Freitag, 6. Mai 2022
Erste Hilfe an der Grenze: Eine Medizinjournalistin und Ärztin hat ukrainischen Flüchtlingen in Polen geholfen
che2001, 12:20h
Daniela Ovadia, Agenzia Zoe
Als ich in Mailand mit einem Sanitäter des Zivilschutzes und einem Neurologen des Niguarda-Krankenhauses ins Auto gestiegen bin, um an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren, hatte ich keine besonderen Erwartungen. Ich wollte nur dieses Gefühl der Hilflosigkeit bekämpfen, das ich habe, seit ich den Krieg Russlands gegen die Ukraine vom Sofa meines Wohnzimmers aus verfolge.
Dringend benötigte Medikamente für Przemysl
Unsere Aufgabe war, dringend benötigte Medikamente von der Universität Pavia und von privaten Spendern in die polnische Stadt Przemysl (sprich: Pshemishl) zu bringen. Dort gibt es ein Durchgangszentrum für ukrainische Flüchtlinge. Sowohl meine Aufgabe als auch mein Bestimmungsort waren vor allem dem Zufall geschuldet.
Ich hatte Kontakte zu einer Gruppe, die innerhalb des Flüchtlingszentrums einen kleinen Kindergarten betreibt. Er ermöglicht es Müttern, die von ihrer oft tagelangen Reise erschöpft sind, ihre Kinder für ein paar Stunden in vertrauenswürdige Hände zu geben. Sie brauchen diese Zeit, auch um sich um Dokumente zu kümmern und Asylanträge vorzubereiten.
In 19 Stunden von Mailand bis an die ukrainische Grenze
Der Weg von Mailand bis zur ukrainischen Grenze ist lang. Die Reise dauert 19 Stunden, einschließlich Pausen, und führt durch Österreich, Ungarn, die Tschechische Republik und ganz Polen.
Weder ich, die als Redakteurin von Univadis Italia und als Forscherin an der Universität arbeitet, noch meine Begleiter hatten zuvor Erfahrungen mit freiwilliger Arbeit als Sanitäter vor Ort gemacht. Aber wir hatten gehört, dass die Zahl der Flüchtlinge weiter steige und dass jeder mit medizinischem Fachwissen willkommen sei.
Sich nützlich machen ? ein Weg aus der Hilfslosigkeit?
Eine freie Woche über die Osterfeiertage schien die perfekte Gelegenheit zu sein, um zu sehen, ob wir uns nützlich machen könnten. Selbst wenn wir vielleicht nur bei der Verteilung von Kleidung und warmen Speisen helfen sollten.
Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine in Medyka: Nach dem Grenzübertritt warten Sanitäts- und Schutzzelte verschiedener NGOs auf die Flüchtlinge, die es nicht mehr weiter bis ins Durchgangszentrum in Przemysl schaffen. ©
Zum medizinischen Wachdienst direkt an die Grenze
Vor Ort angekommen hatten wir nicht einmal Zeit, um uns als Freiwillige im Flüchtlingszentrum zu registrieren. Unser lokaler Kontakt rief an, weil die französisch-israelische NGO Rescuers Without Borders dringend nach medizinischem Personal suchte. Die Organisation betreibt ein Sanitätszelt an der Grenze zur Ukraine in der nahe Przemysl gelegenen Stadt Medyka und hatte Wachdienste zu besetzen. Wir sagten zu, noch bevor wir genau wussten, worauf wir uns einließen.
Nachdem unsere berufliche Qualifikation überprüft worden war, fanden wir uns in einem Armeezelt wieder. Es war direkt neben dem Grenztor auf einer im Schlamm sitzenden Holzplattform aufgestellt worden. Daneben befand sich ein großes Schutzzelt, in dem die NGO Frauen und Kinder notversorgte, die zu müde waren, um zum Flüchtlingszentrum zu gelangen.
Erste Hilfe an der Grenze: Eine Medizinjournalistin und Ärztin hat ukrainischen Flüchtlingen in Polen geholfen. Hier ihr Bericht ?
Daniela Ovadia ? Agenzia Zoe
INTERESSENKONFLIKTE 5. Mai 2022
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Eine lange Reihe von Zelten säumt die Straße
Die Sanitätsstation von Rescuers without Borders in Medyka ist Teil einer langen Reihe von Zelten, welche die Straße entlang der Grenze säumen. Flüchtlinge, die mit Koffern und Tieren im Schlepptau zu Fuß aus der Ukraine kommen, haben keine andere Wahl, als sie zu passieren.
Selbst wenn die Sonne scheint, ist es dort immer noch eiskalt. Wer die Grenze überquert, hat oft schon mindestens 8 Stunden in der Schlange vor den Grenzkontrollen in der Kälte verbracht. Manche der Freiwilligen übernehmen die Verteilung von warmer Kleidung, Getränken und Lebensmitteln. Andere helfen mit SIM-Karten für kostenlose Telefonate, die die größten europäischen Telefongesellschaften zur Verfügung stellen.
Flüchtlinge warten auf der ukrainischen Seite der Grenze darauf, nach Polen einreisen zu dürfen ? oft über viele Stunden bei noch immer eisiger Kälte. © Daniela Ovadia
Basisversorgung an Medikamenten und Geräten
Den medizinischen Mitarbeitern vor Ort steht eine Basisapotheke zur Verfügung, die nach Vorgaben der Vereinten Nationen klassifizierte Notfallmedikamente enthält: entzündungshemmende und blutdrucksenkende Mittel, Insulin, einige orale Antidiabetika, Breitbandantibiotika, dermatologische Salben, Antiepileptika (vor allem Phenobarbital und Carbamazepin), Steroide und zahlreiche Anxiolytika sowie pädiatrische Formulierungen der gängigsten Medikamente. Außerdem gibt es eine Notfalltasche (die wir zum Glück nie benutzen mussten) und einen halbautomatischen Defibrillator.
Frauen, Kinder und ältere Menschen mit unterschiedlichen Leiden
Vor allem Frauen mit Kindern, die oft noch sehr klein sind, und ältere Menschen passieren die Grenze. Die meisten Personen, die wir behandeln mussten, hatten chronische Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. Sie waren oft während ihrer gesamten Flucht ohne medikamentöse Versorgung. In einigen Fällen ? etwa wenn sie aus Kriegsgebieten kamen ? sogar noch länger. Auch Angststörungen waren häufig, mit Atemnot oder richtigen Panikattacken.
Ich wollte nur dieses Gefühl der Hilflosigkeit bekämpfen Daniela Ovadia
Viele der geflüchteten Frauen begreifen erst, dass sie ihr Zuhause verloren haben, wenn sie sich tatsächlich in einem fremden Land widerfinden. Ihre Ehemänner und Lebensgefährten müssen sie in der Ukraine zurücklassen, da Männer im wehrfähigen Alter nicht ausreisen dürfen.
Decken und Laken, die schon von anderen benutzt wurden
Die Notunterkünfte sind recht gut ausgestattet. Dennoch schläft man auf behelfsmäßigen Pritschen mit Decken und Laken, die zuvor schon von anderen benutzt wurden.
Ältere Menschen leiden häufig an starken Gelenk- und Muskelschmerzen Daniela Ovadia
Ältere Menschen leiden häufig an starken Gelenk- und Muskelschmerzen. Sie sind die Folge tage- oder wochenlanger Aufenthalte in kalten Kellern, wo sie auf behelfsmäßigen Betten schlafen mussten, um sich vor den Bomben zu schützen. Häufig sind sie auch dehydriert und dekompensiert.
Sanitäts- und Schutzzelte am Grenzübergang Medyka: Viele Menschen überqueren die Grenze nach Polen mit ihren Haustieren. So bleibt es nicht aus, dann mancher Hilfsorganisationsmitarbeiter auch einmal beim Gassigehen aushilft. © Daniela Ovadia
Kriegsverletzungen sind bei den Flüchtlingen selten
Nur in 2 Fällen hatten wir es mit Kriegsverletzungen zu tun. Eine Frau kam vom Bahnhof Kramatorsk, der während des Transports eines Flüchtlingskonvois von Russen bombardiert worden war. Sie hatte einen Verband, der einen bläulich-roten, eindeutig infizierten und ödematösen Fuß verbarg. Wir nahmen an, dass ein Splitter aus Metall oder einem anderen Material in ihren Fuß eingedrungen war. Denn durch die Hitze der Explosion hatten sich noch andere Splitter mit dem Kunststoff ihres Anoraks verklebt.
Wir konnten ihr lediglich intravenös ein Antibiotikum verabreichen und sie zum polnischen Roten Kreuz schicken - in der Hoffnung, dass dort wenigstens ein Röntgenbild gemacht wird. Ein weiteres Opfer von Kriegsverletzungen war ein junger Mann, der mit einem klassischen Ödem als Folge einer Explosion vorgestellt wurde. Sanitäter hatten ihn mit Kompressionsverbänden behandelt.
Ärzte aller Fachrichtungen ohne spezielle Ausbildung
Man ist nie wirklich bereit, Kriegsverletzungen zu behandeln, aber man ist noch weniger darauf vorbereitet, wenn man nie eine spezifische Ausbildung in diesem Bereich erhalten hat. Die Ärzte, die in diesen vorübergehend von NGOs verwalteten Strukturen arbeiten, kommen aus verschiedenen Fachrichtungen.
Man ist nie wirklich bereit, Kriegsverletzungen zu behandeln Daniela Ovadia
Fast immer sind Internisten darunter, und zwar aus ganz unterschiedlichen Ländern. Wir haben mit einem indischen Arzt, mit 2 Amerikanern, mit 2 Israelis und mit einem französischen Arzt zusammengearbeitet. Oft sind sie nur für kurze Zeiträume, etwa 10 Tage bis zu 3 Wochen, vor Ort. Ihnen steht eine medizinische Grundausstattung zur Verfügung, die für echte Notfälle nicht geeignet ist.
Das Sanitätszelt der NGO Rescuers without Borders am Grenzübergang in Medyka steht auf einer im Schlamm sitzenden Holzplattform. © Daniela Ovadia
Den freiwilligen Hilfskräften steht im Sanitätszelt eine Grundausstattung an medizinischem Material und Medikamenten zur Verfügung, zur Behandlung von Notfällen ausgerüstet ist es nicht. © Daniela Ovadia
Viele Medikamente fehlen
Ein weit verbreitetes Problem war der Mangel an Medikamenten. Von den Vereinten Nationen empfohlene Kits enthalten zwar wichtige Wirkstoffe. Diese decken aber nicht einmal annähernd das breite Spektrum an Verodnungen ab, mit denen die Patienten zu uns ins Zelt kamen. Es ist nicht immer möglich, ein Medikament durch ein anderes zu ersetzen - zumindest nicht ohne einen angemessenen Beobachtungszeitraum oder eine überlappende Behandlung. Beides war in unserer Situation nicht möglich.
Ein weit verbreitetes Problem war der Mangel an Medikamenten Daniela Ovadia
Der komplizierteste Fall, mit dem wir uns befassen mussten, war eine junge Epilepsiepatientin, die in der Warteschlange an der Grenze einen Anfall erlitt. Wir hatten ihre Medikamente nicht zur Hand. Nur dank eines Glücksfalls und dank der Hartnäckigkeit einiger Freiwilliger, die buchstäblich alle örtlichen medizinischen Zentren absuchten, konnten wir einige der fehlenden Medikamente beschaffen. Die Frau war mit ihrem 10-jährigen Sohn im Schlepptau unterwegs, und nach einer Nacht unter Beobachtung im Sanitätszelt setzte sie ihre Reise zu ihrem Zielort in Deutschland fort.
Belastete Mütter, gefährdete Kinder
Oft mussten wir bei der Auswahl einer Behandlung auch die Verantwortlichkeiten der Patienten berücksichtigen: Bei alleinerziehenden Müttern mit einem oder mehreren Kindern können bewusstseinsverändernde oder schläfrig machende Medikamente wie Benzodiazepine nicht verabreicht werden. Denn leider hat es schon Fälle von Kindesmissbrauch gegeben und es gibt nicht ausreichend Personal, das sich um die Kleinen kümmern kann, während sich die Eltern ausruhen.
Schlechte Chancen bei seltenen Erkrankungen
Medikamente gegen seltene Erkrankungen waren nirgends zu finden, obwohl sie lebensrettend sein können. Wir mussten einem Myasthenie-Patienten helfen, bei dem sich die Symptome schnell verschlimmert hatten und der an Schluckbeschwerden litt. Um zu vermeiden, dass wir ihn im Falle einer Beeinträchtigung der Atemmuskulatur hätten intubieren müssen, schickten wir ihn ins städtische Krankenhaus. Unsere Hoffnung war, dass sie dort wenigstens Physiostigmin zur Verfügung haben würden
Polnisches Gesundheitssystem in den Grenzstädten kurz vor dem Zusammenbruch
Wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. Der Übersetzer, der ihn begleitete, erzählte uns von einer überstürzten und wenig einfühlsamen Aufnahme durch das örtliche Personal. Das ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass das gesamte polnische Gesundheitssystem in den Grenzstädten zur Ukraine am Rande des Zusammenbruchs steht und das Personal ausgebrannt ist.
Leider hat es schon Fälle von Kindesmissbrauch gegeben. Daniela Ovadia
Allein in Przemysl, einer Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern, sind in den letzten anderthalb Monaten schätzungsweise 3.000 Flüchtlinge pro Tag angekommen.
Fast alle Freiwilligen haben sich mit SARS-CoV-2 infiziert
COVID-19 ist vor Ort ein großes Problem, nur befasst sich niemand damit. Das Flüchtlingszentrum in Przemysl, das in einem stillgelegten Einkaufszentrum befindet, beherbergt etwa 4000 Menschen. Sie werden in ehemaligen Geschäften untergebracht, eine Fahne davor signalisiert das endgültige Reiseziel.
COVID-19 ist vor Ort ein großes Problem, nur befasst sich niemand damit. Daniela Ovadia
Es gibt keine Fenster, kein natürliches Licht und natürlich auch keine wirksamen Belüftungssysteme. Feldbetten nehmen jeden freien Platz ein, selbst in den Gängen.
Nur Freiwillige werden zu Beginn mit einem Antigen-Schnelltest untersucht, danach nie wieder. Die Verwendung von Masken ist nicht vorgesehen und in einer solchen Umgebung ohnehin fast unmöglich. Fast alle Freiwilligen haben sich infiziert oder rechnen damit, dass sie sich bald infizieren werden.
Viel Spielraum für Verbesserungen
Alles in allem war die Erfahrung heftiger und intensiver, als ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, ob wir mit unserer Absicht, zu helfen, Erfolg hatten. Sicher ist, dass es zumindest bei der medizinischen Grundversorgung noch sehr viel Spielraum für Verbesserungen gibt. Eine bessere Koordinierung zwischen den NGOs, den örtlichen Gesundheitszentren und dem endgültigen Bestimmungsort der Flüchtlinge ist ebenfalls erforderlich - vor allem, um den komplexesten Fällen die richtige Unterstützung zukommen zu lassen.
Psychologische Betreuung braucht bessere Koordination
Der psychologische Aspekt ist von grundlegender Bedeutung, um die Verfestigung posttraumatischer Belastungsstörungen zu vermeiden. Er wird jedoch nur von ehrenamtlichen Mitarbeitern übernommen, deren Fähigkeiten begrenzt sind. Es wäre auch an dieser Stelle hilfreich, professionelle Maßnahmen unter der Leitung von Notfallexperten besser zu koordinieren.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.it und wurde von Michael van den Heuvel übersetzt.
Als ich in Mailand mit einem Sanitäter des Zivilschutzes und einem Neurologen des Niguarda-Krankenhauses ins Auto gestiegen bin, um an die polnisch-ukrainische Grenze zu fahren, hatte ich keine besonderen Erwartungen. Ich wollte nur dieses Gefühl der Hilflosigkeit bekämpfen, das ich habe, seit ich den Krieg Russlands gegen die Ukraine vom Sofa meines Wohnzimmers aus verfolge.
Dringend benötigte Medikamente für Przemysl
Unsere Aufgabe war, dringend benötigte Medikamente von der Universität Pavia und von privaten Spendern in die polnische Stadt Przemysl (sprich: Pshemishl) zu bringen. Dort gibt es ein Durchgangszentrum für ukrainische Flüchtlinge. Sowohl meine Aufgabe als auch mein Bestimmungsort waren vor allem dem Zufall geschuldet.
Ich hatte Kontakte zu einer Gruppe, die innerhalb des Flüchtlingszentrums einen kleinen Kindergarten betreibt. Er ermöglicht es Müttern, die von ihrer oft tagelangen Reise erschöpft sind, ihre Kinder für ein paar Stunden in vertrauenswürdige Hände zu geben. Sie brauchen diese Zeit, auch um sich um Dokumente zu kümmern und Asylanträge vorzubereiten.
In 19 Stunden von Mailand bis an die ukrainische Grenze
Der Weg von Mailand bis zur ukrainischen Grenze ist lang. Die Reise dauert 19 Stunden, einschließlich Pausen, und führt durch Österreich, Ungarn, die Tschechische Republik und ganz Polen.
Weder ich, die als Redakteurin von Univadis Italia und als Forscherin an der Universität arbeitet, noch meine Begleiter hatten zuvor Erfahrungen mit freiwilliger Arbeit als Sanitäter vor Ort gemacht. Aber wir hatten gehört, dass die Zahl der Flüchtlinge weiter steige und dass jeder mit medizinischem Fachwissen willkommen sei.
Sich nützlich machen ? ein Weg aus der Hilfslosigkeit?
Eine freie Woche über die Osterfeiertage schien die perfekte Gelegenheit zu sein, um zu sehen, ob wir uns nützlich machen könnten. Selbst wenn wir vielleicht nur bei der Verteilung von Kleidung und warmen Speisen helfen sollten.
Grenzübergang zwischen Polen und der Ukraine in Medyka: Nach dem Grenzübertritt warten Sanitäts- und Schutzzelte verschiedener NGOs auf die Flüchtlinge, die es nicht mehr weiter bis ins Durchgangszentrum in Przemysl schaffen. ©
Zum medizinischen Wachdienst direkt an die Grenze
Vor Ort angekommen hatten wir nicht einmal Zeit, um uns als Freiwillige im Flüchtlingszentrum zu registrieren. Unser lokaler Kontakt rief an, weil die französisch-israelische NGO Rescuers Without Borders dringend nach medizinischem Personal suchte. Die Organisation betreibt ein Sanitätszelt an der Grenze zur Ukraine in der nahe Przemysl gelegenen Stadt Medyka und hatte Wachdienste zu besetzen. Wir sagten zu, noch bevor wir genau wussten, worauf wir uns einließen.
Nachdem unsere berufliche Qualifikation überprüft worden war, fanden wir uns in einem Armeezelt wieder. Es war direkt neben dem Grenztor auf einer im Schlamm sitzenden Holzplattform aufgestellt worden. Daneben befand sich ein großes Schutzzelt, in dem die NGO Frauen und Kinder notversorgte, die zu müde waren, um zum Flüchtlingszentrum zu gelangen.
Erste Hilfe an der Grenze: Eine Medizinjournalistin und Ärztin hat ukrainischen Flüchtlingen in Polen geholfen. Hier ihr Bericht ?
Daniela Ovadia ? Agenzia Zoe
INTERESSENKONFLIKTE 5. Mai 2022
0
Eine lange Reihe von Zelten säumt die Straße
Die Sanitätsstation von Rescuers without Borders in Medyka ist Teil einer langen Reihe von Zelten, welche die Straße entlang der Grenze säumen. Flüchtlinge, die mit Koffern und Tieren im Schlepptau zu Fuß aus der Ukraine kommen, haben keine andere Wahl, als sie zu passieren.
Selbst wenn die Sonne scheint, ist es dort immer noch eiskalt. Wer die Grenze überquert, hat oft schon mindestens 8 Stunden in der Schlange vor den Grenzkontrollen in der Kälte verbracht. Manche der Freiwilligen übernehmen die Verteilung von warmer Kleidung, Getränken und Lebensmitteln. Andere helfen mit SIM-Karten für kostenlose Telefonate, die die größten europäischen Telefongesellschaften zur Verfügung stellen.
Flüchtlinge warten auf der ukrainischen Seite der Grenze darauf, nach Polen einreisen zu dürfen ? oft über viele Stunden bei noch immer eisiger Kälte. © Daniela Ovadia
Basisversorgung an Medikamenten und Geräten
Den medizinischen Mitarbeitern vor Ort steht eine Basisapotheke zur Verfügung, die nach Vorgaben der Vereinten Nationen klassifizierte Notfallmedikamente enthält: entzündungshemmende und blutdrucksenkende Mittel, Insulin, einige orale Antidiabetika, Breitbandantibiotika, dermatologische Salben, Antiepileptika (vor allem Phenobarbital und Carbamazepin), Steroide und zahlreiche Anxiolytika sowie pädiatrische Formulierungen der gängigsten Medikamente. Außerdem gibt es eine Notfalltasche (die wir zum Glück nie benutzen mussten) und einen halbautomatischen Defibrillator.
Frauen, Kinder und ältere Menschen mit unterschiedlichen Leiden
Vor allem Frauen mit Kindern, die oft noch sehr klein sind, und ältere Menschen passieren die Grenze. Die meisten Personen, die wir behandeln mussten, hatten chronische Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. Sie waren oft während ihrer gesamten Flucht ohne medikamentöse Versorgung. In einigen Fällen ? etwa wenn sie aus Kriegsgebieten kamen ? sogar noch länger. Auch Angststörungen waren häufig, mit Atemnot oder richtigen Panikattacken.
Ich wollte nur dieses Gefühl der Hilflosigkeit bekämpfen Daniela Ovadia
Viele der geflüchteten Frauen begreifen erst, dass sie ihr Zuhause verloren haben, wenn sie sich tatsächlich in einem fremden Land widerfinden. Ihre Ehemänner und Lebensgefährten müssen sie in der Ukraine zurücklassen, da Männer im wehrfähigen Alter nicht ausreisen dürfen.
Decken und Laken, die schon von anderen benutzt wurden
Die Notunterkünfte sind recht gut ausgestattet. Dennoch schläft man auf behelfsmäßigen Pritschen mit Decken und Laken, die zuvor schon von anderen benutzt wurden.
Ältere Menschen leiden häufig an starken Gelenk- und Muskelschmerzen Daniela Ovadia
Ältere Menschen leiden häufig an starken Gelenk- und Muskelschmerzen. Sie sind die Folge tage- oder wochenlanger Aufenthalte in kalten Kellern, wo sie auf behelfsmäßigen Betten schlafen mussten, um sich vor den Bomben zu schützen. Häufig sind sie auch dehydriert und dekompensiert.
Sanitäts- und Schutzzelte am Grenzübergang Medyka: Viele Menschen überqueren die Grenze nach Polen mit ihren Haustieren. So bleibt es nicht aus, dann mancher Hilfsorganisationsmitarbeiter auch einmal beim Gassigehen aushilft. © Daniela Ovadia
Kriegsverletzungen sind bei den Flüchtlingen selten
Nur in 2 Fällen hatten wir es mit Kriegsverletzungen zu tun. Eine Frau kam vom Bahnhof Kramatorsk, der während des Transports eines Flüchtlingskonvois von Russen bombardiert worden war. Sie hatte einen Verband, der einen bläulich-roten, eindeutig infizierten und ödematösen Fuß verbarg. Wir nahmen an, dass ein Splitter aus Metall oder einem anderen Material in ihren Fuß eingedrungen war. Denn durch die Hitze der Explosion hatten sich noch andere Splitter mit dem Kunststoff ihres Anoraks verklebt.
Wir konnten ihr lediglich intravenös ein Antibiotikum verabreichen und sie zum polnischen Roten Kreuz schicken - in der Hoffnung, dass dort wenigstens ein Röntgenbild gemacht wird. Ein weiteres Opfer von Kriegsverletzungen war ein junger Mann, der mit einem klassischen Ödem als Folge einer Explosion vorgestellt wurde. Sanitäter hatten ihn mit Kompressionsverbänden behandelt.
Ärzte aller Fachrichtungen ohne spezielle Ausbildung
Man ist nie wirklich bereit, Kriegsverletzungen zu behandeln, aber man ist noch weniger darauf vorbereitet, wenn man nie eine spezifische Ausbildung in diesem Bereich erhalten hat. Die Ärzte, die in diesen vorübergehend von NGOs verwalteten Strukturen arbeiten, kommen aus verschiedenen Fachrichtungen.
Man ist nie wirklich bereit, Kriegsverletzungen zu behandeln Daniela Ovadia
Fast immer sind Internisten darunter, und zwar aus ganz unterschiedlichen Ländern. Wir haben mit einem indischen Arzt, mit 2 Amerikanern, mit 2 Israelis und mit einem französischen Arzt zusammengearbeitet. Oft sind sie nur für kurze Zeiträume, etwa 10 Tage bis zu 3 Wochen, vor Ort. Ihnen steht eine medizinische Grundausstattung zur Verfügung, die für echte Notfälle nicht geeignet ist.
Das Sanitätszelt der NGO Rescuers without Borders am Grenzübergang in Medyka steht auf einer im Schlamm sitzenden Holzplattform. © Daniela Ovadia
Den freiwilligen Hilfskräften steht im Sanitätszelt eine Grundausstattung an medizinischem Material und Medikamenten zur Verfügung, zur Behandlung von Notfällen ausgerüstet ist es nicht. © Daniela Ovadia
Viele Medikamente fehlen
Ein weit verbreitetes Problem war der Mangel an Medikamenten. Von den Vereinten Nationen empfohlene Kits enthalten zwar wichtige Wirkstoffe. Diese decken aber nicht einmal annähernd das breite Spektrum an Verodnungen ab, mit denen die Patienten zu uns ins Zelt kamen. Es ist nicht immer möglich, ein Medikament durch ein anderes zu ersetzen - zumindest nicht ohne einen angemessenen Beobachtungszeitraum oder eine überlappende Behandlung. Beides war in unserer Situation nicht möglich.
Ein weit verbreitetes Problem war der Mangel an Medikamenten Daniela Ovadia
Der komplizierteste Fall, mit dem wir uns befassen mussten, war eine junge Epilepsiepatientin, die in der Warteschlange an der Grenze einen Anfall erlitt. Wir hatten ihre Medikamente nicht zur Hand. Nur dank eines Glücksfalls und dank der Hartnäckigkeit einiger Freiwilliger, die buchstäblich alle örtlichen medizinischen Zentren absuchten, konnten wir einige der fehlenden Medikamente beschaffen. Die Frau war mit ihrem 10-jährigen Sohn im Schlepptau unterwegs, und nach einer Nacht unter Beobachtung im Sanitätszelt setzte sie ihre Reise zu ihrem Zielort in Deutschland fort.
Belastete Mütter, gefährdete Kinder
Oft mussten wir bei der Auswahl einer Behandlung auch die Verantwortlichkeiten der Patienten berücksichtigen: Bei alleinerziehenden Müttern mit einem oder mehreren Kindern können bewusstseinsverändernde oder schläfrig machende Medikamente wie Benzodiazepine nicht verabreicht werden. Denn leider hat es schon Fälle von Kindesmissbrauch gegeben und es gibt nicht ausreichend Personal, das sich um die Kleinen kümmern kann, während sich die Eltern ausruhen.
Schlechte Chancen bei seltenen Erkrankungen
Medikamente gegen seltene Erkrankungen waren nirgends zu finden, obwohl sie lebensrettend sein können. Wir mussten einem Myasthenie-Patienten helfen, bei dem sich die Symptome schnell verschlimmert hatten und der an Schluckbeschwerden litt. Um zu vermeiden, dass wir ihn im Falle einer Beeinträchtigung der Atemmuskulatur hätten intubieren müssen, schickten wir ihn ins städtische Krankenhaus. Unsere Hoffnung war, dass sie dort wenigstens Physiostigmin zur Verfügung haben würden
Polnisches Gesundheitssystem in den Grenzstädten kurz vor dem Zusammenbruch
Wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. Der Übersetzer, der ihn begleitete, erzählte uns von einer überstürzten und wenig einfühlsamen Aufnahme durch das örtliche Personal. Das ist durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass das gesamte polnische Gesundheitssystem in den Grenzstädten zur Ukraine am Rande des Zusammenbruchs steht und das Personal ausgebrannt ist.
Leider hat es schon Fälle von Kindesmissbrauch gegeben. Daniela Ovadia
Allein in Przemysl, einer Stadt mit etwa 60.000 Einwohnern, sind in den letzten anderthalb Monaten schätzungsweise 3.000 Flüchtlinge pro Tag angekommen.
Fast alle Freiwilligen haben sich mit SARS-CoV-2 infiziert
COVID-19 ist vor Ort ein großes Problem, nur befasst sich niemand damit. Das Flüchtlingszentrum in Przemysl, das in einem stillgelegten Einkaufszentrum befindet, beherbergt etwa 4000 Menschen. Sie werden in ehemaligen Geschäften untergebracht, eine Fahne davor signalisiert das endgültige Reiseziel.
COVID-19 ist vor Ort ein großes Problem, nur befasst sich niemand damit. Daniela Ovadia
Es gibt keine Fenster, kein natürliches Licht und natürlich auch keine wirksamen Belüftungssysteme. Feldbetten nehmen jeden freien Platz ein, selbst in den Gängen.
Nur Freiwillige werden zu Beginn mit einem Antigen-Schnelltest untersucht, danach nie wieder. Die Verwendung von Masken ist nicht vorgesehen und in einer solchen Umgebung ohnehin fast unmöglich. Fast alle Freiwilligen haben sich infiziert oder rechnen damit, dass sie sich bald infizieren werden.
Viel Spielraum für Verbesserungen
Alles in allem war die Erfahrung heftiger und intensiver, als ich erwartet hatte. Ich weiß nicht, ob wir mit unserer Absicht, zu helfen, Erfolg hatten. Sicher ist, dass es zumindest bei der medizinischen Grundversorgung noch sehr viel Spielraum für Verbesserungen gibt. Eine bessere Koordinierung zwischen den NGOs, den örtlichen Gesundheitszentren und dem endgültigen Bestimmungsort der Flüchtlinge ist ebenfalls erforderlich - vor allem, um den komplexesten Fällen die richtige Unterstützung zukommen zu lassen.
Psychologische Betreuung braucht bessere Koordination
Der psychologische Aspekt ist von grundlegender Bedeutung, um die Verfestigung posttraumatischer Belastungsstörungen zu vermeiden. Er wird jedoch nur von ehrenamtlichen Mitarbeitern übernommen, deren Fähigkeiten begrenzt sind. Es wäre auch an dieser Stelle hilfreich, professionelle Maßnahmen unter der Leitung von Notfallexperten besser zu koordinieren.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.it und wurde von Michael van den Heuvel übersetzt.
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