.

?Dabei beobachten wir ab Ende März eine deutliche Zunahme der Infektionszahlen in Tübingen gegenüber denen der Kontrollgruppe?, sagt Prof. Dr. Klaus Wälde von der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Den größten Unterschied fand er Anfang April. ?Dann lag die 7-Tage-Inzidenz in Tübingen bei 144, während sie für die Kontrollgruppe bei 100 liegt?, sagt Wälde.

Dass sich die Unterschiede bald darauf verringerten, erklärt sich der Forscher mit 2 Änderungen im Projekt. Ab 1. April konnte die Außengastronomie nicht mehr am Modellprojekt teilnehmen ? und es wurden keine weiteren Partner aus dem Landkreis aufgenommen. Spielen vielleicht auch Massentests eine Rolle? ?Unsere Rechnungen zeigen, dass die Zunahme bei der Inzidenz durch das vermehrte Testen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil, aber nicht vollständig erklärt werden kann?, kommentiert Wälde.

Lockerungen für Geimpfte in Sicht?
Das Tübinger Modellprojekt ist seit dem ?Bundeslockdown? ohnehin Geschichte. Bürger können laut Medienberichten jedoch mit Erleichterungen rechnen, falls sie geimpft worden sind oder falls sie eine SARS-CoV-2-Infektion überstanden haben.

Das Bundesjustizministerium will laut Bild-Zeitung am heutigen Montag bei der Ministerpräsidentenkonferenz einen Entwurf vorlegen. Demnach brauchen Geimpfte keine Kontaktbeschränkungen mehr einzuhalten. Sie können auch Geschäfte besuchen und körpernahe Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ohne Schnelltests vorzuweisen. Ähnliche Rahmenbedingungen sollen für COVID-19-Patienten bis zu 6 Monate nach deren Genesung gelten. Zuvor hatte sich Spahn gegen Sonderrechte ausgesprochen.

Grundrechte seien keine Privilegien, erklärte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht im Vorfeld. ?Grundrechte stehen mir zu nach der Verfassung, und wenn der Staat eingreift in diese Grundrechte, dann braucht er dafür gute Gründe. Dazu zähle der Schutz von Leib und Leben; aber wenn dieser wegfalle, weil von Geimpften keine Gefahr mehr ausgehe, dann habe der Staat keinen Grund mehr.

EMA: Nutzen und Risiken des AstraZeneca-Vakzins
Impfungen gegen SARS-CoV-2 bleiben auch aus anderen Gründen ein Politikum, nachdem Bayern, Berlin, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern beschlossen haben, das AstraZeneca-Vakzin auf freiwilliger Basis auch an Menschen unter 60 Jahren zu verabreichen.

Um Mitgliedsstaaten bei solchen Entscheidungen zu unterstützen, hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA alle verfügbaren Daten ausgewertet. ?Untersucht wurde, inwiefern Vaxzevria® in Abhängigkeit von Alter und Infektionsrate in der Lage ist, Hospitalisierungen, Intensivaufnahmen und Todesfälle durch COVID-19 zu verhindern?, sagte Peter Arlett bei einer Online-Pressekonferenz. Er ist Vorsitzender der EMA Data Analytics and Methods Task Force. ?Eine Differenzierung nach Geschlecht ist jedoch aufgrund mangelnder Daten momentan nicht möglich.?

Dazu 2 Zahlen aus dem März 2021 ? analysiert bei einer hohen Infektionsrate von 886 Fällen pro 100.000 Einwohner:

In der Gruppe über 80 konnten allein durch die 1. Impfung pro 100.000 Personen 1.239 Hospitalisierungen verhindert werden. Rein rechnerisch gab es dabei 0,4 Thrombosen.

Bei 30- bis 39-Jährigen wurden pro 100.000 Impfungen 81 Hospitalisierungen vermieden ? bei 1,9 Thrombosen.

EMA-Deputy Executive Director Noël Wathion kommentierte: ?Der Gesamtnutzen von Vaxzevria® erhöht sich mit dem Alter und der Infektionsrate vor Ort.? An dem insgesamt positiven Risiko-Nutzen-Verhältnis für alle Altersgruppen habe diese Analyse nichts geändert. Impfwillige sollten zwischen 4 und 12 Wochen nach der ersten Dosis gemäß den Produktinformationen weiterhin eine 2. Dosis Vaxzevria® verabreicht bekommen.

EU-weit mehr Impfstoffe herstellen
Auch mit Fragen zur Produktionskapazität hat sich die EMA befasst. Sie gab grünes Licht, um die Chargengröße am Pfizer-Standort in Puurs, Belgien, zu erhöhen und rechnet jetzt mit ?erheblichen Auswirkungen? auf die europaweite Verfügbarkeit von Comirnaty®.

Außerdem hat die EMA eine neue Abfülllinie am Moderna-Produktionsstandort in Rovi, Spanien, genehmigt. Sie soll mehr Kapazitäten zur Abfüllung der Fertigprodukte schaffen ? zusammen mit dem Produktionsstandort für Wirkstoffe bei Lonza im schweizerischen Visp.

AstraZeneca- und Pfizer-BioNTech-Vakzin: Hoher Schutz bereits nach 1 Dosis
Welchen Impfstoff Bürger bekommen, scheint unter dem Blickwinkel der Wirksamkeit unerheblich zu sein. Das geht aus der COVID-19-Infektionsstudie, einer Partnerschaft zwischen der Oxford University, dem Office of National Statistics (ONS) und dem Department for Health and Social Care (DHSC) hervor. Wissenschaftler haben Effekte verschiedener Vakzine bei Personen ab 16 Jahren untersucht; bislang liegen nur 2 Preprints vor.

Die Autoren analysierten 1.610.562 Testergebnisse von Nasen- und Rachenabstrichen, die von 373.402 Studienteilnehmern zwischen dem 1. Dezember 2020 und dem 3. April 2021 entnommen worden waren. 21 Tage nach einer Einzeldosis des AstraZeneca- oder Pfizer-BioNTech-Vakzins ? ohne 2. Dosis ? fanden sie in beiden Fällen folgende Ergebnisse:

Die Rate an COVID-19-Infektionen ? unabhängig von deren Art ? verringerte sich um 65%

Bei symptomatischen Infektionen waren es 74% weniger.

Infektionen ohne Symptome waren um 57% gesunken.

Der Rückgang der Infektionen generell und der symptomatischen Infektionen war nach einer 2. Dosis sogar noch größer (70% bzw. 90%) und ähnelte den Effekten bei Personen, die sich zuvor auf natürlichem Wege mit COVID-19 infiziert hatten. Beide Impfstoffe waren gegen Varianten wirksam, die ähnliche Muster wie B.1.1.7 aufwiesen.

Es gab keine Hinweise darauf, dass sich Impfstoffe von Oxford-AstraZeneca und Pfizer-BioNTech in ihrer Fähigkeit, die Infektionsraten zu verringern, unterschieden, obwohl sie zu einer leicht unterschiedlichen Immunantwort führten. Alle Personen zeigten zumindest eine gewisse Reaktion auf beide Impfstoffe nach der 1. Dosis. Ein kleiner Anteil (ca. 5%) sprach nur schwach an ? ?es wird wichtig sein, deren Reaktion auf eine zweite Impfung zu überwachen?, so die Autoren.

Sicherheit des Impfstoffs in der Schwangerschaft
Spezielle Personengruppen sind bei Vakzinen ebenfalls Thema der Forschung. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass COVID-19-Vakzine im 3. Trimenon der Schwangerschaft sicher sind.

Forscher hatten Daten des V-safe Pregnancy Registry and Surveillance System und des Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS) analysiert.

V-safe ist ein Smartphone-basiertes Impfüberwachungssystem der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) mit freiwilliger Registrierung. Links zu Umfragen zur Beurteilung des Gesundheitszustands wurden per SMS gesendet, und die Nachverfolgung soll bis ein Jahr nach der letzten Impfstoffdosis dauern. Angaben zur Schwangerschaft sind auch möglich.

VAERS ist ein passives Überwachungssystem, das 1990 eingeführt wurde. Ärzte müssen unerwünschte Ereignisse nach der Impfung und schwangerschaftsbedingte Komplikationen über dieses Tool melden.

Das Ergebnis der Auswertung: Lokale und systemische Ereignisse nach der Impfung scheinen bei schwangeren und nicht schwangeren Teilnehmerinnen der Befragung ähnlich oft aufzutreten. Die Rate an Spontanaborten betrug 12,6% bei den Teilnehmerinnen des V-safe-Schwangerschaftsregisters, wobei die meisten Aborte bis zur 13. Schwangerschaftswoche auftraten. Vergleichsdaten aus öffentlichen Registern ergeben stark schwankende

Raten zwischen 10% und 26%. Die Autoren finden keine Hinweise auf erhöhte Werte, wobei sie auf Unsicherheiten durch das Design hinweisen. Von den Schwangeren mit einer Lebendgeburt erhielten 98% ihre 1. Impfstoffdosis im 3. Trimenon.

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