Dienstag, 25. März 2025
Gelenkschmerzen? Arthrose? Arthritis? So gut lindert Aktivität die Schmerzen
che2001, 16:45h
Ergebnisse aus Metanalysen und Tipps für den Alltag
Lucy Hicks, Medscape
Regelmäßige Bewegung ist auch bei Arthrose wichtig, aber für Menschen mit schmerzenden Gelenken oft eine Herausforderung. Dabei gilt Sport als Schlüssel zur Arthrose-Therapie. Trotzdem bleiben fast 1 Drittel aller Patienten inaktiv.
Die zentralen Fragen: Wie viel Bewegung ist ideal? Und wie lassen sich Patienten motivieren? Medscape hat mit Experten über Aspekte des Arthrose-Managements gesprochen.
Warum Aktivität der beste Schutz ist
Sport ist eine effektive Therapie, besonders für Menschen mit Arthrose. Studien zeigen, dass regelmäßige Bewegung Schmerzen lindern, die Gelenkfunktion verbessern und den Muskelabbau verringern bzw. verhindern kann. Wer aktiv bleibt, schützt seine Gelenke und kann langfristige Schäden hinauszögern.
Fast alle medizinischen Fachgesellschaften sind sich einig: Bewegung ist essenziell für die Arthrose-Therapie. 2 große Cochrane-Studien bestätigen, dass gezielte körperliche Aktivität nicht nur die Schmerzen bei Hüft- und Kniearthrose verringert, sondern auch die Mobilität verbessert. Und laut den US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) kann körperliche Aktivität bei Erwachsenen mit Arthritis Schmerzen um 40% lindern, aber auch die Funktionsfähigkeit in relevantem Umfang verbessern.
Neue Studien zeigen, dass Bewegung sogar die Gelenkstruktur positiv beeinflussen kann. Eine Untersuchung mit 1.200 Kniearthrose-Patienten ergab: Regelmäßiges Gehen verringerte nicht nur die Häufigkeit von chronischen Knieschmerzen, sondern senkte auch das Risiko für eine Gelenkspaltverengung um 20% – ein Indikator, dass die Krankheit voranschreitet.
Darüber hinaus schützt körperliche Aktivität vor chronischen Krankheiten, die oft mit Arthrose einhergehen, etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes. Eine in der Zeitschrift Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy veröffentlichte Analyse zeigt, dass Bewegung hilft, mindestens 35 chronische Erkrankungen zu vermeiden und mindestens 26 bestehende Krankheiten zu behandeln – unter anderem durch die entzündungshemmende Wirkung von Sport.
Nicht nur der Körper profitiert von Sport. Auch die mentale Gesundheit wird durch Bewegung gestärkt. Studien belegen, dass Depressionen und Angstzustände bei Arthrose-Patienten häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Körperliche Aktivität kann dabei helfen, Stress abzubauen, die Stimmung zu heben und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern.
Bewegung bei Arthrose: Jeder Schritt zählt
Bleibt als Problem, dass viele Menschen mit chronischen Schmerzen denken, das in Leitlinien empfohlene Pensum von 150 Minuten moderater Bewegung pro Woche sei unerreichbar. Doch die gute Nachricht ist: Jede Bewegung ist besser als keine – und selbst wenige Schritte pro Tag sind nützlich.
Eine große Studie mit über 1.500 Erwachsenen mit Gelenkbeschwerden an den unteren Gliedmaßen hat gezeigt, dass bereits 1 Stunde Bewegung pro Woche das Risiko für körperliche Einschränkungen über 4 Jahre hinweg deutlich verringern kann.
Auch Krafttraining bringt große Vorteile. Eine Analyse von 280 Studien bestätigt, dass das Training über 3 bis 6 Monate hinweg zu einer spürbaren Schmerzreduktion und einer besseren Gelenkfunktion führt – unabhängig davon, wie oft oder wie intensiv trainiert wurde. Es kommt also nicht auf Perfektion oder strikte Trainingspläne an, sondern darauf, überhaupt aktiv zu werden.
Ein praktikabler Weg, Bewegung in den Alltag zu integrieren, ist das Zählen von Schritten. Oft lesen Patienten, sie sollten auf 10.000 Schritte pro Tag kommen. Studien zufolge bringen aber schon weniger Schritte gesundheitliche Vorteile.
Eine Untersuchung mit fast 1.800 Menschen mit Kniearthrose belegt:
1.000 zusätzliche Schritte pro Tag senken das Risiko für funktionelle Einschränkungen in den nächsten 2 Jahren um 16 bis 18%.
6.000 Schritte täglich gelten als wichtiger Schwellenwert, ab dem das Risiko für künftige Einschränkungen deutlich verringert wird.
Ärzte sollten „Patienten mit chronischen Schmerzen ermutigen, indem sie ihne erklären: 6.000 Schritte am Tag sind ein erreichbares und sinnvolles Ziel“, so Prof. Dr. Kelli Allen, Professorin für Medizin und Sportphysiologin an der University of North Carolina.
So gelingt der Einstieg in einen aktiven Alltag
„Es gibt keine speziellen Übungen, die am besten gegen Osteoarthritis geeignet sind, es kommt also auf die Vorlieben des Patienten an“, sagt Allen. Der 1. Schritt zur regelmäßigen Bewegung sei oft der schwerste – besonders für Menschen, die bislang wenig aktiv gewesen seien oder durch Schmerzen starke Einschränkungen hätten.
Doch Experten sind sich einig: Kleine, machbare Veränderungen sind der Schlüssel zu einem gesünderen Lebensstil. Es muss nicht gleich ein intensives Trainingsprogramm sein. Bereits kleine Anpassungen im Alltag können große Wirkung zeigen.
Dr. Grace H. Lo, Dozentin für Immunologie, Allergie und Rheumatologie am Baylor College of Medicine in Houston, empfiehlt einen sanften Einstieg, der sich mühelos in den Tagesablauf integrieren lässt. Schon 3-mal pro Woche 20 Minuten Spazierengehen können die Beweglichkeit spürbar verbessern. Dabei ist es nicht entscheidend, möglichst viele Kilometer zurückzulegen, sondern in Bewegung zu bleiben.
Einige Tipps der Expertin:
Kurze Strecken zu Fuß statt mit dem Auto zurücklegen.
Eine Bushaltestelle früher aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß gehen.
Beim Telefonieren durch den Raum laufen statt zu sitzen.
„Patienten sollten Möglichkeiten auswählen, die ihnen leicht fallen und sich mühelos in ihren Alltag integrieren lassen“, erklärt Lo. Je einfacher eine Änderung alter Gewohnheiten sei, desto wahrscheinlicher werde sie beibehalten – und desto besser seien auch die langfristigen Effekte.
Welche Übungen sind am besten bei Arthrose?
Una Makris, Dozentin für Innere Medizin an der University of Texas, setzt auf eine Kombination aus Aerobic, Gleichgewichtstraining und Krafttraining, wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen. Ihre Erfahrung zeigt, dass gelenkschonende Aktivitäten wie Radfahren, Spazierengehen oder Schwimmen besonders geeignet sind.
Doch Bewegung kann auch unkonventionell sein. Gartenarbeit, so Dr. Lo, sei ideal für Menschen mit Arthrose. Neben der körperlichen Betätigung biete sie auch Vorteile für die mentale Gesundheit. Menschen seien häufiger an der frischen Luft.
Je nach individuellen Bedürfnissen könnten auch Yoga oder Tai-Chi eine sinnvolle Ergänzung sein – besonders für Menschen mit Gleichgewichtsproblemen, so Allen. Wichtig ist: Es gibt keine perfekte Übung – die beste Bewegung ist die, die regelmäßig gemacht wird.
So motivieren Sie Ihre Patienten
Für Ärzte bleibt als Frage, wie sie Patienten motivieren, sich mehr zu bewegen, und zwar langfristig. „Es gibt nicht die eine Methode, die für alle funktioniert“, sagt Makris. Der Schlüssel liege darin, herauszufinden, was Patienten wirklich wichtig sei – und woran sie Spaß hätten. Dann steige die Motivation automatisch.
Auch die SMART-Methode gilt als effektiv. Ziele, die sich Menschen stecken, müssen spezifisch (S), messbar (M), erreichbar (achievable, A), realistisch (R) und terminiert (T, also zeitlich planbar) sein.
Lo rät, Bewegung so praktisch und alltagstauglich wie möglich zu gestalten. Patienten brauchen Lösungen, die sich problemlos in ihren Tagesablauf integrieren lassen, ohne als zusätzliche Belastung empfunden zu werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Bewegung sollte ein fester Bestandteil ärztlicher Gespräche sein. Lo und Makris sind sich einig, dass Erfolge gewürdigt und Ziele regelmäßig überprüft werden sollten. So bleibt Bewegung nicht nur eine Empfehlung, sondern wird zu einer Gewohnheit.
Dieser Beitrag ist im Original erschienen auf Medscape.com.
Lucy Hicks, Medscape
Regelmäßige Bewegung ist auch bei Arthrose wichtig, aber für Menschen mit schmerzenden Gelenken oft eine Herausforderung. Dabei gilt Sport als Schlüssel zur Arthrose-Therapie. Trotzdem bleiben fast 1 Drittel aller Patienten inaktiv.
Die zentralen Fragen: Wie viel Bewegung ist ideal? Und wie lassen sich Patienten motivieren? Medscape hat mit Experten über Aspekte des Arthrose-Managements gesprochen.
Warum Aktivität der beste Schutz ist
Sport ist eine effektive Therapie, besonders für Menschen mit Arthrose. Studien zeigen, dass regelmäßige Bewegung Schmerzen lindern, die Gelenkfunktion verbessern und den Muskelabbau verringern bzw. verhindern kann. Wer aktiv bleibt, schützt seine Gelenke und kann langfristige Schäden hinauszögern.
Fast alle medizinischen Fachgesellschaften sind sich einig: Bewegung ist essenziell für die Arthrose-Therapie. 2 große Cochrane-Studien bestätigen, dass gezielte körperliche Aktivität nicht nur die Schmerzen bei Hüft- und Kniearthrose verringert, sondern auch die Mobilität verbessert. Und laut den US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) kann körperliche Aktivität bei Erwachsenen mit Arthritis Schmerzen um 40% lindern, aber auch die Funktionsfähigkeit in relevantem Umfang verbessern.
Neue Studien zeigen, dass Bewegung sogar die Gelenkstruktur positiv beeinflussen kann. Eine Untersuchung mit 1.200 Kniearthrose-Patienten ergab: Regelmäßiges Gehen verringerte nicht nur die Häufigkeit von chronischen Knieschmerzen, sondern senkte auch das Risiko für eine Gelenkspaltverengung um 20% – ein Indikator, dass die Krankheit voranschreitet.
Darüber hinaus schützt körperliche Aktivität vor chronischen Krankheiten, die oft mit Arthrose einhergehen, etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes. Eine in der Zeitschrift Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy veröffentlichte Analyse zeigt, dass Bewegung hilft, mindestens 35 chronische Erkrankungen zu vermeiden und mindestens 26 bestehende Krankheiten zu behandeln – unter anderem durch die entzündungshemmende Wirkung von Sport.
Nicht nur der Körper profitiert von Sport. Auch die mentale Gesundheit wird durch Bewegung gestärkt. Studien belegen, dass Depressionen und Angstzustände bei Arthrose-Patienten häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Körperliche Aktivität kann dabei helfen, Stress abzubauen, die Stimmung zu heben und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern.
Bewegung bei Arthrose: Jeder Schritt zählt
Bleibt als Problem, dass viele Menschen mit chronischen Schmerzen denken, das in Leitlinien empfohlene Pensum von 150 Minuten moderater Bewegung pro Woche sei unerreichbar. Doch die gute Nachricht ist: Jede Bewegung ist besser als keine – und selbst wenige Schritte pro Tag sind nützlich.
Eine große Studie mit über 1.500 Erwachsenen mit Gelenkbeschwerden an den unteren Gliedmaßen hat gezeigt, dass bereits 1 Stunde Bewegung pro Woche das Risiko für körperliche Einschränkungen über 4 Jahre hinweg deutlich verringern kann.
Auch Krafttraining bringt große Vorteile. Eine Analyse von 280 Studien bestätigt, dass das Training über 3 bis 6 Monate hinweg zu einer spürbaren Schmerzreduktion und einer besseren Gelenkfunktion führt – unabhängig davon, wie oft oder wie intensiv trainiert wurde. Es kommt also nicht auf Perfektion oder strikte Trainingspläne an, sondern darauf, überhaupt aktiv zu werden.
Ein praktikabler Weg, Bewegung in den Alltag zu integrieren, ist das Zählen von Schritten. Oft lesen Patienten, sie sollten auf 10.000 Schritte pro Tag kommen. Studien zufolge bringen aber schon weniger Schritte gesundheitliche Vorteile.
Eine Untersuchung mit fast 1.800 Menschen mit Kniearthrose belegt:
1.000 zusätzliche Schritte pro Tag senken das Risiko für funktionelle Einschränkungen in den nächsten 2 Jahren um 16 bis 18%.
6.000 Schritte täglich gelten als wichtiger Schwellenwert, ab dem das Risiko für künftige Einschränkungen deutlich verringert wird.
Ärzte sollten „Patienten mit chronischen Schmerzen ermutigen, indem sie ihne erklären: 6.000 Schritte am Tag sind ein erreichbares und sinnvolles Ziel“, so Prof. Dr. Kelli Allen, Professorin für Medizin und Sportphysiologin an der University of North Carolina.
So gelingt der Einstieg in einen aktiven Alltag
„Es gibt keine speziellen Übungen, die am besten gegen Osteoarthritis geeignet sind, es kommt also auf die Vorlieben des Patienten an“, sagt Allen. Der 1. Schritt zur regelmäßigen Bewegung sei oft der schwerste – besonders für Menschen, die bislang wenig aktiv gewesen seien oder durch Schmerzen starke Einschränkungen hätten.
Doch Experten sind sich einig: Kleine, machbare Veränderungen sind der Schlüssel zu einem gesünderen Lebensstil. Es muss nicht gleich ein intensives Trainingsprogramm sein. Bereits kleine Anpassungen im Alltag können große Wirkung zeigen.
Dr. Grace H. Lo, Dozentin für Immunologie, Allergie und Rheumatologie am Baylor College of Medicine in Houston, empfiehlt einen sanften Einstieg, der sich mühelos in den Tagesablauf integrieren lässt. Schon 3-mal pro Woche 20 Minuten Spazierengehen können die Beweglichkeit spürbar verbessern. Dabei ist es nicht entscheidend, möglichst viele Kilometer zurückzulegen, sondern in Bewegung zu bleiben.
Einige Tipps der Expertin:
Kurze Strecken zu Fuß statt mit dem Auto zurücklegen.
Eine Bushaltestelle früher aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß gehen.
Beim Telefonieren durch den Raum laufen statt zu sitzen.
„Patienten sollten Möglichkeiten auswählen, die ihnen leicht fallen und sich mühelos in ihren Alltag integrieren lassen“, erklärt Lo. Je einfacher eine Änderung alter Gewohnheiten sei, desto wahrscheinlicher werde sie beibehalten – und desto besser seien auch die langfristigen Effekte.
Welche Übungen sind am besten bei Arthrose?
Una Makris, Dozentin für Innere Medizin an der University of Texas, setzt auf eine Kombination aus Aerobic, Gleichgewichtstraining und Krafttraining, wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen. Ihre Erfahrung zeigt, dass gelenkschonende Aktivitäten wie Radfahren, Spazierengehen oder Schwimmen besonders geeignet sind.
Doch Bewegung kann auch unkonventionell sein. Gartenarbeit, so Dr. Lo, sei ideal für Menschen mit Arthrose. Neben der körperlichen Betätigung biete sie auch Vorteile für die mentale Gesundheit. Menschen seien häufiger an der frischen Luft.
Je nach individuellen Bedürfnissen könnten auch Yoga oder Tai-Chi eine sinnvolle Ergänzung sein – besonders für Menschen mit Gleichgewichtsproblemen, so Allen. Wichtig ist: Es gibt keine perfekte Übung – die beste Bewegung ist die, die regelmäßig gemacht wird.
So motivieren Sie Ihre Patienten
Für Ärzte bleibt als Frage, wie sie Patienten motivieren, sich mehr zu bewegen, und zwar langfristig. „Es gibt nicht die eine Methode, die für alle funktioniert“, sagt Makris. Der Schlüssel liege darin, herauszufinden, was Patienten wirklich wichtig sei – und woran sie Spaß hätten. Dann steige die Motivation automatisch.
Auch die SMART-Methode gilt als effektiv. Ziele, die sich Menschen stecken, müssen spezifisch (S), messbar (M), erreichbar (achievable, A), realistisch (R) und terminiert (T, also zeitlich planbar) sein.
Lo rät, Bewegung so praktisch und alltagstauglich wie möglich zu gestalten. Patienten brauchen Lösungen, die sich problemlos in ihren Tagesablauf integrieren lassen, ohne als zusätzliche Belastung empfunden zu werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Bewegung sollte ein fester Bestandteil ärztlicher Gespräche sein. Lo und Makris sind sich einig, dass Erfolge gewürdigt und Ziele regelmäßig überprüft werden sollten. So bleibt Bewegung nicht nur eine Empfehlung, sondern wird zu einer Gewohnheit.
Dieser Beitrag ist im Original erschienen auf Medscape.com.
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Montag, 10. März 2025
Wie normal ist Anderssein?
che2001, 16:50h
Konzept der Neurodiversität hilft Patienten mit ADHS, Leseschwäche und anderen Syndromen
Von Ute Eppinger, Medscape
Interessenkonflikte 10. März 2025
Wie normal ist Anderssein? Menschliche Gehirne sind wie Schneeflocken: Von weitem sehen sie alle gleich aus. Aber bei näherer Betrachtung sieht die Sache anders aus.
„Wir können mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen: Es gibt keine 2 Personen, deren Gehirn sich gleicht. Und das ist die Grundlage für Neurodiversität“, erklärt Prof. Dr. André Frank Zimpel, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Leiter des Zentrums für Neuro-Diversitäts-Forschung an der Universität Hamburg. Menschen denken unterschiedlich und stellen auf verschiedene Weisen Bezug zur Welt her.
Grob geschätzt leben in Deutschland mehr als 4 Millionen Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und circa 1 Million Menschen mit Diagnosen (bzw. fehlenden Diagnosen) im Autismus-Spektrum, so Zimpel. Bei seinen Studien stelle er immer wieder fest, dass Menschen mit verschiedenen Syndromen – ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche, Synästhesie oder Dyskalkulie – keine Lernbehinderung haben, sondern „einen anderen Bezug zur Welt“ herstellen, erklärt Zimpel.
Die Neurodiversitätsbewegung entstand in den USA durch autistische Aktivistinnen, die sich seit Anfang der 1990er-Jahre für die Rechte neurodivergenter Menschen engagieren und Kritik an der vorherrschenden Meinung äußerten, neurologische Diversität sei inhärent pathologisch.
2 Begriffe und ihre Konzepte: Neurodiversität und Neurodivergenz
Während der Begriff Neurodiversität darauf verweist, dass alle Menschen unterschiedliche Gehirne haben, grundsätzlich also eine neurologische Vielfalt auf der Welt herrscht, bezieht sich Neurodivergenz auf Menschen, deren neurokognitive Funktionen von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen abweichen.
Dabei verleugne das Konzept der Neurodiversität weder, dass Autismus mit Einschränkungen einhergeht in einer Welt, die nicht für autistische Menschen gemacht ist, noch, dass eine Behinderung vorliegen könne, schreibt der 2019 gegründete Verein NeuroDivers e.V. Der Schwerpunkt wird aber auf Akzeptanz und den Abbau von Barrieren gelegt statt auf Ausgrenzen und Anpassung. Neurodiversität ist keine medizinische Diagnose, für Betroffene ist es aber mehr als ein Label: eine Form der Selbstermächtigung.
Konzept der Neurodiversität für viele hilfreich und entstigmatisierend …
„Ich denke schon, dass das Konzept der Neurodiversität für viele Menschen sehr hilfreich und entstigmatisierend ist“, sagt Prof. Dr. Georg Schomerus, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig, im Gespräch mit Medscape. Es sei viel leichter, sich auf einem solchen Spektrum einzuordnen, als in Kategorien. „Ein solches Konzept ermöglicht auch eine differenzierte Betrachtungsweise: Dass ein Mensch eben bestimmte Schwierigkeiten oder Besonderheiten oder einfach andere Fähigkeiten aufweist.“
Früher identifizierte man Kinder mit Problemen vor allem mit ihren Störungsbildern und bezeichnete sie als Autisten, als ADHS-Betroffene oder als Legastheniker. Die Vertreter des Konzepts Neurodiversität möchten, dass auch die Stärken der Betroffenen gesehen werden. Sie vermeiden deshalb Begriffe wie Krankheit und Störung, auch wenn die Kinder mit erheblichen Beeinträchtigungen der Gesundheit und im Alltag zu kämpfen haben.
Bei leichten Formen gelingt das natürlich besser. So kann sich zum Beispiel ein Kind mit ADHS in der Schule zwar schwerer konzentrieren als andere Kinder. Es ist aber möglicherweise gleichzeitig besonders kreativ oder mitreißend.
Die Chancen und Grenzen des Konzepts sind in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) immer wieder Thema: Auf dem DGPPN-Kongress 2022 fand das 1. Diskussionsforum zum Thema Neurodiversität statt.
Die Chancen der Neurodiversität in der Medizin wurden in einem vor Kurzem in JAMA erschienenen Meinungsartikel erörtert. Dr. Roy Hamilton, Neurologe an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, und seine Kollegen werben darin für den Aufbau einer integrativen Ärzteschaft. Übereinstimmende Belege zeigten, dass vielfältige und integrative Arbeitsumgebungen oft besser sind als homogene Arbeitsumgebungen, denn eine größere Vielfalt an Hintergründen und Lebenserfahrungen schaffe ein breiteres Spektrum an Perspektiven, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, schreiben die Autoren.
… bildet das Problem aber nicht vollständig ab
Allerdings, erinnert Schomerus, schließt das Spektrum auch Extreme ein: Menschen, die sehr schwer betroffen sind, beispielsweise Mensch mit schwerem Autismus. Schomerus glaubt nicht, dass speziell diese Menschen von der Entstigmatisierung tatsächlich profitieren. „Menschen mit einem relativ hohen Funktionsniveau, die sich gut als neurodivers positionieren können, prägen das Bild von Neurodiversität und Neurodivergenz. Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer, weil Neurodiversität entsprechend konnotiert ist und man das schwere Ende des Spektrums nicht mehr sieht.“
Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer. Prof. Dr. Georg Schomerus
Zumindest, so Schomerus, bestehe die Gefahr, dass das passiert. Zu beobachten ist dies auch bei anderen psychischen Erkrankungen. Während Depressionen eher entstigmatisiert wurden – auch, weil viele Menschen depressive Episoden aus eigener Anschauung kennen – sind schwere Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie nicht entstigmatisiert und werden nach wie vor mit Gefährlichkeit u.ä. assoziiert.
Fördert das Konzept die Ablehnung von Hilfsangeboten?
Schomerus erinnert auch an Menschen, die versuchen, ihre ausgeprägte ADHS im Selbstversuch mit Stimulanzien zu therapieren, weil sie merken, dass sie sich dann besser fühlen. Um an diese Substanzen zu gelangen, wird ein Teil dieser Menschen kriminell. „Das ist eine Gruppe, die von solchen Neurodiversitäts-Debatten völlig ausgeschlossen ist. Dabei bezahlen gerade diese Menschen einen hohen Preis für ihre Besonderheit“, erklärt Schomerus.
„Als Psychiater muss man immer auf die Menschen achten, die es besonders schwer haben und auf diejenigen, die besonders schwierig sind – wir müssen uns gerade um diese Betroffenen gut kümmern. Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob die Popularität des Konzepts den schwer Betroffenen wirklich nützt.“
Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Prof. Dr. Georg Schomerus
Für ein Scheinargument hält Schomerus hingegen Bedenken von Kritikern, dass das Konzept Neurodiversität dazu führen könnte, dass sich Menschen mit beispielsweise ausgeprägter ADHS mit ihren Problemen arrangieren und sich gegenüber sinnvollen Hilfsangeboten verschließen könnten. „Das glaube ich nicht. Der soziale Druck – nehmen wir das Beispiel Pünktlichkeit – ist ja vorhanden, sozialer Druck verschwindet durch ein solches Label ja nicht“, erklärt Schomerus. Wenn das Konzept dazu beitrage, den Anpassungsdruck auf die Betroffenen ein bisschen zu verringern, sei das entlastend und eher positiv zu bewerten.
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914759?ecd=WNL_mdplsfeat_250310_mscpedit_de_etid7282775&uac=&impID=7282775
Von Ute Eppinger, Medscape
Interessenkonflikte 10. März 2025
Wie normal ist Anderssein? Menschliche Gehirne sind wie Schneeflocken: Von weitem sehen sie alle gleich aus. Aber bei näherer Betrachtung sieht die Sache anders aus.
„Wir können mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen: Es gibt keine 2 Personen, deren Gehirn sich gleicht. Und das ist die Grundlage für Neurodiversität“, erklärt Prof. Dr. André Frank Zimpel, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Leiter des Zentrums für Neuro-Diversitäts-Forschung an der Universität Hamburg. Menschen denken unterschiedlich und stellen auf verschiedene Weisen Bezug zur Welt her.
Grob geschätzt leben in Deutschland mehr als 4 Millionen Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und circa 1 Million Menschen mit Diagnosen (bzw. fehlenden Diagnosen) im Autismus-Spektrum, so Zimpel. Bei seinen Studien stelle er immer wieder fest, dass Menschen mit verschiedenen Syndromen – ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche, Synästhesie oder Dyskalkulie – keine Lernbehinderung haben, sondern „einen anderen Bezug zur Welt“ herstellen, erklärt Zimpel.
Die Neurodiversitätsbewegung entstand in den USA durch autistische Aktivistinnen, die sich seit Anfang der 1990er-Jahre für die Rechte neurodivergenter Menschen engagieren und Kritik an der vorherrschenden Meinung äußerten, neurologische Diversität sei inhärent pathologisch.
2 Begriffe und ihre Konzepte: Neurodiversität und Neurodivergenz
Während der Begriff Neurodiversität darauf verweist, dass alle Menschen unterschiedliche Gehirne haben, grundsätzlich also eine neurologische Vielfalt auf der Welt herrscht, bezieht sich Neurodivergenz auf Menschen, deren neurokognitive Funktionen von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen abweichen.
Dabei verleugne das Konzept der Neurodiversität weder, dass Autismus mit Einschränkungen einhergeht in einer Welt, die nicht für autistische Menschen gemacht ist, noch, dass eine Behinderung vorliegen könne, schreibt der 2019 gegründete Verein NeuroDivers e.V. Der Schwerpunkt wird aber auf Akzeptanz und den Abbau von Barrieren gelegt statt auf Ausgrenzen und Anpassung. Neurodiversität ist keine medizinische Diagnose, für Betroffene ist es aber mehr als ein Label: eine Form der Selbstermächtigung.
Konzept der Neurodiversität für viele hilfreich und entstigmatisierend …
„Ich denke schon, dass das Konzept der Neurodiversität für viele Menschen sehr hilfreich und entstigmatisierend ist“, sagt Prof. Dr. Georg Schomerus, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig, im Gespräch mit Medscape. Es sei viel leichter, sich auf einem solchen Spektrum einzuordnen, als in Kategorien. „Ein solches Konzept ermöglicht auch eine differenzierte Betrachtungsweise: Dass ein Mensch eben bestimmte Schwierigkeiten oder Besonderheiten oder einfach andere Fähigkeiten aufweist.“
Früher identifizierte man Kinder mit Problemen vor allem mit ihren Störungsbildern und bezeichnete sie als Autisten, als ADHS-Betroffene oder als Legastheniker. Die Vertreter des Konzepts Neurodiversität möchten, dass auch die Stärken der Betroffenen gesehen werden. Sie vermeiden deshalb Begriffe wie Krankheit und Störung, auch wenn die Kinder mit erheblichen Beeinträchtigungen der Gesundheit und im Alltag zu kämpfen haben.
Bei leichten Formen gelingt das natürlich besser. So kann sich zum Beispiel ein Kind mit ADHS in der Schule zwar schwerer konzentrieren als andere Kinder. Es ist aber möglicherweise gleichzeitig besonders kreativ oder mitreißend.
Die Chancen und Grenzen des Konzepts sind in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) immer wieder Thema: Auf dem DGPPN-Kongress 2022 fand das 1. Diskussionsforum zum Thema Neurodiversität statt.
Die Chancen der Neurodiversität in der Medizin wurden in einem vor Kurzem in JAMA erschienenen Meinungsartikel erörtert. Dr. Roy Hamilton, Neurologe an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, und seine Kollegen werben darin für den Aufbau einer integrativen Ärzteschaft. Übereinstimmende Belege zeigten, dass vielfältige und integrative Arbeitsumgebungen oft besser sind als homogene Arbeitsumgebungen, denn eine größere Vielfalt an Hintergründen und Lebenserfahrungen schaffe ein breiteres Spektrum an Perspektiven, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, schreiben die Autoren.
… bildet das Problem aber nicht vollständig ab
Allerdings, erinnert Schomerus, schließt das Spektrum auch Extreme ein: Menschen, die sehr schwer betroffen sind, beispielsweise Mensch mit schwerem Autismus. Schomerus glaubt nicht, dass speziell diese Menschen von der Entstigmatisierung tatsächlich profitieren. „Menschen mit einem relativ hohen Funktionsniveau, die sich gut als neurodivers positionieren können, prägen das Bild von Neurodiversität und Neurodivergenz. Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer, weil Neurodiversität entsprechend konnotiert ist und man das schwere Ende des Spektrums nicht mehr sieht.“
Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer. Prof. Dr. Georg Schomerus
Zumindest, so Schomerus, bestehe die Gefahr, dass das passiert. Zu beobachten ist dies auch bei anderen psychischen Erkrankungen. Während Depressionen eher entstigmatisiert wurden – auch, weil viele Menschen depressive Episoden aus eigener Anschauung kennen – sind schwere Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie nicht entstigmatisiert und werden nach wie vor mit Gefährlichkeit u.ä. assoziiert.
Fördert das Konzept die Ablehnung von Hilfsangeboten?
Schomerus erinnert auch an Menschen, die versuchen, ihre ausgeprägte ADHS im Selbstversuch mit Stimulanzien zu therapieren, weil sie merken, dass sie sich dann besser fühlen. Um an diese Substanzen zu gelangen, wird ein Teil dieser Menschen kriminell. „Das ist eine Gruppe, die von solchen Neurodiversitäts-Debatten völlig ausgeschlossen ist. Dabei bezahlen gerade diese Menschen einen hohen Preis für ihre Besonderheit“, erklärt Schomerus.
„Als Psychiater muss man immer auf die Menschen achten, die es besonders schwer haben und auf diejenigen, die besonders schwierig sind – wir müssen uns gerade um diese Betroffenen gut kümmern. Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob die Popularität des Konzepts den schwer Betroffenen wirklich nützt.“
Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Prof. Dr. Georg Schomerus
Für ein Scheinargument hält Schomerus hingegen Bedenken von Kritikern, dass das Konzept Neurodiversität dazu führen könnte, dass sich Menschen mit beispielsweise ausgeprägter ADHS mit ihren Problemen arrangieren und sich gegenüber sinnvollen Hilfsangeboten verschließen könnten. „Das glaube ich nicht. Der soziale Druck – nehmen wir das Beispiel Pünktlichkeit – ist ja vorhanden, sozialer Druck verschwindet durch ein solches Label ja nicht“, erklärt Schomerus. Wenn das Konzept dazu beitrage, den Anpassungsdruck auf die Betroffenen ein bisschen zu verringern, sei das entlastend und eher positiv zu bewerten.
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914759?ecd=WNL_mdplsfeat_250310_mscpedit_de_etid7282775&uac=&impID=7282775
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Donnerstag, 20. Februar 2025
Klinische Studie zu "Alterbremsen"
che2001, 16:48h
Mit Omega-3-Fettsäuren an der epigenetischen Uhr drehen? Studie zeigt „Verjüngung“ von Senioren um ein paar Monate
Nadine Eckert, Medscape
20. Februar 2025
Omega-3-Fettsäuren könnten das biologische Altern verlangsamen. Eine internationale Forschungsgruppe hat in einer Studie, die im Fachjournal Nature Aging veröffentlicht wurde, gezeigt, dass Omega-3-Fettsäuren bei älteren Menschen einen messbaren, wenn auch moderaten Einfluss auf verschiedene epigenetische Uhren haben. Durch zusätzliches Vitamin D und regelmäßige Bewegung könnte dieser Effekt noch verstärkt werden.
Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren. Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari und Kollegen
Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren und Bewegung hatten im Tiermodell, in einigen Beobachtungsstudien und kleineren Pilotstudien Hinweise auf eine verlangsamte biologische Alterung gezeigt. „Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren auf die Verlangsamung der biologischen Alterung“, schreiben Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich und Akademische Leiterin des Campus Altersmedizin am Stadtspital Zürich, und ihre Kollegen.
Menschen altern anders als Mäuse
Die beiden anderen Interventionen hatten in der aktuellen Studie dagegen für sich genommen keinen Effekt, zeigten zusammen mit Omega-3-Fettsäuren aber eine additive Wirkung. Auf Nachfrage von Medscape erklärt Dr. Maria Ermolaeva, die am Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena die Forschungsgruppe „Stresstoleranz und Homöostase“ leitet: „Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Das zeigt, wie wichtig es ist, Ergebnisse aus Tierstudien nicht vorschnell auf den Menschen zu übertragen."
Die Forschungsgruppe um Bischoff-Ferrari untersuchte in einer Post-hoc-Analyse 777 Teilnehmende der DO-HEALTH-Studie. In dieser randomisiert-kontrollierten Studie wurde bei Personen über 70 Jahre der Effekt von Vitamin D (2000 IE/Tag) und/oder Omega-3-Fettsäuren (1 g/Tag) und/oder eines Bewegungsprogramm auf einen gesunden Alterungsprozess untersucht.
In der Post-hoc-Analyse wurde der Effekt der untersuchten Interventionen auf 4 epigenetische Uhren überprüft: PhenoAge, GrimAge, GrimAge2 und DunedinPACE (s. Kasten). Epigenetische Uhren ermöglichen es, anhand von DNA-Methylierungsmustern das biologische Alter eines Menschen zu bestimmen.
Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Dr. Maria Ermolaeva
Die alleinige Einnahme von Omega-3-Fettsäuren verlangsamte alle 4 untersuchten epigenetischen Uhren. Für Vitamin D oder Bewegung ließ sich das so nicht beobachten. Aber alle 3 Interventionen zusammen hatten additive Effekte auf immerhin eine der Uhren, PhenoAge.
Zu alt für Anti-Aging?
Ein besonders überraschendes Ergebnis der Studie war, dass Bewegung keine signifikanten Effekte auf die epigenetischen Uhren zeigte. Ermolaeva vermutet, dass das Alter der Probanden eine Rolle spielt: „Viele Anti-Aging-Strategien basieren darauf, den Stoffwechsel flexibel zu halten. Zellen müssen leicht zwischen verschiedenen Methoden der Energieerzeugung hin- und herwechseln können. Doch mit zunehmendem Alter nimmt diese metabolische Plastizität ab. Jüngere Menschen hätten vielleicht mehr profitiert."
Bischoff-Ferrari und ihre Kollegen berichten, dass die Effekte über einen Interventionszeitraum von 3 Jahren von 2,9 bis 3,8 Monate gereicht hätten. Eine um 3 bis 4 Monate verlangsamte Alterung über 3 Jahre stellt einen moderaten Effekt dar, wie auch die Expertin bestätigt. „Es ist nicht bahnbrechend, aber es ist auch keine radikale Intervention“, kommentiert Ermolaeva. Zum Vergleich: In Tierstudien kann eine drastische Kalorienrestriktion die Lebensspanne um 30% bis 40% verlängern. Doch solche Effekte sind beim Menschen aufgrund der genetischen Vielfalt und weniger standardisierter Lebensbedingungen schwerer zu erreichen.
Der Schlüssel sind personalisierte Ansätze
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass Teilnehmende mit niedrigeren Omega-3-Ausgangswerten stärkere epigenetische Veränderungen gezeigt hätten. Dies spreche für die Entwicklung personalisierter Anti-Aging-Ansätze. „Der Ernährungsstatus zu Beginn könnte das Ausmaß der epigenetischen Reaktivität modulieren. Dies hebt hervor, dass Omega-3-Fettsäuren als gezielte Intervention das Potenzial haben, epigenetische Uhren und damit das biologische Alter zu beeinflussen“, schreiben sie.
Auch Altersforscherin Ermolaeva geht davon aus, dass Anti-Aging-Interventionen wahrscheinlich individuell unterschiedlich wirken. „Es gibt Menschen, die genetisch besser auf Omega-3 ansprechen, zum Beispiel aufgrund einer besseren Mitochondrienfunktion oder eines aktiveren Stoffwechsels. Andere wiederum könnten es nicht so gut verwerten. Die Zukunft der Altersforschung liegt daher in personalisierten Ansätzen."
Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Dr. Maria Ermolaeva
Auf die Frage, ob sie Omega-3-Fettsäuren für ein längeres Leben empfehlen würde, bleibt die Expertin zurückhaltend: „Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Schaden wird Omega-3 den meisten Menschen nicht – es sei denn, sie haben eine spezifische Unverträglichkeit. Ob es nützt? Vielleicht, aber die Effekte sind nicht überwältigend. Aber da Menschen ohnehin Fette zu sich nehmen, warum dann nicht vermehrt Omega-3?
Epigenetische Uhren
Epigenetische Uhren sind biologische Messinstrumente, die anhand von Veränderungen in der DNA-Methylierung das biologische Alter eines Individuums bestimmen. Das biologische Alter kann vom chronologischen Alter abweichen und ist häufig ein genauerer Indikator für die Gesundheit und das Krankheitsrisiko.
PhenoAge verwendet DNA-Methylierungsmuster, die mit physischen und klinischen Gesundheitsmarkern korrelieren. Sie berücksichtigt Parameter wie Bluthochdruck, Blutfette, Glukose und das Vorhandensein von chronischen Krankheiten. Diese epigenetische Uhr ist besonders gut darin, das biologische Alter in Bezug auf das Krankheitsrisiko und die Lebensqualität zu messen, indem sie Risikofaktoren für Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes einbezieht.
GrimAge nutzt DNA-Methylierungsmuster, bestimmte Biomarker (etwa Blutdruck, Cholesterin, Glukose, Body-Mass-Index) sowie Proteine im Blut (z.B. Leptin, Cystatin C und CRP). Sie hat eine hohe Vorhersagekraft für die verbleibende Lebensspanne und das Risiko für frühzeitigen Tod.
GrimAge2 ist eine Weiterentwicklung von GrimAge mit Anpassungen und Verbesserungen, die genauere Prognosen ermöglichen. Es enthält zusätzliche epigenetische Marker und berücksichtigt noch mehr Altersindikatoren. GrimAge2 kann das biologische Alter und das verbleibende Leben noch genauer schätzen. Diese Uhr wird in Studien eingesetzt, um präzisere Aussagen zu den Auswirkungen von Lebensstil, Ernährung und Umweltfaktoren auf das Alter zu treffen.
DunedinPACE misst die Alterungsrate des Körpers auf Basis von DNA-Methylierung und verbindet diese mit klinischen Gesundheitsdaten. Sie ermittelt, wie schnell ein Individuum biologisch altert. Diese Uhr bestimmt nicht nur das biologische Alter, sondern auch das Tempo der biologischen Alterung. Sie ist in der Lage, schneller alternde Individuen zu identifizieren. DunedinPACE wird zunehmend verwendet, um die Geschwindigkeit des Alterungsprozesses und den Einfluss verschiedener Faktoren, einschließlich Lebensstil, Ernährung und Genetik, zu untersuchen.
Nadine Eckert, Medscape
20. Februar 2025
Omega-3-Fettsäuren könnten das biologische Altern verlangsamen. Eine internationale Forschungsgruppe hat in einer Studie, die im Fachjournal Nature Aging veröffentlicht wurde, gezeigt, dass Omega-3-Fettsäuren bei älteren Menschen einen messbaren, wenn auch moderaten Einfluss auf verschiedene epigenetische Uhren haben. Durch zusätzliches Vitamin D und regelmäßige Bewegung könnte dieser Effekt noch verstärkt werden.
Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren. Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari und Kollegen
Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren und Bewegung hatten im Tiermodell, in einigen Beobachtungsstudien und kleineren Pilotstudien Hinweise auf eine verlangsamte biologische Alterung gezeigt. „Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren auf die Verlangsamung der biologischen Alterung“, schreiben Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich und Akademische Leiterin des Campus Altersmedizin am Stadtspital Zürich, und ihre Kollegen.
Menschen altern anders als Mäuse
Die beiden anderen Interventionen hatten in der aktuellen Studie dagegen für sich genommen keinen Effekt, zeigten zusammen mit Omega-3-Fettsäuren aber eine additive Wirkung. Auf Nachfrage von Medscape erklärt Dr. Maria Ermolaeva, die am Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena die Forschungsgruppe „Stresstoleranz und Homöostase“ leitet: „Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Das zeigt, wie wichtig es ist, Ergebnisse aus Tierstudien nicht vorschnell auf den Menschen zu übertragen."
Die Forschungsgruppe um Bischoff-Ferrari untersuchte in einer Post-hoc-Analyse 777 Teilnehmende der DO-HEALTH-Studie. In dieser randomisiert-kontrollierten Studie wurde bei Personen über 70 Jahre der Effekt von Vitamin D (2000 IE/Tag) und/oder Omega-3-Fettsäuren (1 g/Tag) und/oder eines Bewegungsprogramm auf einen gesunden Alterungsprozess untersucht.
In der Post-hoc-Analyse wurde der Effekt der untersuchten Interventionen auf 4 epigenetische Uhren überprüft: PhenoAge, GrimAge, GrimAge2 und DunedinPACE (s. Kasten). Epigenetische Uhren ermöglichen es, anhand von DNA-Methylierungsmustern das biologische Alter eines Menschen zu bestimmen.
Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Dr. Maria Ermolaeva
Die alleinige Einnahme von Omega-3-Fettsäuren verlangsamte alle 4 untersuchten epigenetischen Uhren. Für Vitamin D oder Bewegung ließ sich das so nicht beobachten. Aber alle 3 Interventionen zusammen hatten additive Effekte auf immerhin eine der Uhren, PhenoAge.
Zu alt für Anti-Aging?
Ein besonders überraschendes Ergebnis der Studie war, dass Bewegung keine signifikanten Effekte auf die epigenetischen Uhren zeigte. Ermolaeva vermutet, dass das Alter der Probanden eine Rolle spielt: „Viele Anti-Aging-Strategien basieren darauf, den Stoffwechsel flexibel zu halten. Zellen müssen leicht zwischen verschiedenen Methoden der Energieerzeugung hin- und herwechseln können. Doch mit zunehmendem Alter nimmt diese metabolische Plastizität ab. Jüngere Menschen hätten vielleicht mehr profitiert."
Bischoff-Ferrari und ihre Kollegen berichten, dass die Effekte über einen Interventionszeitraum von 3 Jahren von 2,9 bis 3,8 Monate gereicht hätten. Eine um 3 bis 4 Monate verlangsamte Alterung über 3 Jahre stellt einen moderaten Effekt dar, wie auch die Expertin bestätigt. „Es ist nicht bahnbrechend, aber es ist auch keine radikale Intervention“, kommentiert Ermolaeva. Zum Vergleich: In Tierstudien kann eine drastische Kalorienrestriktion die Lebensspanne um 30% bis 40% verlängern. Doch solche Effekte sind beim Menschen aufgrund der genetischen Vielfalt und weniger standardisierter Lebensbedingungen schwerer zu erreichen.
Der Schlüssel sind personalisierte Ansätze
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass Teilnehmende mit niedrigeren Omega-3-Ausgangswerten stärkere epigenetische Veränderungen gezeigt hätten. Dies spreche für die Entwicklung personalisierter Anti-Aging-Ansätze. „Der Ernährungsstatus zu Beginn könnte das Ausmaß der epigenetischen Reaktivität modulieren. Dies hebt hervor, dass Omega-3-Fettsäuren als gezielte Intervention das Potenzial haben, epigenetische Uhren und damit das biologische Alter zu beeinflussen“, schreiben sie.
Auch Altersforscherin Ermolaeva geht davon aus, dass Anti-Aging-Interventionen wahrscheinlich individuell unterschiedlich wirken. „Es gibt Menschen, die genetisch besser auf Omega-3 ansprechen, zum Beispiel aufgrund einer besseren Mitochondrienfunktion oder eines aktiveren Stoffwechsels. Andere wiederum könnten es nicht so gut verwerten. Die Zukunft der Altersforschung liegt daher in personalisierten Ansätzen."
Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Dr. Maria Ermolaeva
Auf die Frage, ob sie Omega-3-Fettsäuren für ein längeres Leben empfehlen würde, bleibt die Expertin zurückhaltend: „Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Schaden wird Omega-3 den meisten Menschen nicht – es sei denn, sie haben eine spezifische Unverträglichkeit. Ob es nützt? Vielleicht, aber die Effekte sind nicht überwältigend. Aber da Menschen ohnehin Fette zu sich nehmen, warum dann nicht vermehrt Omega-3?
Epigenetische Uhren
Epigenetische Uhren sind biologische Messinstrumente, die anhand von Veränderungen in der DNA-Methylierung das biologische Alter eines Individuums bestimmen. Das biologische Alter kann vom chronologischen Alter abweichen und ist häufig ein genauerer Indikator für die Gesundheit und das Krankheitsrisiko.
PhenoAge verwendet DNA-Methylierungsmuster, die mit physischen und klinischen Gesundheitsmarkern korrelieren. Sie berücksichtigt Parameter wie Bluthochdruck, Blutfette, Glukose und das Vorhandensein von chronischen Krankheiten. Diese epigenetische Uhr ist besonders gut darin, das biologische Alter in Bezug auf das Krankheitsrisiko und die Lebensqualität zu messen, indem sie Risikofaktoren für Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes einbezieht.
GrimAge nutzt DNA-Methylierungsmuster, bestimmte Biomarker (etwa Blutdruck, Cholesterin, Glukose, Body-Mass-Index) sowie Proteine im Blut (z.B. Leptin, Cystatin C und CRP). Sie hat eine hohe Vorhersagekraft für die verbleibende Lebensspanne und das Risiko für frühzeitigen Tod.
GrimAge2 ist eine Weiterentwicklung von GrimAge mit Anpassungen und Verbesserungen, die genauere Prognosen ermöglichen. Es enthält zusätzliche epigenetische Marker und berücksichtigt noch mehr Altersindikatoren. GrimAge2 kann das biologische Alter und das verbleibende Leben noch genauer schätzen. Diese Uhr wird in Studien eingesetzt, um präzisere Aussagen zu den Auswirkungen von Lebensstil, Ernährung und Umweltfaktoren auf das Alter zu treffen.
DunedinPACE misst die Alterungsrate des Körpers auf Basis von DNA-Methylierung und verbindet diese mit klinischen Gesundheitsdaten. Sie ermittelt, wie schnell ein Individuum biologisch altert. Diese Uhr bestimmt nicht nur das biologische Alter, sondern auch das Tempo der biologischen Alterung. Sie ist in der Lage, schneller alternde Individuen zu identifizieren. DunedinPACE wird zunehmend verwendet, um die Geschwindigkeit des Alterungsprozesses und den Einfluss verschiedener Faktoren, einschließlich Lebensstil, Ernährung und Genetik, zu untersuchen.
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Mittwoch, 12. Februar 2025
Patient prügelt Hausarzt krankenhausreif: Gewalt in Kliniken und Praxen nimmt laut MB-Monitor zu
che2001, 17:50h
Ute Eppinger, Medscape
Interessenkonflikte 12. Februar 2025
Vor Kurzem erst wurde ein Hausarzt aus Spenge in Ostwestfalen-Lippe von einem Patienten im Wartezimmer krankenhausreif geprügelt. Fassungslos reagiert der Hausärztinnen- und Hausärzteverband Westfalen-Lippe auf den gewalttätigen Angriff: „Schon lange beobachten wir eine Zunahme von aggressivem Verhalten gegenüber den Beschäftigten im Rettungsdienst und Gesundheitswesen. Dieser Fall in unserer Region, bei dem es nicht bei verbaler Gewalt blieb, sondern bei dem ein Kollege auf derart brutale Weise körperlich angegangen wurde, macht uns fassungslos. Wir wünschen ihm eine schnelle Genesung und dem gesamten Team viel Kraft, um das Erlebte zu verarbeiten“, erklärt Lars Rettstadt, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe.
„Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss“, erklärt Dr. Laura Dalhaus, Vorstandsmitglied des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe. „Wir fordern ganz konkret, dass Beschäftigte in Arztpraxen in den Paragrafen 115 Strafgesetzbuch mit aufgenommen werden. Bislang macht sich strafbar, wer Hilfeleistende wie etwa Beschäftigte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder der Notaufnahmen durch Androhung von Gewalt oder tätlichen Angriff behindert. Angriffe gegen Ärztinnen, Ärzte und das Praxispersonal in der ambulanten Versorgung müssen ebenfalls ein Straftatbestand nach diesem Gesichtspunkt werden“, so Dalhaus.
Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss. Dr. Laura Dalhaus
Die Gewalt gegen medizinisches Personal in Krankenhäusern nimmt zu: Das geht aus den Ergebnissen des MB-Monitor 2024 hervor. An der Umfrage des Marburger Bundes haben 9.649 angestellte Ärztinnen und Ärzte zwischen dem 27. September und dem 27. Oktober 2024 teilgenommen.
12% der Befragten gaben an, häufig mit Beschimpfungen, Beleidigungen und anderen Formen verbaler Gewalt im beruflichen Umfeld konfrontiert zu sein; bei einem Drittel kommen solche verbalen Gewalterfahrungen manchmal vor.
Körperliche Gewalt, beispielsweise in Form von Schlägen oder Tritten, erleben 10% der Ärztinnen und Ärzte gegen sich oder andere Mitarbeitende „manchmal“ und 2% „häufig“.
41% schreiben, dass die Gewalt in den vergangenen 5 Jahren zugenommen habe.
Erstmals waren Ärztinnen und Ärzte im MB-Monitor nach ihren Erfahrungen mit verbaler und körperlicher Gewalt im beruflichen Kontext gefragt worden. „Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal“, kommentiert Dr. Susanne Johna, Vorsitzende des Marburger Bundes, die Ergebnisse. „Uns ist klar, dass bei manchen Patienten Aggressionen Teil des medizinischen Problems sind. Diese Fälle sind aber deutlich zu unterscheiden von einer Vielzahl von inakzeptablen Anfeindungen und Übergriffen, beispielsweise durch Angehörige“, so Johna weiter.
"Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal". (Dr. Susanne Johna)
Die zunehmende Aggression verschärfe die ohnehin belastenden Arbeitsbedingungen und trage zur Frustration und Erschöpfung im ärztlichen Beruf bei. „Schutzmaßnahmen und ein gesellschaftliches Umdenken sind dringend erforderlich. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden“, betont Johna.
Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden. Dr. Susanne Johna
Die Zahl sogenannter Rohheitsdelikte in medizinischen Einrichtungen ist zwischen 2019 und 2022 um 20% gestiegen. Wie Medscape berichtet hatte, fordern die Kassenärzte deshalb ähnlichen Schutz vor Gewalttaten wie bei den Rettungskräften. Schon seit längerer Zeit haben Ärztekammern Online-Portale eingerichtet, bei denen Gewalt gegen medizinisches Personal gemeldet werden kann.
Immer wieder sind auch Niedergelassene mit Gewalt konfrontiert. In einer Erhebung aus dem Jahr 2020 mit 1.500 Augenärztinnen und Augenärzten (75,5% arbeiteten in Praxen) berichteten 83,3% der Befragten von Aggressionen während ihrer Tätigkeit, 65% hatten verbale Übergriffe ohne Drohung erlebt, von bedrohlich körperlichen Gewalterfahrungen berichteten 24,1%.
Vorfälle überwiegend in Notaufnahmen oder auf Stationen:
Rund 90% der Teilnehmer der MB-Umfrage arbeiten in Akutkrankenhäusern und Reha-Kliniken, 8% in ambulanten Einrichtungen. Die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (53%) war zum Zeitpunkt der Umfrage nicht älter als 40 Jahre, 54% der Befragten waren Frauen.
Meist geht verbale oder körperliche Gewalt von Patienten oder Angehörigen aus. Die Vorfälle tragen sich überwiegend in Notaufnahmen oder auf den Stationen zu. Schutzmaßnahmen vor Gewalt am Arbeitsplatz, z.B. Sicherheitspersonal und spezifische Schulungen wie Deeskalations-Trainings, müssen an vielen Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen erst noch etabliert werden. 41% der Mitglieder des Marburger Bundes geben an, dass es solche Schutzmaßnahmen an ihrer Einrichtung gibt, genauso viele verneinen dies, 18% wissen es nicht.
Strukturelle Probleme treffen auf allgemeine Verrohung der Gesellschaft
Gefragt nach den Ursachen für verbale bzw. körperliche Gewalt nannten die Teilnehmer am häufigsten Probleme wie Drogen- und Alkoholmissbrauch und psychiatrische Erkrankungen. Aber auch überzogene Anspruchs- und Erwartungshaltungen der Patienten, eine „allgemeine Verrohung und Enthemmung in der Gesellschaft“ und strukturelle Probleme wie lange Wartezeiten, personelle Engpässe, Ressourcenverknappung und Kommunikationsprobleme wurden als Ursachen genannt.
„Wir brauchen mehr Aufklärung durch breit angelegte Kampagnen, ausreichend Personal in der direkten Patientenversorgung und adäquate Schutzmaßnahmen für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Krankenhäuser – hier ist auch die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen der Versorgung besser zu gestalten“, so Johna.
Interessenkonflikte 12. Februar 2025
Vor Kurzem erst wurde ein Hausarzt aus Spenge in Ostwestfalen-Lippe von einem Patienten im Wartezimmer krankenhausreif geprügelt. Fassungslos reagiert der Hausärztinnen- und Hausärzteverband Westfalen-Lippe auf den gewalttätigen Angriff: „Schon lange beobachten wir eine Zunahme von aggressivem Verhalten gegenüber den Beschäftigten im Rettungsdienst und Gesundheitswesen. Dieser Fall in unserer Region, bei dem es nicht bei verbaler Gewalt blieb, sondern bei dem ein Kollege auf derart brutale Weise körperlich angegangen wurde, macht uns fassungslos. Wir wünschen ihm eine schnelle Genesung und dem gesamten Team viel Kraft, um das Erlebte zu verarbeiten“, erklärt Lars Rettstadt, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe.
„Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss“, erklärt Dr. Laura Dalhaus, Vorstandsmitglied des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe. „Wir fordern ganz konkret, dass Beschäftigte in Arztpraxen in den Paragrafen 115 Strafgesetzbuch mit aufgenommen werden. Bislang macht sich strafbar, wer Hilfeleistende wie etwa Beschäftigte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder der Notaufnahmen durch Androhung von Gewalt oder tätlichen Angriff behindert. Angriffe gegen Ärztinnen, Ärzte und das Praxispersonal in der ambulanten Versorgung müssen ebenfalls ein Straftatbestand nach diesem Gesichtspunkt werden“, so Dalhaus.
Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss. Dr. Laura Dalhaus
Die Gewalt gegen medizinisches Personal in Krankenhäusern nimmt zu: Das geht aus den Ergebnissen des MB-Monitor 2024 hervor. An der Umfrage des Marburger Bundes haben 9.649 angestellte Ärztinnen und Ärzte zwischen dem 27. September und dem 27. Oktober 2024 teilgenommen.
12% der Befragten gaben an, häufig mit Beschimpfungen, Beleidigungen und anderen Formen verbaler Gewalt im beruflichen Umfeld konfrontiert zu sein; bei einem Drittel kommen solche verbalen Gewalterfahrungen manchmal vor.
Körperliche Gewalt, beispielsweise in Form von Schlägen oder Tritten, erleben 10% der Ärztinnen und Ärzte gegen sich oder andere Mitarbeitende „manchmal“ und 2% „häufig“.
41% schreiben, dass die Gewalt in den vergangenen 5 Jahren zugenommen habe.
Erstmals waren Ärztinnen und Ärzte im MB-Monitor nach ihren Erfahrungen mit verbaler und körperlicher Gewalt im beruflichen Kontext gefragt worden. „Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal“, kommentiert Dr. Susanne Johna, Vorsitzende des Marburger Bundes, die Ergebnisse. „Uns ist klar, dass bei manchen Patienten Aggressionen Teil des medizinischen Problems sind. Diese Fälle sind aber deutlich zu unterscheiden von einer Vielzahl von inakzeptablen Anfeindungen und Übergriffen, beispielsweise durch Angehörige“, so Johna weiter.
"Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal". (Dr. Susanne Johna)
Die zunehmende Aggression verschärfe die ohnehin belastenden Arbeitsbedingungen und trage zur Frustration und Erschöpfung im ärztlichen Beruf bei. „Schutzmaßnahmen und ein gesellschaftliches Umdenken sind dringend erforderlich. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden“, betont Johna.
Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden. Dr. Susanne Johna
Die Zahl sogenannter Rohheitsdelikte in medizinischen Einrichtungen ist zwischen 2019 und 2022 um 20% gestiegen. Wie Medscape berichtet hatte, fordern die Kassenärzte deshalb ähnlichen Schutz vor Gewalttaten wie bei den Rettungskräften. Schon seit längerer Zeit haben Ärztekammern Online-Portale eingerichtet, bei denen Gewalt gegen medizinisches Personal gemeldet werden kann.
Immer wieder sind auch Niedergelassene mit Gewalt konfrontiert. In einer Erhebung aus dem Jahr 2020 mit 1.500 Augenärztinnen und Augenärzten (75,5% arbeiteten in Praxen) berichteten 83,3% der Befragten von Aggressionen während ihrer Tätigkeit, 65% hatten verbale Übergriffe ohne Drohung erlebt, von bedrohlich körperlichen Gewalterfahrungen berichteten 24,1%.
Vorfälle überwiegend in Notaufnahmen oder auf Stationen:
Rund 90% der Teilnehmer der MB-Umfrage arbeiten in Akutkrankenhäusern und Reha-Kliniken, 8% in ambulanten Einrichtungen. Die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (53%) war zum Zeitpunkt der Umfrage nicht älter als 40 Jahre, 54% der Befragten waren Frauen.
Meist geht verbale oder körperliche Gewalt von Patienten oder Angehörigen aus. Die Vorfälle tragen sich überwiegend in Notaufnahmen oder auf den Stationen zu. Schutzmaßnahmen vor Gewalt am Arbeitsplatz, z.B. Sicherheitspersonal und spezifische Schulungen wie Deeskalations-Trainings, müssen an vielen Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen erst noch etabliert werden. 41% der Mitglieder des Marburger Bundes geben an, dass es solche Schutzmaßnahmen an ihrer Einrichtung gibt, genauso viele verneinen dies, 18% wissen es nicht.
Strukturelle Probleme treffen auf allgemeine Verrohung der Gesellschaft
Gefragt nach den Ursachen für verbale bzw. körperliche Gewalt nannten die Teilnehmer am häufigsten Probleme wie Drogen- und Alkoholmissbrauch und psychiatrische Erkrankungen. Aber auch überzogene Anspruchs- und Erwartungshaltungen der Patienten, eine „allgemeine Verrohung und Enthemmung in der Gesellschaft“ und strukturelle Probleme wie lange Wartezeiten, personelle Engpässe, Ressourcenverknappung und Kommunikationsprobleme wurden als Ursachen genannt.
„Wir brauchen mehr Aufklärung durch breit angelegte Kampagnen, ausreichend Personal in der direkten Patientenversorgung und adäquate Schutzmaßnahmen für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Krankenhäuser – hier ist auch die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen der Versorgung besser zu gestalten“, so Johna.
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Montag, 16. Dezember 2024
Fit im Training heißt fit im Hirn
che2001, 16:57h
Eine gute kardiorespiratorische Fitness bremst den geistigen Verfall unabhängig von Alter und APOE4-Status
Anke Brodmerkel, Medscape
16. Dezember 2024
Eine gute kardiorespiratorische Fitness senkt bei älteren Menschen das Risiko, dass deren kognitive Fähigkeiten nachlassen. Darauf deutet eine US-amerikanische Beobachtungsstudie hin, die ein Team um Prof. Dr. Kirk Erickson vom Department of Neuroscience des AdventHealth Research Institute in Orlando, Florida, jetzt online im British Journal of Sports Medicine (BJSM) veröffentlicht hat.
Der positive Einfluss zeige sich unabhängig von den wichtigsten Risikofaktoren für den geistigen Abbau – dem Alter und dem Vorliegen des Hochrisikogens APOE4, berichten die Erstautorin der Publikation, Dr. Lauren Oberlin vom AdventHealth Research Institute, und ihre Kollegen. Finanziert wurde die Studie von den National Institutes of Health.
Mehr als jeder 4. Proband war Träger des APOE4-Gens
Die kardiorespiratorische Fitness (CRF) beschreibt die Fähigkeit des Herz-Kreislauf- und des Atmungssystems, die großen Skelettmuskeln ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, damit diese bei sportlichen Aktivitäten die nötige Energie bereitstellen können. Durch regelmäßiges Ausdauertraining lässt sie sich verbessern.
Auch frühere Studien hatten bereits Zusammenhänge zwischen der kardiorespiratorischen Fitness und dem Risiko für einen altersbedingten kognitiven Verfall beobachtet. Unklar war bisher aber, welche konkreten Aspekte der Kognition eine gute CRF positiv verändern kann und welche anderen Faktoren diesen Zusammenhang womöglich beeinflussen.
Für ihre Studie, die diese Fragen beantworten sollte, rekrutierten Erickson und sein Team 648 kognitiv gesunde Probanden im Alter von 65 bis 80 Jahren. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 69 Jahren. 71% von ihnen waren Frauen. 15% gaben an, einen Betablocker einzunehmen. Von den 640 Probanden, die einem entsprechenden Gentest unterzogen wurden, waren 27% APOE4-Träger.
Die Fitness der Teilnehmer ließ eher zu wünschen übrig
Als Maß für die CRF verwendeten die Wissenschaftler um Erickson den VO2max-Wert, also die maximale Sauerstoffmenge, die bei höchster körperlicher Anstrengung aufgenommen und verwertet werden kann. Gemessen wurde der Wert während eines abgestuften Belastungstests auf einem motorisierten Laufband.
Die kognitiven Fähigkeiten ihrer Probanden bewerteten die Forscher anhand der Ergebnisse zahlreicher validierter neuropsychologischer Tests, die an 2 verschiedenen Tagen durchgeführt wurden. In den Tests wurden 5 Bereiche der Kognition untersucht:
die Verarbeitungsgeschwindigkeit,
das Arbeitsgedächtnis,
die visuell-räumliche Verarbeitung,
das episodische Gedächtnis und
die Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle, die auch Planungs- und Organisationsfähigkeiten miteinschließt.
Wie Erickson und seine Kollegen schreiben, betrug die durchschnittliche VO2max ihrer Probanden 21,68 ml/kg/min. Sonderlich fit waren die Teilnehmer der Studie demnach nicht. Eine gute VO2max liegt bei Männern zwischen 30 und 40 ml/kg/min, bei Frauen zwischen 25 und 35 ml/kg/min.
Das Bildungsniveau wirkte sich positiv aus
Erwartungsgemäß war ein höheres Alter der Probanden mit einer schlechteren Leistung in allen 5 kognitiven Bereichen verbunden, wenn das Geschlecht, die Bildungsjahre und der BMI berücksichtigt wurden. Ein höheres Bildungsniveau war durchweg mit besseren Leistungen assoziiert.
Die vermutlich wichtigste Botschaft der Studie ist jedoch die folgende: Ein höherer VO2max-Wert war mit einer besseren Leistung in allen 5 untersuchten kognitiven Bereichen verbunden – und zwar unabhängig vom Alter und APOE4-Status.
Bei Frauen, Probanden mit geringerer Schulbildung und Patienten, die Betablocker einnahmen, fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen der CRF und der kognitiven Leistung vor allem in den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle.
Da es sich lediglich um eine Beobachtungsstudie handele, könnten sie natürlich keine eindeutigen Schlüsse zu Ursache und Wirkung ziehen, räumt das Team um Erickson ein. Auch seien nicht alle kognitiven Bereiche bewertet worden – unter anderem fehlte die Sprache – und die Teilnehmer seien zudem recht inaktiv gewesen, was die Bandbreite der beobachteten Fitnessniveaus eingeschränkt habe.
Ausdauertraining für mehr kognitive Gesundheit im Alter
Dennoch ist das Fazit der Forscher ein positives: „Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness als einen wichtigen Gesundheitsfaktor für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter“, schreiben Erickson und seine Kollegen.
Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness (…) für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter. Prof. Dr. Kirk Erickson und Kollegen
Sie vermuten, dass eine gute CRF die Hirndurchblutung steigert, oxidativen Stress reduziert, neue synaptische Verbindungen schafft, das Wachstum von Neuronen ankurbelt, Neurotransmittersysteme verbessert sowie die Form und Struktur der grauen und weißen Substanz verändern kann.
Psychosoziale Faktoren, die mit der CRF zusammenhängen, etwa eine bessere Stimmung, besserer Schlaf und weniger Müdigkeit, könnten sich ebenfalls positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken, fügen die Autoren der Studie hinzu. Das Verständnis für die gefundenen Zusammenhänge könne helfen, individuelle Trainingspläne zu entwickeln, die eine gesteigerte Ausdauer zum Ziel haben – um so die kognitive Gesundheit im Alter zu optimieren.
Anke Brodmerkel, Medscape
16. Dezember 2024
Eine gute kardiorespiratorische Fitness senkt bei älteren Menschen das Risiko, dass deren kognitive Fähigkeiten nachlassen. Darauf deutet eine US-amerikanische Beobachtungsstudie hin, die ein Team um Prof. Dr. Kirk Erickson vom Department of Neuroscience des AdventHealth Research Institute in Orlando, Florida, jetzt online im British Journal of Sports Medicine (BJSM) veröffentlicht hat.
Der positive Einfluss zeige sich unabhängig von den wichtigsten Risikofaktoren für den geistigen Abbau – dem Alter und dem Vorliegen des Hochrisikogens APOE4, berichten die Erstautorin der Publikation, Dr. Lauren Oberlin vom AdventHealth Research Institute, und ihre Kollegen. Finanziert wurde die Studie von den National Institutes of Health.
Mehr als jeder 4. Proband war Träger des APOE4-Gens
Die kardiorespiratorische Fitness (CRF) beschreibt die Fähigkeit des Herz-Kreislauf- und des Atmungssystems, die großen Skelettmuskeln ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, damit diese bei sportlichen Aktivitäten die nötige Energie bereitstellen können. Durch regelmäßiges Ausdauertraining lässt sie sich verbessern.
Auch frühere Studien hatten bereits Zusammenhänge zwischen der kardiorespiratorischen Fitness und dem Risiko für einen altersbedingten kognitiven Verfall beobachtet. Unklar war bisher aber, welche konkreten Aspekte der Kognition eine gute CRF positiv verändern kann und welche anderen Faktoren diesen Zusammenhang womöglich beeinflussen.
Für ihre Studie, die diese Fragen beantworten sollte, rekrutierten Erickson und sein Team 648 kognitiv gesunde Probanden im Alter von 65 bis 80 Jahren. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 69 Jahren. 71% von ihnen waren Frauen. 15% gaben an, einen Betablocker einzunehmen. Von den 640 Probanden, die einem entsprechenden Gentest unterzogen wurden, waren 27% APOE4-Träger.
Die Fitness der Teilnehmer ließ eher zu wünschen übrig
Als Maß für die CRF verwendeten die Wissenschaftler um Erickson den VO2max-Wert, also die maximale Sauerstoffmenge, die bei höchster körperlicher Anstrengung aufgenommen und verwertet werden kann. Gemessen wurde der Wert während eines abgestuften Belastungstests auf einem motorisierten Laufband.
Die kognitiven Fähigkeiten ihrer Probanden bewerteten die Forscher anhand der Ergebnisse zahlreicher validierter neuropsychologischer Tests, die an 2 verschiedenen Tagen durchgeführt wurden. In den Tests wurden 5 Bereiche der Kognition untersucht:
die Verarbeitungsgeschwindigkeit,
das Arbeitsgedächtnis,
die visuell-räumliche Verarbeitung,
das episodische Gedächtnis und
die Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle, die auch Planungs- und Organisationsfähigkeiten miteinschließt.
Wie Erickson und seine Kollegen schreiben, betrug die durchschnittliche VO2max ihrer Probanden 21,68 ml/kg/min. Sonderlich fit waren die Teilnehmer der Studie demnach nicht. Eine gute VO2max liegt bei Männern zwischen 30 und 40 ml/kg/min, bei Frauen zwischen 25 und 35 ml/kg/min.
Das Bildungsniveau wirkte sich positiv aus
Erwartungsgemäß war ein höheres Alter der Probanden mit einer schlechteren Leistung in allen 5 kognitiven Bereichen verbunden, wenn das Geschlecht, die Bildungsjahre und der BMI berücksichtigt wurden. Ein höheres Bildungsniveau war durchweg mit besseren Leistungen assoziiert.
Die vermutlich wichtigste Botschaft der Studie ist jedoch die folgende: Ein höherer VO2max-Wert war mit einer besseren Leistung in allen 5 untersuchten kognitiven Bereichen verbunden – und zwar unabhängig vom Alter und APOE4-Status.
Bei Frauen, Probanden mit geringerer Schulbildung und Patienten, die Betablocker einnahmen, fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen der CRF und der kognitiven Leistung vor allem in den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle.
Da es sich lediglich um eine Beobachtungsstudie handele, könnten sie natürlich keine eindeutigen Schlüsse zu Ursache und Wirkung ziehen, räumt das Team um Erickson ein. Auch seien nicht alle kognitiven Bereiche bewertet worden – unter anderem fehlte die Sprache – und die Teilnehmer seien zudem recht inaktiv gewesen, was die Bandbreite der beobachteten Fitnessniveaus eingeschränkt habe.
Ausdauertraining für mehr kognitive Gesundheit im Alter
Dennoch ist das Fazit der Forscher ein positives: „Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness als einen wichtigen Gesundheitsfaktor für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter“, schreiben Erickson und seine Kollegen.
Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness (…) für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter. Prof. Dr. Kirk Erickson und Kollegen
Sie vermuten, dass eine gute CRF die Hirndurchblutung steigert, oxidativen Stress reduziert, neue synaptische Verbindungen schafft, das Wachstum von Neuronen ankurbelt, Neurotransmittersysteme verbessert sowie die Form und Struktur der grauen und weißen Substanz verändern kann.
Psychosoziale Faktoren, die mit der CRF zusammenhängen, etwa eine bessere Stimmung, besserer Schlaf und weniger Müdigkeit, könnten sich ebenfalls positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken, fügen die Autoren der Studie hinzu. Das Verständnis für die gefundenen Zusammenhänge könne helfen, individuelle Trainingspläne zu entwickeln, die eine gesteigerte Ausdauer zum Ziel haben – um so die kognitive Gesundheit im Alter zu optimieren.
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Mittwoch, 4. Dezember 2024
Sexuelles Fehlverhalten in Arztpraxen und Kliniken - der neue Medscape-Report ist da
che2001, 16:53h
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Donnerstag, 28. November 2024
ADHS bei Erwachsenen: Von wegen „Modediagnose“ – Expertin sieht die Störung noch immer unterdiagnostiziert
che2001, 17:03h
Ute Eppinger, medscape
Auf die schwierige Situation von Erwachsenen mit ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung) in den USA weist jetzt eine in JAMA Psychiatry erschienene Publikation hin [1]. Die Autoren Dr. Carlos Blanco, Epidemiologe am National Institute on Drug Abuse in Bethesda, Maryland, und Dr. Craig B. H. Surman, Psychiater und ADHS-Experte an der Harvard Medical School, schreiben, dass ADHS bei Erwachsenen unterdiagnostiziert und unterbehandelt sei, hinzu komme ein Mangel an Therapeutika. Sie berichten auch, dass es trotz erheblicher psychiatrischer Komorbiditäten und individueller und gesellschaftlicher Belastungen der Betroffenen unter Ärzten in den USA eine große Zurückhaltung gebe, ADHS zu diagnostizieren. Nicht zuletzt, weil in der Öffentlichkeit immer wieder ein Missbrauch der Stimulanzien diskutiert wird, die zur Therapie verschrieben werden.
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, äußert sich zur Situation hierzulande, zum Hype um ADHS bei Erwachsenen und was sie sich von Hausärzten wünscht.
Medscape: Wie ist die Situation zu ADHS bei Erwachsenen in Deutschland?
Philipsen: Die Diskussion hat sich in den letzten 20 Jahren gar nicht so sehr verändert: zu lange Wartelisten, zu wenig Ansprechpartner, „ADHS ist eine Erkrankung im Kindesalter“, die Skepsis den Stimulanzien gegenüber oder auch „Das ist eine Modediagnose“ – diese ganze Diskussion, die gab´s früher auch schon. Manchmal flammt sie ein bisschen mehr auf, dann flacht sie wieder ab. Aber die Awareness für ADHS unter Erwachsenen ist jetzt schon eine andere – das ist eine positive Entwicklung.
Medscape: Stichwort „Modediagnose ADHS“: Gibt es Hinweise, dass bei Erwachsenen ADHS überdiagnostiziert wird?
Philipsen: Unter Erwachsenen rechnet man mit einer Prävalenz von ADHS von 2,5%, manche Schätzungen gehen bis 4%. Aber bislang lag die administrative Prävalenz – also die Diagnosen im Krankenkassen-System bei Erwachsenen – immer unter der zu erwartenden Prävalenz. Meine persönliche Einschätzung ist, dass ADHS bei Erwachsenen immer noch unterdiagnostiziert ist.
Medscape: Sie sagen, dass sich die Awareness für ADHS unter Erwachsenen erhöht hat. Wie zeigt sich das?
Philipsen: Da gibt es einen Hype um ADHS unter Erwachsenen. Dieser Hype bringt Vor- und Nachteile. Selbstdiagnosen via Social Media – wobei Erwachsene mit ADHS auch oft über eine gute Selbsteinschätzung verfügen – führen dazu, dass unsere Wartelisten länger werden und dadurch die Menschen, die wirklich die Probleme haben, nicht schnell in eine Behandlung kommen.
Wobei: Bei uns in der Ambulanz erfüllen 75 bis 80% der Patienten mit der Verdachtsdiagnose ADHS auch tatsächlich die Diagnosekriterien für eine ADHS. Das heißt, die Vorauswahl der Patienten durch die niedergelassenen Kollegen funktioniert gut.
Medscape: Wie sieht das Geschlechterverhältnis aus?
Philipsen: Bei uns in der Ambulanz ist das tatsächlich relativ egalitär. Und das entspricht auch der Verteilung unter Erwachsenen. ADHS bei Frauen ist lange Zeit stark vernachlässigt worden. Aktuelle Daten aus Schweden zeigen: Die Diagnose wird bei den Frauen 3 Jahre später gestellt.
Durch die erhöhte Awareness verändert sich das gerade. In der Presse und auf Social Media wird mehr über Frauen mit ADHS berichtet und darüber verändert sich auch die Wahrnehmung und führt dazu, dass Frauen eher vorstellig werden. Das ist auch gut so.
Medscape: Für Erwachsene mit ADHS sind bislang Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zur Therapie zugelassen. Gibt es in Deutschland einen ähnlichen Mangel an Therapeutika wie in den USA?
Philipsen: Es gibt immer wieder die Situation, dass Medikamente nicht lieferbar sind. Diese Situation hatten wir auch. Aber wir sind noch nie – zumindest hier im Raum Bonn – in die Situation gekommen, dass wir den Patienten gar nichts anbieten konnten. Aber es kann passieren, dass ein Patient auf ein spezielles Präparat warten muss.
Medscape: In den USA gibt es starke Vorbehalte gerade gegenüber Methylphenidat, immer wieder wird sein Missbrauchspotenzial thematisiert. Ist das auch in Deutschland so?
Philipsen: Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Es ist wichtig, sachlich aufzuklären: Eine frühe medikamentöse Therapie kann das Risiko für Suchterkrankungen und Depressionen verringern. Wenn Psychotherapie – hier speziell die Psychoedukation – nicht ausreicht, kann das Medikament Betroffenen ermöglichen, mit ihrer Symptomatik zurecht zu kommen, denn die medikamentöse Therapie hat den stärksten Effekt.
Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Der genannte Hype um ADHS bei Erwachsenen hat 2 Seiten: Ein Vorteil ist die höhere Awareness, die dazu führt, dass Betroffene sich eher in Behandlung begeben. Er führt aber auch dazu, dass gesunde Menschen glauben, ADHS zu haben und in der Öffentlichkeit so der Eindruck entsteht, ADHS sei eine Art Modediagnose.
Medscape: Gibt es Daten, dazu wie lange es dauert, bis jemand mit ADHS tatsächlich die richtige Diagnose erhält?
Philipsen: Noch gibt es dazu keine Daten. Es ist aber so, dass der Zeitraum bis zur korrekten Diagnose kürzer wird. Dennoch liegt das Durchschnittsalter der Patienten, die sich bei uns vorstellen, immer noch bei Anfang 30. Da ADHS im Kindesalter beginnt, ist das schon eine große Lücke.
Medscape: Hat diese Lücke auch damit zu tun, dass noch häufiger die Auffassung herrscht, ADHS sei eine Kinderkrankheit und wachse sich aus? Bei immerhin 60% der Betroffenen halten die Symptome ja bis ins Erwachsenenalter hinein an …
Philipsen: Ja, das ist immer noch ein Thema. Wobei: In Fachkreisen ist den meisten inzwischen bekannt, dass es ADHS auch im Erwachsenenalter gibt. Aber es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die die Diagnose ablehnen. Kürzlich war ich entsetzt: Auf einer Veranstaltung – es ging um das Thema Neurodiversität – hieß es, ADHS sei eine Kindheitsdiagnose und ließe sich durch Kunsttherapie heilen. Da kursieren immer noch sehr viele falsche Informationen über ADHS. Gleichzeitig wird in den Medien sehr viel über ADHS berichtet. Aber bei allen positiven Aspekten, die diese erhöhte, öffentliche Aufmerksamkeit mit sich bringt, führt sie leider auch dazu, dass ADHS dann als „Modediagnose“ abgetan wird.
Medscape: Hat die verzögerte Diagnose Einfluss darauf, wie gut die Therapie anschlägt?
Philipsen: Die Therapie schlägt trotzdem an, aber die Betroffenen verlieren natürlich wertvolle Zeit. Denn ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Die Erkrankung beeinflusst die schulische Entwicklung, die Ausbildung, die persönliche Entwicklung, Familie, Partnerschaft, den Freundeskreis. Und sie führt – unbehandelt – zu Folgeproblemen, die zum Teil auch genetisch assoziiert sind, wie ein erhöhtes Risiko für Sucht- und Angsterkrankungen.
ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Was wünschen Sie sich von den Hausärzten, und was können Hausärzte, die ja die erste Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf ADHS sind, tun?
Philipsen: AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Wenn Patienten immer wieder Termine vergessen, häufig und wiederholt in Stress- und Burnout-Situationen geraten, wiederholt zu Suchtmitteln greifen – dann ist es wichtig, auch an ADHS zu denken. Gerade Hausärzte kennen die Familie ja oft sehr lange.
AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Und ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Erste Anhaltspunkte könnten Screeningstools für die Praxis liefern. Wenn Zeit dafür ist – das kann auch an eine MFA delegiert werden – können auch schon erste edukative Interventionen angeboten werden, beispielsweise aus dem Buch „Psychologischen Kurzinterventionen“. Sollte sich der Verdacht auf ADHS erhärten, ist es sinnvoll, die Betroffenen an einen Nervenarzt zu überweisen.
ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914451#vp_3
Auf die schwierige Situation von Erwachsenen mit ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung) in den USA weist jetzt eine in JAMA Psychiatry erschienene Publikation hin [1]. Die Autoren Dr. Carlos Blanco, Epidemiologe am National Institute on Drug Abuse in Bethesda, Maryland, und Dr. Craig B. H. Surman, Psychiater und ADHS-Experte an der Harvard Medical School, schreiben, dass ADHS bei Erwachsenen unterdiagnostiziert und unterbehandelt sei, hinzu komme ein Mangel an Therapeutika. Sie berichten auch, dass es trotz erheblicher psychiatrischer Komorbiditäten und individueller und gesellschaftlicher Belastungen der Betroffenen unter Ärzten in den USA eine große Zurückhaltung gebe, ADHS zu diagnostizieren. Nicht zuletzt, weil in der Öffentlichkeit immer wieder ein Missbrauch der Stimulanzien diskutiert wird, die zur Therapie verschrieben werden.
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, äußert sich zur Situation hierzulande, zum Hype um ADHS bei Erwachsenen und was sie sich von Hausärzten wünscht.
Medscape: Wie ist die Situation zu ADHS bei Erwachsenen in Deutschland?
Philipsen: Die Diskussion hat sich in den letzten 20 Jahren gar nicht so sehr verändert: zu lange Wartelisten, zu wenig Ansprechpartner, „ADHS ist eine Erkrankung im Kindesalter“, die Skepsis den Stimulanzien gegenüber oder auch „Das ist eine Modediagnose“ – diese ganze Diskussion, die gab´s früher auch schon. Manchmal flammt sie ein bisschen mehr auf, dann flacht sie wieder ab. Aber die Awareness für ADHS unter Erwachsenen ist jetzt schon eine andere – das ist eine positive Entwicklung.
Medscape: Stichwort „Modediagnose ADHS“: Gibt es Hinweise, dass bei Erwachsenen ADHS überdiagnostiziert wird?
Philipsen: Unter Erwachsenen rechnet man mit einer Prävalenz von ADHS von 2,5%, manche Schätzungen gehen bis 4%. Aber bislang lag die administrative Prävalenz – also die Diagnosen im Krankenkassen-System bei Erwachsenen – immer unter der zu erwartenden Prävalenz. Meine persönliche Einschätzung ist, dass ADHS bei Erwachsenen immer noch unterdiagnostiziert ist.
Medscape: Sie sagen, dass sich die Awareness für ADHS unter Erwachsenen erhöht hat. Wie zeigt sich das?
Philipsen: Da gibt es einen Hype um ADHS unter Erwachsenen. Dieser Hype bringt Vor- und Nachteile. Selbstdiagnosen via Social Media – wobei Erwachsene mit ADHS auch oft über eine gute Selbsteinschätzung verfügen – führen dazu, dass unsere Wartelisten länger werden und dadurch die Menschen, die wirklich die Probleme haben, nicht schnell in eine Behandlung kommen.
Wobei: Bei uns in der Ambulanz erfüllen 75 bis 80% der Patienten mit der Verdachtsdiagnose ADHS auch tatsächlich die Diagnosekriterien für eine ADHS. Das heißt, die Vorauswahl der Patienten durch die niedergelassenen Kollegen funktioniert gut.
Medscape: Wie sieht das Geschlechterverhältnis aus?
Philipsen: Bei uns in der Ambulanz ist das tatsächlich relativ egalitär. Und das entspricht auch der Verteilung unter Erwachsenen. ADHS bei Frauen ist lange Zeit stark vernachlässigt worden. Aktuelle Daten aus Schweden zeigen: Die Diagnose wird bei den Frauen 3 Jahre später gestellt.
Durch die erhöhte Awareness verändert sich das gerade. In der Presse und auf Social Media wird mehr über Frauen mit ADHS berichtet und darüber verändert sich auch die Wahrnehmung und führt dazu, dass Frauen eher vorstellig werden. Das ist auch gut so.
Medscape: Für Erwachsene mit ADHS sind bislang Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zur Therapie zugelassen. Gibt es in Deutschland einen ähnlichen Mangel an Therapeutika wie in den USA?
Philipsen: Es gibt immer wieder die Situation, dass Medikamente nicht lieferbar sind. Diese Situation hatten wir auch. Aber wir sind noch nie – zumindest hier im Raum Bonn – in die Situation gekommen, dass wir den Patienten gar nichts anbieten konnten. Aber es kann passieren, dass ein Patient auf ein spezielles Präparat warten muss.
Medscape: In den USA gibt es starke Vorbehalte gerade gegenüber Methylphenidat, immer wieder wird sein Missbrauchspotenzial thematisiert. Ist das auch in Deutschland so?
Philipsen: Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Es ist wichtig, sachlich aufzuklären: Eine frühe medikamentöse Therapie kann das Risiko für Suchterkrankungen und Depressionen verringern. Wenn Psychotherapie – hier speziell die Psychoedukation – nicht ausreicht, kann das Medikament Betroffenen ermöglichen, mit ihrer Symptomatik zurecht zu kommen, denn die medikamentöse Therapie hat den stärksten Effekt.
Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Der genannte Hype um ADHS bei Erwachsenen hat 2 Seiten: Ein Vorteil ist die höhere Awareness, die dazu führt, dass Betroffene sich eher in Behandlung begeben. Er führt aber auch dazu, dass gesunde Menschen glauben, ADHS zu haben und in der Öffentlichkeit so der Eindruck entsteht, ADHS sei eine Art Modediagnose.
Medscape: Gibt es Daten, dazu wie lange es dauert, bis jemand mit ADHS tatsächlich die richtige Diagnose erhält?
Philipsen: Noch gibt es dazu keine Daten. Es ist aber so, dass der Zeitraum bis zur korrekten Diagnose kürzer wird. Dennoch liegt das Durchschnittsalter der Patienten, die sich bei uns vorstellen, immer noch bei Anfang 30. Da ADHS im Kindesalter beginnt, ist das schon eine große Lücke.
Medscape: Hat diese Lücke auch damit zu tun, dass noch häufiger die Auffassung herrscht, ADHS sei eine Kinderkrankheit und wachse sich aus? Bei immerhin 60% der Betroffenen halten die Symptome ja bis ins Erwachsenenalter hinein an …
Philipsen: Ja, das ist immer noch ein Thema. Wobei: In Fachkreisen ist den meisten inzwischen bekannt, dass es ADHS auch im Erwachsenenalter gibt. Aber es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die die Diagnose ablehnen. Kürzlich war ich entsetzt: Auf einer Veranstaltung – es ging um das Thema Neurodiversität – hieß es, ADHS sei eine Kindheitsdiagnose und ließe sich durch Kunsttherapie heilen. Da kursieren immer noch sehr viele falsche Informationen über ADHS. Gleichzeitig wird in den Medien sehr viel über ADHS berichtet. Aber bei allen positiven Aspekten, die diese erhöhte, öffentliche Aufmerksamkeit mit sich bringt, führt sie leider auch dazu, dass ADHS dann als „Modediagnose“ abgetan wird.
Medscape: Hat die verzögerte Diagnose Einfluss darauf, wie gut die Therapie anschlägt?
Philipsen: Die Therapie schlägt trotzdem an, aber die Betroffenen verlieren natürlich wertvolle Zeit. Denn ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Die Erkrankung beeinflusst die schulische Entwicklung, die Ausbildung, die persönliche Entwicklung, Familie, Partnerschaft, den Freundeskreis. Und sie führt – unbehandelt – zu Folgeproblemen, die zum Teil auch genetisch assoziiert sind, wie ein erhöhtes Risiko für Sucht- und Angsterkrankungen.
ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Was wünschen Sie sich von den Hausärzten, und was können Hausärzte, die ja die erste Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf ADHS sind, tun?
Philipsen: AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Wenn Patienten immer wieder Termine vergessen, häufig und wiederholt in Stress- und Burnout-Situationen geraten, wiederholt zu Suchtmitteln greifen – dann ist es wichtig, auch an ADHS zu denken. Gerade Hausärzte kennen die Familie ja oft sehr lange.
AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Und ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Erste Anhaltspunkte könnten Screeningstools für die Praxis liefern. Wenn Zeit dafür ist – das kann auch an eine MFA delegiert werden – können auch schon erste edukative Interventionen angeboten werden, beispielsweise aus dem Buch „Psychologischen Kurzinterventionen“. Sollte sich der Verdacht auf ADHS erhärten, ist es sinnvoll, die Betroffenen an einen Nervenarzt zu überweisen.
ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch
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Montag, 28. Oktober 2024
Verdrängen die Abnehmspritzen die Adipositas-Chirurgie?
che2001, 18:30h
Prof. M. Blüher über neue Therapie-Strategien für starkes Übergewicht
Ute Eppinger, Medscape
Prof. Dr. Matthias Blüher
GLP-1-Analoga in der Therapie der Adipositas, umgangssprachlich auch als „Abnehmspritzen“ bezeichnet, sind zur Gewichtsreduktion hocheffektiv. Werden Semaglutid, Tirzepatid & Co über kurz oder lang die Adipositas-Chirurgie zurückdrängen oder sie eines Tages sogar ersetzen?
Für welche Patienten eher die Adipositas-Chirurgie infrage kommt und wie jetzt schon Inkretinmimetika und Operationen zusammenspielen – das erklärt Prof. Dr. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas Ambulanz für Erwachsene und Professor für Klinische Adipositas-Forschung an der Universität Leipzig und Mediensprecher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG).
Medscape: GLP-1-Analoga sind bei Patienten mit Adipositas sehr effektiv. Was bedeutet das für die Adipositas-Chirurgie? Ist die Zahl der Magen-Bypässe rückläufig?
Blüher: Es gibt in den USA Hinweise, dass das so ist. Noch ist allerdings nicht ganz klar, ob sich das auf die Wirkung der Medikamente zurückführen lässt, in den USA werden solche Medikamente ja schon viel länger eingesetzt als bei uns. Wenn sich das bestätigt, wäre das ein schöner Trend und – auch vor dem Hintergrund der Risiken einer Operation – eine begrüßenswerte Entwicklung.
Medscape: Was denken Sie – wird sich das auch in Deutschland in diese Richtung entwickeln?
Blüher: Möglich ist das. Ich glaube allerdings, dass es zumindest zunächst eher mehr Patienten geben wird, die eine Adipositas-Chirurgie in Anspruch nehmen und sich operieren lassen. Das Problem ist, dass der Zugang zu diesen Medikamenten erschwert ist. In Deutschland erstatten die Kassen die Kosten dafür nicht. Viele Menschen können sich deswegen diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Die bariatrische Chirurgie hingegen wird von den Kassen meist übernommen, ich denke, die Operation bleibt deshalb für viele Patienten der Ausweg.
Viele Menschen können sich diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Prof. Dr. Matthias Blüher
Der 2. Aspekt ist: Es gibt auch Patienten, bei denen die Therapie mit Medikamenten nicht perfekt anspricht oder bei denen der Gewichtsverlust durch ein Medikament nicht ausreicht. Diese Patienten werden sich wahrscheinlich leichter für die chirurgische Option entscheiden, weil sie sich sagen: Medikamentös habe ich alles ausgeschöpft, jetzt lasse ich mich doch operieren. Ich denke deshalb, dass die OP-Zahlen erst einmal nicht
Medscape: Dr. Miguel A. Burch, bariatrischer Chirurg am Cedars Sinai in Los Angeles, spricht von einer „neuen Ära“ bezogen auf das Potenzial der GLP-1-Analoga. Heißt das – überspitzt ausgedrückt – dass man künftig auf Medikamente statt auf Operationen setzt?
Blüher: So pauschal kann man das nicht sagen, denn es wird immer Patienten geben, die von einer chirurgischen Therapie z.B. aufgrund ihres extrem hohen Gewichts mehr profitieren als von einer medikamentösen Therapie.
Es hängt auch von den Risikofaktoren jedes einzelnen Patienten ab, und auch von der Abwägung der kumulativen Kosten der lebenslangen Einnahme von Medikamenten im Vergleich zu einer Operation. Die Behandlung der Adipositas könnte aber mehrere Ansätze einschließen und eben nicht nur die Wahl zwischen einer Operation oder Medikamenten zur Gewichtsreduktion.
Medscape: Das heißt, GLP-1-Analoga und chirurgische Therapie werden kombiniert?
Blüher: Ja, in Leipzig behandeln wir beispielsweise Patienten vor einer bariatrischen Operation mit Semaglutid vor, denn eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Auch postoperativ setzen wir diese Medikamente ein, um eine erneute Gewichtszunahme möglichst gering zu halten. Es gibt ja Patienten, die nach dem chirurgischen Eingriff wieder zunehmen, mit den GLP-1-Analoga haben wir die Möglichkeit, medikamentös gegenzusteuern.
Eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Prof. Dr. Matthias Blüher
Medscape: Wird mit der Adipositas-Chirurgie immer noch eine höhere Gewichtsabnahme erreicht als mit GLP-1-Analoga?
Blüher: Für den einzelnen Menschen kann man das nicht genau sagen, aber im Mittel ist die Chirurgie nach wie vor die effektivste Methode zum Abnehmen. Die Daten zeigen – wobei es noch keinen Direktvergleich zwischen Inkretinmimetika und bariatrischer Chirurgie gibt –, dass Tirzepatid, obwohl man damit im Mittel 23% abnehmen kann, immer noch nicht ganz so effektiv ist wie die Chirurgie.
Im Mittel lässt sich mit einer Schlauchmagen-Operation und einem Bypass ein Gewichtsverlust von 30 bis 35% erreichen. Schaut man sich aber die Gewichtsreduktion unter einer Magenband-Operation an, dann sind Tirzepatid oder Semaglutid vergleichbar effektiv. Man muss sagen: Wir sind bei der Gewichtsabnahme mit Medikamenten jetzt schon im Bereich der Magenband-Operationen.
Medscape: Für welche Patienten ist eine chirurgische Therapie sinnvoller als eine medikamentöse?
Blüher: Patienten, die mit einem BMI > 50 zu uns kommen. Man muss berücksichtigen, dass es keine guten Daten dazu gibt, wie effektiv die aktuellen Medikamente in solchen Fällen sind.
Für Patienten mit einem solchen BMI wäre die chirurgische Therapie nach wie vor sinnvoller. Und natürlich für Patienten, die relativ schnell sehr viel Gewicht abnehmen müssen, beispielsweise weil eine schwere Herzleistungsschwäche vorliegt und sie eine Herztransplantation benötigen. Oder auch Patienten, die einen Kniegelenks- oder einen Hüftgelenksersatz brauchen und auch schnell abnehmen sollten. Solche Fälle sprechen aus meiner Sicht für eine chirurgische Therapie.
Medscape: Und was ist Ihrer Einschätzung nach nachhaltiger?
Blüher: Medikamente wirken natürlich nur, solange man sie auch nimmt. Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Bei der medikamentösen Therapie wird die Nachhaltigkeit darüber erreicht, dass das Medikament weiter genommen und mit Lebensstil-Interventionen kombiniert wird.
Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Prof. Dr. Matthias Blüher
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Nachhaltigkeit zu verbessern – über eine dauerhafte Therapie, eine Steigerung der Dosis, Bewegung und Ernährungsumstellung und ähnliches. Letztendlich können wir aber noch nicht über einen langen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren sagen, ob diese Medikamente genauso nachhaltig sind wie die Chirurgie, denn so lange gibt es diese Medikamente noch nicht
Bei meinen Patienten, die im BMI-Bereich unter 35 liegen, würde ich immer zuerst zu einer Ernährungs-und Bewegungstherapie raten. Wenn das nicht ausreicht zur medikamentösen Therapie und wirklich erst als allerletzten Schritt zur Adipositas-Chirurgie. Gerade bei Patienten, die so 10, 20 kg Übergewicht haben, ist eine chirurgische Therapie als Einstieg nicht sinnvoll.
Medscape: Wir bedanken uns für das Gespräch
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914330?ecd=WNL_mdplsfeat_241028_mscpedit_de_etid6949958&uac=389796AZ&impID=6949958
Ute Eppinger, Medscape
Prof. Dr. Matthias Blüher
GLP-1-Analoga in der Therapie der Adipositas, umgangssprachlich auch als „Abnehmspritzen“ bezeichnet, sind zur Gewichtsreduktion hocheffektiv. Werden Semaglutid, Tirzepatid & Co über kurz oder lang die Adipositas-Chirurgie zurückdrängen oder sie eines Tages sogar ersetzen?
Für welche Patienten eher die Adipositas-Chirurgie infrage kommt und wie jetzt schon Inkretinmimetika und Operationen zusammenspielen – das erklärt Prof. Dr. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas Ambulanz für Erwachsene und Professor für Klinische Adipositas-Forschung an der Universität Leipzig und Mediensprecher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG).
Medscape: GLP-1-Analoga sind bei Patienten mit Adipositas sehr effektiv. Was bedeutet das für die Adipositas-Chirurgie? Ist die Zahl der Magen-Bypässe rückläufig?
Blüher: Es gibt in den USA Hinweise, dass das so ist. Noch ist allerdings nicht ganz klar, ob sich das auf die Wirkung der Medikamente zurückführen lässt, in den USA werden solche Medikamente ja schon viel länger eingesetzt als bei uns. Wenn sich das bestätigt, wäre das ein schöner Trend und – auch vor dem Hintergrund der Risiken einer Operation – eine begrüßenswerte Entwicklung.
Medscape: Was denken Sie – wird sich das auch in Deutschland in diese Richtung entwickeln?
Blüher: Möglich ist das. Ich glaube allerdings, dass es zumindest zunächst eher mehr Patienten geben wird, die eine Adipositas-Chirurgie in Anspruch nehmen und sich operieren lassen. Das Problem ist, dass der Zugang zu diesen Medikamenten erschwert ist. In Deutschland erstatten die Kassen die Kosten dafür nicht. Viele Menschen können sich deswegen diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Die bariatrische Chirurgie hingegen wird von den Kassen meist übernommen, ich denke, die Operation bleibt deshalb für viele Patienten der Ausweg.
Viele Menschen können sich diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Prof. Dr. Matthias Blüher
Der 2. Aspekt ist: Es gibt auch Patienten, bei denen die Therapie mit Medikamenten nicht perfekt anspricht oder bei denen der Gewichtsverlust durch ein Medikament nicht ausreicht. Diese Patienten werden sich wahrscheinlich leichter für die chirurgische Option entscheiden, weil sie sich sagen: Medikamentös habe ich alles ausgeschöpft, jetzt lasse ich mich doch operieren. Ich denke deshalb, dass die OP-Zahlen erst einmal nicht
Medscape: Dr. Miguel A. Burch, bariatrischer Chirurg am Cedars Sinai in Los Angeles, spricht von einer „neuen Ära“ bezogen auf das Potenzial der GLP-1-Analoga. Heißt das – überspitzt ausgedrückt – dass man künftig auf Medikamente statt auf Operationen setzt?
Blüher: So pauschal kann man das nicht sagen, denn es wird immer Patienten geben, die von einer chirurgischen Therapie z.B. aufgrund ihres extrem hohen Gewichts mehr profitieren als von einer medikamentösen Therapie.
Es hängt auch von den Risikofaktoren jedes einzelnen Patienten ab, und auch von der Abwägung der kumulativen Kosten der lebenslangen Einnahme von Medikamenten im Vergleich zu einer Operation. Die Behandlung der Adipositas könnte aber mehrere Ansätze einschließen und eben nicht nur die Wahl zwischen einer Operation oder Medikamenten zur Gewichtsreduktion.
Medscape: Das heißt, GLP-1-Analoga und chirurgische Therapie werden kombiniert?
Blüher: Ja, in Leipzig behandeln wir beispielsweise Patienten vor einer bariatrischen Operation mit Semaglutid vor, denn eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Auch postoperativ setzen wir diese Medikamente ein, um eine erneute Gewichtszunahme möglichst gering zu halten. Es gibt ja Patienten, die nach dem chirurgischen Eingriff wieder zunehmen, mit den GLP-1-Analoga haben wir die Möglichkeit, medikamentös gegenzusteuern.
Eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Prof. Dr. Matthias Blüher
Medscape: Wird mit der Adipositas-Chirurgie immer noch eine höhere Gewichtsabnahme erreicht als mit GLP-1-Analoga?
Blüher: Für den einzelnen Menschen kann man das nicht genau sagen, aber im Mittel ist die Chirurgie nach wie vor die effektivste Methode zum Abnehmen. Die Daten zeigen – wobei es noch keinen Direktvergleich zwischen Inkretinmimetika und bariatrischer Chirurgie gibt –, dass Tirzepatid, obwohl man damit im Mittel 23% abnehmen kann, immer noch nicht ganz so effektiv ist wie die Chirurgie.
Im Mittel lässt sich mit einer Schlauchmagen-Operation und einem Bypass ein Gewichtsverlust von 30 bis 35% erreichen. Schaut man sich aber die Gewichtsreduktion unter einer Magenband-Operation an, dann sind Tirzepatid oder Semaglutid vergleichbar effektiv. Man muss sagen: Wir sind bei der Gewichtsabnahme mit Medikamenten jetzt schon im Bereich der Magenband-Operationen.
Medscape: Für welche Patienten ist eine chirurgische Therapie sinnvoller als eine medikamentöse?
Blüher: Patienten, die mit einem BMI > 50 zu uns kommen. Man muss berücksichtigen, dass es keine guten Daten dazu gibt, wie effektiv die aktuellen Medikamente in solchen Fällen sind.
Für Patienten mit einem solchen BMI wäre die chirurgische Therapie nach wie vor sinnvoller. Und natürlich für Patienten, die relativ schnell sehr viel Gewicht abnehmen müssen, beispielsweise weil eine schwere Herzleistungsschwäche vorliegt und sie eine Herztransplantation benötigen. Oder auch Patienten, die einen Kniegelenks- oder einen Hüftgelenksersatz brauchen und auch schnell abnehmen sollten. Solche Fälle sprechen aus meiner Sicht für eine chirurgische Therapie.
Medscape: Und was ist Ihrer Einschätzung nach nachhaltiger?
Blüher: Medikamente wirken natürlich nur, solange man sie auch nimmt. Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Bei der medikamentösen Therapie wird die Nachhaltigkeit darüber erreicht, dass das Medikament weiter genommen und mit Lebensstil-Interventionen kombiniert wird.
Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Prof. Dr. Matthias Blüher
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Nachhaltigkeit zu verbessern – über eine dauerhafte Therapie, eine Steigerung der Dosis, Bewegung und Ernährungsumstellung und ähnliches. Letztendlich können wir aber noch nicht über einen langen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren sagen, ob diese Medikamente genauso nachhaltig sind wie die Chirurgie, denn so lange gibt es diese Medikamente noch nicht
Bei meinen Patienten, die im BMI-Bereich unter 35 liegen, würde ich immer zuerst zu einer Ernährungs-und Bewegungstherapie raten. Wenn das nicht ausreicht zur medikamentösen Therapie und wirklich erst als allerletzten Schritt zur Adipositas-Chirurgie. Gerade bei Patienten, die so 10, 20 kg Übergewicht haben, ist eine chirurgische Therapie als Einstieg nicht sinnvoll.
Medscape: Wir bedanken uns für das Gespräch
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914330?ecd=WNL_mdplsfeat_241028_mscpedit_de_etid6949958&uac=389796AZ&impID=6949958
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Mittwoch, 23. Oktober 2024
Warum Onkologen Vitamin-D-Spiegel bestimmen sollten: Diese prognostische Aussagekraft haben Messwerte
che2001, 18:20h
Christoph Renninger, Medscape
Basel – Wie es um den Vitamin D-Spiegel während einer radioonkologischen Behandlung bestellt ist und ob dieser auch eine prognostische Bedeutung hat, untersuchte PD Dr. Dorota Lubgan vom Uniklinikum Erlangen. Ihre Ergebnisse präsentierte sie bei der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie 2024 [1].
Vitamin D und Krebsmortalität
Eine im vergangenen Jahr publizierte Metaanalyse aus 14 Arbeiten mit über 94.000 Patientinnen und Patienten zeigte, dass die Gabe von Vitamin D die Mortalität bei Krebserkrankungen nicht reduziert (Kuznia S et al.: Ageing Research Reviews 2023). Prognostisch günstig war sie jedoch bei kolorektalen und Prostatakarzinomen, sowie männlichen Patienten. Die tägliche Einnahme von Vitamin D reduziert die Mortalität jedoch nur bei Personen über 70 Jahren und wenn bereits vor der Diagnose begonnen wurde.
Aussagen zur Vitamin D-Substitution in der Radioonkologie können derzeit nur mit Vorsicht getroffen werden. Ziel der Studie von Lubgan war die Überwachung des Vitamin D-Spiegels während der Behandlung und Auswirkungen auf die Prognose. In der Strahlenklinik Erlangen wurden alle Werte im Zentrallabor bestimmt, um eine gute Vergleichbarkeit zu erzielen. Dabei wurden sowohl privat wie gesetzlich Versicherte ausgewertet.
Messungen über längeren Zeitraum
Ab dem Jahr 2004 wurde bei 8-10% der in der Klinik Behandelten der Vitamin D-Wert bestimmt. Insgesamt kamen so 3.593 Patientinnen und Patienten mit radioonkologischer Behandlung in die Analyse. Bei den meisten (79%) erfolgte eine Vitamin D-Bestimmung, seltener waren es zwei Messungen (15,4%), der Höchstwert lag bei einem Patienten mit 22 Bestimmungen.
Das mediane Alter lag bei 63 Jahren, und zu 59,4% stammten die Messwerte von männlichen Patienten. Bei 39,1% lagen Fernmetastasen vor. Die häufigsten Primärtumore waren HNO-Tumore (17,8%), Darmkrebs (14,1%) und Tumore von Augen, ZNS und peripheren Nerven (11,3%). Insgesamt wurde ein großes Spektrum an Entitäten abgedeckt.
Die Bestimmung von Vitamin D erfolgte mittels Chemilumineszenz-Mikropartikel Immuno-Assay (CMIA). Dabei wurde folgende Einteilung für 25-Hydroxyvitamin D im Serum verwendet:
<20 ng/ml: Defizienz
20-29 ng/ml: Mangel
30-70 ng/ml: Optimum
>70 ng/ml: zu hoch
https://deutsch.medscape.com/s/artikelansicht/4914301?ecd=WNL_mdplsfeat_241023_mscpedit_de_etid6931350&uac=389796AZ&impID=6931350
Basel – Wie es um den Vitamin D-Spiegel während einer radioonkologischen Behandlung bestellt ist und ob dieser auch eine prognostische Bedeutung hat, untersuchte PD Dr. Dorota Lubgan vom Uniklinikum Erlangen. Ihre Ergebnisse präsentierte sie bei der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie 2024 [1].
Vitamin D und Krebsmortalität
Eine im vergangenen Jahr publizierte Metaanalyse aus 14 Arbeiten mit über 94.000 Patientinnen und Patienten zeigte, dass die Gabe von Vitamin D die Mortalität bei Krebserkrankungen nicht reduziert (Kuznia S et al.: Ageing Research Reviews 2023). Prognostisch günstig war sie jedoch bei kolorektalen und Prostatakarzinomen, sowie männlichen Patienten. Die tägliche Einnahme von Vitamin D reduziert die Mortalität jedoch nur bei Personen über 70 Jahren und wenn bereits vor der Diagnose begonnen wurde.
Aussagen zur Vitamin D-Substitution in der Radioonkologie können derzeit nur mit Vorsicht getroffen werden. Ziel der Studie von Lubgan war die Überwachung des Vitamin D-Spiegels während der Behandlung und Auswirkungen auf die Prognose. In der Strahlenklinik Erlangen wurden alle Werte im Zentrallabor bestimmt, um eine gute Vergleichbarkeit zu erzielen. Dabei wurden sowohl privat wie gesetzlich Versicherte ausgewertet.
Messungen über längeren Zeitraum
Ab dem Jahr 2004 wurde bei 8-10% der in der Klinik Behandelten der Vitamin D-Wert bestimmt. Insgesamt kamen so 3.593 Patientinnen und Patienten mit radioonkologischer Behandlung in die Analyse. Bei den meisten (79%) erfolgte eine Vitamin D-Bestimmung, seltener waren es zwei Messungen (15,4%), der Höchstwert lag bei einem Patienten mit 22 Bestimmungen.
Das mediane Alter lag bei 63 Jahren, und zu 59,4% stammten die Messwerte von männlichen Patienten. Bei 39,1% lagen Fernmetastasen vor. Die häufigsten Primärtumore waren HNO-Tumore (17,8%), Darmkrebs (14,1%) und Tumore von Augen, ZNS und peripheren Nerven (11,3%). Insgesamt wurde ein großes Spektrum an Entitäten abgedeckt.
Die Bestimmung von Vitamin D erfolgte mittels Chemilumineszenz-Mikropartikel Immuno-Assay (CMIA). Dabei wurde folgende Einteilung für 25-Hydroxyvitamin D im Serum verwendet:
<20 ng/ml: Defizienz
20-29 ng/ml: Mangel
30-70 ng/ml: Optimum
>70 ng/ml: zu hoch
https://deutsch.medscape.com/s/artikelansicht/4914301?ecd=WNL_mdplsfeat_241023_mscpedit_de_etid6931350&uac=389796AZ&impID=6931350
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Donnerstag, 19. September 2024
Blutdrucksenkung durch operative Gewichtsreduktion
che2001, 16:56h
Bariatrische OP bringt Hypertonie in Remission – oder reduziert zumindest Bedarf an Blutdrucksenkern
Nadine Eckert, Medscape
Chicago – Eine bariatrische Operation reduziert nicht nur das Gewicht und die Risiken für metabolische Komplikationen wie Typ-2-Diabetes. Sie verbessert auch die Chancen auf Remission von zu hohem Blutdruck und reduziert den Bedarf an blutdrucksenkenden Medikamenten, wie eine bei den Hypertension Scientific Sessions 2024 der American Heart Association in Chicago präsentierte Datenanalyse zeigt .
Dr. Sneha Annie Sebastian:
„Die bariatrische Chirurgie ist weithin anerkannt als hocheffektive Behandlung von Adipositas und deren metabolischen Komplikationen. Aber bislang hat keine der durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studien den Blutdruck als primären Endpunkt untersucht“, berichtete Studienleiterin Dr. Sneha Annie Sebastian vom Department of Internal Medicine des Azeezia Medical College in Airdrie, Alberta, Kanada.
Gepoolte Analyse von 18 randomisiert-kontrollierten Studien
Zusammen mit ihren Kollegen analysierte sie die gepoolten Daten von 18 randomisiert-kontrollierten Studien mit insgesamt 1.386 Teilnehmenden, überwiegend Frauen. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag im Schnitt bei 38 kg/m², und sie wiesen eine Hypertonie auf. Die Patientinnen und Patienten wurden randomisiert einer bariatrischen Operation oder einer nicht-chirurgischen Intervention – Medikation und Lebensstilmodifikation – zugeteilt und anschließend zwischen 1 und 5 Jahren nachbeobachtet.
In ihre gepoolte Analyse schlossen Sebastian und ihre Kollegen alle Arten von bariatrischen Operationsverfahren ein, am häufigsten waren aber der Roux-en-Y-Magenbypass und die Sleeve-Gastrektomie. Sie fanden einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den operierten Patienten und den Patienten mit Medikation und Lebensstilmodifikation: Die bariatrisch operierten Patienten erreichten 2,77-mal häufiger eine Remission der Hypertonie (Blutdruck <140/90 mmHg).
Mit OP müssen weniger Blutdrucksenker eingenommen werden
Darüber hinaus konnten die Patienten in der operierten Gruppe 7,10-mal häufiger die Zahl der blutdrucksenkenden Medikamente reduzieren, ohne dass die Blutdruckkontrolle darunter litt, bei gleichzeitigem Erhalt der Blutdruckkontrolle. Und die bariatrische Operation verbesserte den systolischen Blutdruck signifikant: Er sank bei den operierten Patienten im Mittel um 3,67 mmHg stärker als in der Gruppe mit Medikation und Lebensstilmodifikation.
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914187?ecd=WNL_mdplsfeat_240919_mscpedit_de_etid6841280&uac=389796AZ&impID=6841280
Nadine Eckert, Medscape
Chicago – Eine bariatrische Operation reduziert nicht nur das Gewicht und die Risiken für metabolische Komplikationen wie Typ-2-Diabetes. Sie verbessert auch die Chancen auf Remission von zu hohem Blutdruck und reduziert den Bedarf an blutdrucksenkenden Medikamenten, wie eine bei den Hypertension Scientific Sessions 2024 der American Heart Association in Chicago präsentierte Datenanalyse zeigt .
Dr. Sneha Annie Sebastian:
„Die bariatrische Chirurgie ist weithin anerkannt als hocheffektive Behandlung von Adipositas und deren metabolischen Komplikationen. Aber bislang hat keine der durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studien den Blutdruck als primären Endpunkt untersucht“, berichtete Studienleiterin Dr. Sneha Annie Sebastian vom Department of Internal Medicine des Azeezia Medical College in Airdrie, Alberta, Kanada.
Gepoolte Analyse von 18 randomisiert-kontrollierten Studien
Zusammen mit ihren Kollegen analysierte sie die gepoolten Daten von 18 randomisiert-kontrollierten Studien mit insgesamt 1.386 Teilnehmenden, überwiegend Frauen. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag im Schnitt bei 38 kg/m², und sie wiesen eine Hypertonie auf. Die Patientinnen und Patienten wurden randomisiert einer bariatrischen Operation oder einer nicht-chirurgischen Intervention – Medikation und Lebensstilmodifikation – zugeteilt und anschließend zwischen 1 und 5 Jahren nachbeobachtet.
In ihre gepoolte Analyse schlossen Sebastian und ihre Kollegen alle Arten von bariatrischen Operationsverfahren ein, am häufigsten waren aber der Roux-en-Y-Magenbypass und die Sleeve-Gastrektomie. Sie fanden einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den operierten Patienten und den Patienten mit Medikation und Lebensstilmodifikation: Die bariatrisch operierten Patienten erreichten 2,77-mal häufiger eine Remission der Hypertonie (Blutdruck <140/90 mmHg).
Mit OP müssen weniger Blutdrucksenker eingenommen werden
Darüber hinaus konnten die Patienten in der operierten Gruppe 7,10-mal häufiger die Zahl der blutdrucksenkenden Medikamente reduzieren, ohne dass die Blutdruckkontrolle darunter litt, bei gleichzeitigem Erhalt der Blutdruckkontrolle. Und die bariatrische Operation verbesserte den systolischen Blutdruck signifikant: Er sank bei den operierten Patienten im Mittel um 3,67 mmHg stärker als in der Gruppe mit Medikation und Lebensstilmodifikation.
https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914187?ecd=WNL_mdplsfeat_240919_mscpedit_de_etid6841280&uac=389796AZ&impID=6841280
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