Mittwoch, 16. Februar 2022
Ein Plädoyer gegen blinden Optimismus bei COVID-19
che2001, 19:38h
Ärzte sollten realistisch bleiben. Aber was heißt das?
Dr. Lorenzo Norris
Von Michael van den Heuvel übersetzt aus dem Amerikanischen
Selbst in COVID-19-Zeiten sollten wir optimistisch sein, meint Dr. Lorenzo Norris . Der Arzt arbeitet u.a. als Chief Wellness Officer für die George Washington University Medical Enterprise und sorgt dafür, dass medizinische Angestellte gesund bleiben. Norris selbst tendiert dabei zu realistischem Optimismus. Blinder Optimismus habe allenfalls im Fantasy Football, einer Internet-basierten Version von American Football, seine Berechtigung, lautet seine Meinung.
Was genau bedeutet es, im Zeitalter von COVID-19 optimistisch zu sein? Diese Frage wird mir praktisch von jedem gestellt, den ich im Rahmen meiner Arbeit am GW Resiliency and Well-Being Center treffe.
Einen Vortrag über Resilienz zu halten und positiv zu bleiben kann eine große Herausforderung sein. Vor allem, wenn wir mit der Nachricht aufwachen, dass 1 von 100 älteren Amerikanern an den Folgen von COVID-19 gestorben ist.
Unser Verstand weiß nicht wirklich, wie er diese Art von Verlust verarbeiten soll. Es ist schwer, eine positive Einstellung zu bewahren, wenn man immer noch damit kämpft, das Ausmaß dessen zu akzeptieren, was die Menschheit in den letzten 2 Jahren erlebt hat.
Optimismus ? ein wichtiger Resilienz-Faktor
Im Buch ?Resilience: The Science of Mastering Life's Greatest Challenges? (Southwick und Charney, 2018) identifizieren die Autoren 10 Faktoren, welche mit sehr resilienten Menschen in Verbindung gebracht werden. Sie stützen sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse, persönliche Erfahrungen und Interviews mit Menschen, die buchstäblich durch die Hölle und zurück gegangen sind. Einer der von ihnen identifizierten Faktoren ist Optimismus.
?Optimismus entzündet die Resilienz und liefert die Energie für die anderen Resilienzfaktoren. Er erleichtert einen aktiven und kreativen Ansatz zur Bewältigung von schwierigen Situationen?, schreiben Steven M. Southwick und Dennis S. Charney.
Beide Autoren sind viel klüger als ich und haben viel mehr Geduld, um all diese Daten zu einer kohärenten Geschichte über Optimismus zu verweben. Meiner Meinung nach ist das eine verdammt gute Voraussetzung, um einen Vortrag darüber zu halten!
Als kleines Problem bleibt: Ich denke, viele Mediziner sind bereits erfahrene Optimisten. Sie ernähren sich buchstäblich von diesem Thema, schlafen damit ein und atmen es förmlich. Wenn wir also über Optimismus sprechen wollen, dann müssen wir über realistischen Optimismus sprechen.
Realistischer oder blinder Optimismus?
Wie unterscheidet sich realistischer Optimismus von, sagen wir, blindem Optimismus? Die Literaturübersicht von Southwick und Charney weist auf 3 Merkmale hin, die es wert sind, hervorgehoben zu werden.
Beim realistischen Optimismus nehmen wir das Negative wahr, ohne uns ständig damit zu befassen. Realistische Optimisten haben Probleme, die nicht lösbar waren, hinter sich gelassen.
Blinder Optimismus kann optimistische Voreingenommenheit beinhalten, die sich auf Selbsttäuschung oder das Überzeugen gewünschter Ereignisse ohne Realitätsprüfung auswirkt.
Blinder Optimismus kann dazu führen, dass man Risiken unterschätzt, Fähigkeiten überschätzt und sich unzureichend vorbereitet.
Da ich im Nordosten Ohios aufgewachsen bin, kann ich das Konzept des realistischen Optimismus absolut nachvollziehen. In Cleveland ist es 8 Monate im Jahr bewölkt. Im April auf 3 Sonnentage hintereinander zu hoffen, ist wirklich ein Ding der Unmöglichkeit. So lernt man mit der Zeit, dass die Sonne scheinen wird; man muss nur manchmal 3 bis 4 Monate darauf warten.
Realistischer oder blinder Optimismus während der Pandemie
Realistischen Optimismus könnte man als eine großartige Mischung aus radikaler Akzeptanz, Emotionsregulierung und gezielter Problemlösung begreifen. Das ist alles schön und gut, aber um realistisch optimistisch zu sein, müssen wir zuerst aufhören, uns ein besseres Morgen zu wünschen. Sie werden vielleicht sagen: Ich wünsche mir keine Regenbögen und Einhörner. Okay, Sie verbalisieren Ihre Wünsche nicht, aber auf einer kleinen Ebene können Sie sich auf Wunschdenken einlassen.
Hier sind ein paar Wunschgedanken, die ich in meinen Tagträumen hatte:
Sobald wir genügend COVID-19-Tests haben, wird es besser werden.
Wir müssen uns nur noch impfen lassen, und dann ist die neue Normalität da.
Wenn erst einmal alle die Auffrischungsimpfung bekommen haben, dann haben wir die Sache im Griff.
An diesem Punkt könnte man argumentieren, dass ich blindlings optimistisch war. Ich halte die obigen Aussagen aus mehreren Gründen für blind. Sie waren nicht ausgewogen (sowohl positiv als auch negativ), hatten keine klare Definition des Ergebnisses und konzentrierten sich eher auf externe Ereignisse, die ich nicht kontrollieren konnte.
Diese Aussagen waren gleichbedeutend mit Wünschen, und ich habe keine Wunderlampe mit einem Flaschengeist, also muss ich vom Wunschdenken erst einmal loslassen. Anders ausgedrückt: Ich muss es mit Gewalt in das Meer der COVID-19-Varianten werfen und mir überlegen, wie ich die nächsten 6 bis 12 Monate über Wasser halten will.
In diesem Sinne sind hier meine ersten Gedanken, wie ich das nächste Jahr der Pandemie überstehen kann:
Eine vielschichtige Form des Schutzes gibt mir die beste Chance, die nächsten 6 Monate der Pandemie zu überleben.
Es wird einige Zeit dauern, aber ich werde den Verlust verarbeiten, der mit einem Arbeitsplatz verbunden ist, der nie mehr derselbe sein wird.
Solange wir keine positiven Testraten von weniger als 2% auf der ganzen Welt haben, wird COVID-19 eine erhebliche Störung für die Menschheit bleiben.
Ich kann den verpassten Schulabschluss oder den ersten Schultag nicht nachholen, aber ich kann meinen Kindern zeigen, wie ich der Einsamkeit in meinem Leben begegnet bin und sie überlebt habe.
Okay, das ist der Ausgangspunkt ? hoffentlich nicht pessimistisch oder blind optimistisch, nur realistisch. Jetzt kann ich mich anderen wichtigen Themen zuwenden, wie zum Beispiel dem Wiederaufbau meines enttäuschenden Fantasy-Football-Teams. Ich war die Nummer 1 in unserer GW Department of Psychiatry Fantasy Football League, bis mein Star Running Back Derrick Henry ausfiel. Meine Assistenzärzte werden Oberärzte; sie werden mir noch viele Jahre lang deswegen Kummer bereiten, und das ist eine sehr gute Sache.
Über Dr. Lorenzo Norris
Dr. Lorenzo Norris ist derzeit als Chief Wellness Officer für die George Washington University Medical Enterprise tätig und fungiert als stellvertretender Dekan für studentische Angelegenheiten und Verwaltung der George Washington University School of Medicine and Health Sciences.
Lorenzo ist ein begeisterter Sportfan und ehemaliger Fantasy-Basketball-Champion der GWU-Abteilung für Psychiatrie. Außerdem ist er ein eingefleischter Comic-Fan und sammelt Comics, seit er 5 Jahre alt ist.
Folgen Sie ihm auf Twitter: @lnorrismd.
Dr. Lorenzo Norris
Von Michael van den Heuvel übersetzt aus dem Amerikanischen
Selbst in COVID-19-Zeiten sollten wir optimistisch sein, meint Dr. Lorenzo Norris . Der Arzt arbeitet u.a. als Chief Wellness Officer für die George Washington University Medical Enterprise und sorgt dafür, dass medizinische Angestellte gesund bleiben. Norris selbst tendiert dabei zu realistischem Optimismus. Blinder Optimismus habe allenfalls im Fantasy Football, einer Internet-basierten Version von American Football, seine Berechtigung, lautet seine Meinung.
Was genau bedeutet es, im Zeitalter von COVID-19 optimistisch zu sein? Diese Frage wird mir praktisch von jedem gestellt, den ich im Rahmen meiner Arbeit am GW Resiliency and Well-Being Center treffe.
Einen Vortrag über Resilienz zu halten und positiv zu bleiben kann eine große Herausforderung sein. Vor allem, wenn wir mit der Nachricht aufwachen, dass 1 von 100 älteren Amerikanern an den Folgen von COVID-19 gestorben ist.
Unser Verstand weiß nicht wirklich, wie er diese Art von Verlust verarbeiten soll. Es ist schwer, eine positive Einstellung zu bewahren, wenn man immer noch damit kämpft, das Ausmaß dessen zu akzeptieren, was die Menschheit in den letzten 2 Jahren erlebt hat.
Optimismus ? ein wichtiger Resilienz-Faktor
Im Buch ?Resilience: The Science of Mastering Life's Greatest Challenges? (Southwick und Charney, 2018) identifizieren die Autoren 10 Faktoren, welche mit sehr resilienten Menschen in Verbindung gebracht werden. Sie stützen sich dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse, persönliche Erfahrungen und Interviews mit Menschen, die buchstäblich durch die Hölle und zurück gegangen sind. Einer der von ihnen identifizierten Faktoren ist Optimismus.
?Optimismus entzündet die Resilienz und liefert die Energie für die anderen Resilienzfaktoren. Er erleichtert einen aktiven und kreativen Ansatz zur Bewältigung von schwierigen Situationen?, schreiben Steven M. Southwick und Dennis S. Charney.
Beide Autoren sind viel klüger als ich und haben viel mehr Geduld, um all diese Daten zu einer kohärenten Geschichte über Optimismus zu verweben. Meiner Meinung nach ist das eine verdammt gute Voraussetzung, um einen Vortrag darüber zu halten!
Als kleines Problem bleibt: Ich denke, viele Mediziner sind bereits erfahrene Optimisten. Sie ernähren sich buchstäblich von diesem Thema, schlafen damit ein und atmen es förmlich. Wenn wir also über Optimismus sprechen wollen, dann müssen wir über realistischen Optimismus sprechen.
Realistischer oder blinder Optimismus?
Wie unterscheidet sich realistischer Optimismus von, sagen wir, blindem Optimismus? Die Literaturübersicht von Southwick und Charney weist auf 3 Merkmale hin, die es wert sind, hervorgehoben zu werden.
Beim realistischen Optimismus nehmen wir das Negative wahr, ohne uns ständig damit zu befassen. Realistische Optimisten haben Probleme, die nicht lösbar waren, hinter sich gelassen.
Blinder Optimismus kann optimistische Voreingenommenheit beinhalten, die sich auf Selbsttäuschung oder das Überzeugen gewünschter Ereignisse ohne Realitätsprüfung auswirkt.
Blinder Optimismus kann dazu führen, dass man Risiken unterschätzt, Fähigkeiten überschätzt und sich unzureichend vorbereitet.
Da ich im Nordosten Ohios aufgewachsen bin, kann ich das Konzept des realistischen Optimismus absolut nachvollziehen. In Cleveland ist es 8 Monate im Jahr bewölkt. Im April auf 3 Sonnentage hintereinander zu hoffen, ist wirklich ein Ding der Unmöglichkeit. So lernt man mit der Zeit, dass die Sonne scheinen wird; man muss nur manchmal 3 bis 4 Monate darauf warten.
Realistischer oder blinder Optimismus während der Pandemie
Realistischen Optimismus könnte man als eine großartige Mischung aus radikaler Akzeptanz, Emotionsregulierung und gezielter Problemlösung begreifen. Das ist alles schön und gut, aber um realistisch optimistisch zu sein, müssen wir zuerst aufhören, uns ein besseres Morgen zu wünschen. Sie werden vielleicht sagen: Ich wünsche mir keine Regenbögen und Einhörner. Okay, Sie verbalisieren Ihre Wünsche nicht, aber auf einer kleinen Ebene können Sie sich auf Wunschdenken einlassen.
Hier sind ein paar Wunschgedanken, die ich in meinen Tagträumen hatte:
Sobald wir genügend COVID-19-Tests haben, wird es besser werden.
Wir müssen uns nur noch impfen lassen, und dann ist die neue Normalität da.
Wenn erst einmal alle die Auffrischungsimpfung bekommen haben, dann haben wir die Sache im Griff.
An diesem Punkt könnte man argumentieren, dass ich blindlings optimistisch war. Ich halte die obigen Aussagen aus mehreren Gründen für blind. Sie waren nicht ausgewogen (sowohl positiv als auch negativ), hatten keine klare Definition des Ergebnisses und konzentrierten sich eher auf externe Ereignisse, die ich nicht kontrollieren konnte.
Diese Aussagen waren gleichbedeutend mit Wünschen, und ich habe keine Wunderlampe mit einem Flaschengeist, also muss ich vom Wunschdenken erst einmal loslassen. Anders ausgedrückt: Ich muss es mit Gewalt in das Meer der COVID-19-Varianten werfen und mir überlegen, wie ich die nächsten 6 bis 12 Monate über Wasser halten will.
In diesem Sinne sind hier meine ersten Gedanken, wie ich das nächste Jahr der Pandemie überstehen kann:
Eine vielschichtige Form des Schutzes gibt mir die beste Chance, die nächsten 6 Monate der Pandemie zu überleben.
Es wird einige Zeit dauern, aber ich werde den Verlust verarbeiten, der mit einem Arbeitsplatz verbunden ist, der nie mehr derselbe sein wird.
Solange wir keine positiven Testraten von weniger als 2% auf der ganzen Welt haben, wird COVID-19 eine erhebliche Störung für die Menschheit bleiben.
Ich kann den verpassten Schulabschluss oder den ersten Schultag nicht nachholen, aber ich kann meinen Kindern zeigen, wie ich der Einsamkeit in meinem Leben begegnet bin und sie überlebt habe.
Okay, das ist der Ausgangspunkt ? hoffentlich nicht pessimistisch oder blind optimistisch, nur realistisch. Jetzt kann ich mich anderen wichtigen Themen zuwenden, wie zum Beispiel dem Wiederaufbau meines enttäuschenden Fantasy-Football-Teams. Ich war die Nummer 1 in unserer GW Department of Psychiatry Fantasy Football League, bis mein Star Running Back Derrick Henry ausfiel. Meine Assistenzärzte werden Oberärzte; sie werden mir noch viele Jahre lang deswegen Kummer bereiten, und das ist eine sehr gute Sache.
Über Dr. Lorenzo Norris
Dr. Lorenzo Norris ist derzeit als Chief Wellness Officer für die George Washington University Medical Enterprise tätig und fungiert als stellvertretender Dekan für studentische Angelegenheiten und Verwaltung der George Washington University School of Medicine and Health Sciences.
Lorenzo ist ein begeisterter Sportfan und ehemaliger Fantasy-Basketball-Champion der GWU-Abteilung für Psychiatrie. Außerdem ist er ein eingefleischter Comic-Fan und sammelt Comics, seit er 5 Jahre alt ist.
Folgen Sie ihm auf Twitter: @lnorrismd.
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