Mittwoch, 28. Mai 2025
Vitamin B3 beschleunigt Genesung bei COVID-19; HPV-Test für zu Hause überzeugt; resistente Gonorrhoe auf dem Vormarsch
Michael van den Heuvel, Medscape

Interessenkonflikte 28. Mai 2025
Im Infektiologie-Blog bieten wir Ihnen jede Woche eine kurze Übersicht zu den aktuellen Entwicklungen in der Epidemiologie, Diagnostik und Therapie von COVID-19, Grippe und weiteren Infektionskrankheiten.

Infektiologie-Newsblog, Update vom 30. Mai 2025
COVID-19, Influenza, RSV – die Trends in Deutschland

COVID-19: Klagen gegen Impfstoffhersteller abgewiesen – Gericht sieht keine Haftungsgrundlage

COVID-19: Vitamin B beschleunigt Genesung

Bakterielle Infektionen: Neues Antibiotikum gegen Superkeime vor der Zulassungsstudie

Gonorrhoe: Resistenz gegen Azithromycin und Ciprofloxacin nimmt zu

Virale Infektionen: Luftverschmutzung erhöht das Risiko einer schweren Bronchiolitis

West-Nil-Virus: Erstmals Nachweis in Mücken aus Großbritannien

Polio: Ausbruch in Papua-Neuguinea

COVID-19, Influenza, RSV – die Trends in Deutschland
Auf der Website „Infektionsradar“ stellt das Bundesministerium für Gesundheit Trends bei akuten Atemwegserkrankungen (ARE) zusammen. Die neuesten 7-Tage-Inzidenzen (laborbestätigte Fälle je 100.000 Einwohner):



Aktuelle Woche

Vorwoche

COVID-19

0,6

0,5

Influenza

0,35

0,48

Respiratorisches Synzytialvirus (RSV)

0,07

0,11



„Das ARE-Geschehen wird aktuell hauptsächlich durch Erkältungsviren wie Rhinoviren bestimmt, vereinzelt werden noch Influenzaviren und RSV nachgewiesen“, schreibt das Robert Koch-Institut im Wochenbericht zu akuten Atemwegsinfektionen (ARE). „Die Zahl schwer verlaufender ARE liegt seit einigen Wochen auf einem niedrigen Niveau.“

Forscher am Nationalen Referenzzentrum für Influenzaviren haben zuletzt in 44 (71%) aller 62 eingesandten Sentinelproben respiratorische Viren identifiziert: hauptsächlich Rhinoviren (50%), gefolgt von Parainfluenzaviren (PIV; 11%), von humanen saisonalen Coronaviren (hCoV; 6%), Influenza-A- und Influenza-B-Viren sowie Adenoviren mit jeweils 3%, von Respiratorischen Synzytialviren (RSV) und humanen Metapneumoviren (hMPV) mit jeweils 2%. SARS-CoV-2 und Influenza C-Viren waren in den Proben nicht zu finden.

COVID-19: Klagen gegen Impfstoffhersteller abgewiesen – Gericht sieht keine Haftungsgrundlage
Das Landgericht Saarbrücken hat 8 Schadensersatz- und Schmerzensgeldklagen gegen die Hersteller von Corona-Impfstoffen abgewiesen. Die Verfahren richteten sich gegen Biontech, Moderna und AstraZeneca. Die Kläger machten gesundheitliche Beeinträchtigungen nach der Impfung geltend, konnten laut Gericht jedoch keine Fehlerhaftigkeit der Impfstoffe nachweisen – eine Voraussetzung für eine Haftung nach dem Arzneimittelgesetz.


Schwerwiegende Nebenwirkungen wie Herzmuskel- oder Herzbeutelentzündungen seien in den Gebrauchsinformationen aufgeführt gewesen; eine unzureichende Aufklärung liege laut Gericht nicht vor. Auch sei nicht erwiesen, dass sich die Kläger bei anderen Informationen nicht hätten impfen lassen.

Ob die Impfungen ursächlich für die gesundheitlichen Beschwerden waren, ließ das Gericht ausdrücklich offen. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig – eine Berufung vor dem Saarländischen Oberlandesgericht ist möglich.

COVID-19: Vitamin B beschleunigt Genesung
Das neu entwickeltes Vitamin-B3-Präparat CICR-NAM hat sich in einer großen Studie als wirksame Unterstützung zur regeneration nach COVID-19 erwiesen. Nicotinamid – eine Form von Vitamin B3 – zeigte in der placebokontrollierten COVit-2-Studie mit 900 Patientinnen und Patienten eine signifikante Wirkung: Erkrankte, die CICR-NAM erhielten, erreichten deutlich schneller wieder ihre normale körperliche Leistungsfähigkeit als die Placebo-Gruppe. Die Ergebnisse wurden in Nature Metabolism veröffentlicht.


Das Präparat setzt Nicotinamid nicht wie herkömmliche Tabletten im Magen, sondern erst im unteren Dünndarm und Dickdarm frei. Dort kann es direkt auf das durch COVID-19 veränderte Mikrobiom einwirken und gleichzeitig einen erhöhten Vitaminbedarf decken, der im Zuge der Infektion entsteht.

Im Rahmen einer placebokontrollierten, doppelt verblindeten und randomisierten Studie erhielten 900 symptomatische COVID-19-Patientinnen und -Patienten über 4 Wochen hinweg täglich 1.000 Milligramm dieser neu entwickelten Nicotinamid-Formulierung oder ein Placebo. In der Auswertung konzentrierte sich das Forschungsteam auf Teilnehmende mit erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf.

2 Wochen nach Beginn der Behandlung hatten 57,6% der mit Nicotinamid behandelten Risikopersonen ihre körperliche Leistungsfähigkeit zurückerlangt – im Vergleich zu 42,6% in der Placebo-Gruppe. Auch die Rückkehr in den normalen Alltag gelang der Nicotinamid-Gruppe deutlich schneller. Beide Unterschiede waren statistisch signifikant.

Auch nach 6 Monaten waren Patientinnen und Patienten, die gut auf Nicotinamid angesprochen hatten, seltener von Post-COVID-Symptomen betroffen als jene aus der Placebo-Gruppe. Nebenwirkungen traten in der Studie nicht in relevantem Umfang auf.

Bakterielle Infektionen: Neues Antibiotikum gegen Superkeime vor der Zulassungsstudie
Zosurabalpin (Hersteller: Roche) richtet sich gegen gramnegative Bakterien, insbesondere gegen den gefährlichen Erreger Acinetobacter baumannii. Dieser Keim verursacht lebensbedrohliche Infektionen, vor allem bei immungeschwächten Patienten auf Intensivstationen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt ihn zu den gefährlichsten bakteriellen Bedrohungen weltweit.

Roche plant, Ende 2025 oder Anfang 2026 eine internationale Phase-III-Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Wirkstoffs zu starten. Gelingt der Nachweis, wäre Zosurabalpin das 1. Antibiotikum seit mehr als 50 Jahren, das gezielt gegen diese widerstandsfähige Erregergruppe wirkt.

Ein wesentliches Merkmal des Medikaments ist sein neuartiger Wirkmechanismus: In Zusammenarbeit mit der Harvard-Universität konnte Roche zeigen, dass Zosurabalpin eine zentrale Struktur in der Bakterienmembran blockiert – ein sogenanntes Lipopolysaccharid. Dadurch wird die Schutzbarriere der Bakterien durchlässig, was ihre Abtötung ermöglicht. Der Wirkstoff gehört zu einer völlig neuen chemischen Klasse und nutzt ein bislang unerschlossenes Angriffsziel im Bakterium. Damit besteht Hoffnung, dass er auch gegen Erreger wirksam ist, die bereits Resistenzen gegen gängige Antibiotika entwickelt haben.

Gonorrhoe: Resistenz gegen Azithromycin und Ciprofloxacin nimmt zu
In Europa sind Gonorrhoe-Erreger immer häufiger resistent gegen wichtige Antibiotika, vor allem gegen Azithromycin und Ciprofloxacin. Das zeigen neue, in The Lancet Regional Health – Europe veröffentlichte Daten des europäischen Überwachungsprogramms Euro-GASP für das Jahr 2022. Analysiert wurden über 3.000 Neisseria gonorrhoeae-Isolate aus 23 Ländern.

Der Anteil resistenter Stämme gegenüber Azithromycin hat sich im Vergleich zum Jahr 2019 fast verdreifacht: von 9% auf 24,9%. Auch die Ciprofloxacin-Resistenz stieg deutlich an – von 57,4% auf 65,8%. Besonders betroffen sind Männer, die Sex mit Männern haben. In dieser Gruppe war das Risiko für Azithromycin-Resistenz fast 3-mal so hoch wie bei anderen Gruppen.

Während die Resistenz gegen das ältere Antibiotikum Cefixim von 0,8% auf 0,3% sank, blieb die Situation bei dem derzeit wichtigsten Mittel, Ceftriaxon, stabil – nur 0,03 % der Isolate zeigten eine Resistenz.

Die Autoren warnen: Angesichts der zunehmenden Resistenzentwicklung werde langfristig nur ein Impfstoff eine nachhaltige Lösung zur Kontrolle der Gonorrhoe bieten können.

HPV-Test für zu Hause überzeugt in US-Studie
Ein neuer Selbsttest hat sich in einer US-Studie als ebenso sicher und zuverlässig erwiesen wie herkömmliche Abstriche in der Arztpraxis. Das kleine Gerät zur Entnahme von Vaginalproben erkennt Hochrisiko-HPV-Typen (hrHPV) sowie Zellveränderungen mit hoher Genauigkeit. Über 95% der Ergebnisse stimmten mit denen klinisch entnommener Proben überein, wie die Forscher in JAMA Network Open berichten.

Von 609 Personen in der Studie gaben 599 gültige Probenpaare ab – also jeweils eine selbst entnommene und eine ärztlich entnommene Probe. Davon konnten 582 Probenpaare für die finale Auswertung verwendet werden.
Die Übereinstimmung bei der Erkennung von Hochrisiko-HPV (hrHPV) zwischen Selbsttest und Arztprobe lag bei 95,2%. Auch die Sensitivität für hochgradige Zellveränderungen am Gebärmutterhals war mit 95,8% nahezu identisch zur klinischen Untersuchung.

Zudem zeigte sich das Verfahren als benutzerfreundlich: Über 92% der Teilnehmerinnen fanden die Anleitung leicht verständlich, und 93% gaben an, sie würden den Selbsttest der Arztuntersuchung vorziehen – vorausgesetzt, die Ergebnisse seien vergleichbar.

„Diese Daten unterstreichen das Potenzial des Selbsttests, eine sichere, effektive und akzeptierte Alternative zur bisherigen Praxis zu werden“, heißt es in der Veröffentlichung.

Virale Infektionen: Luftverschmutzung erhöht das Risiko einer schweren Bronchiolitis
Die Bronchiolitis ist eine akute Entzündung der kleinen Atemwege (Bronchiolen). Sie betrifft die vor allem Säuglinge und Kleinkinder unter 2 Jahren und wird meist durch virale Infektionen ausgelöst.

Kinder unter 2 Jahren, die an Bronchiolitis erkranken, müssen mit höherer Wahrscheinlichkeit ins Krankenhaus, wenn sie Luftschadstoffen ausgesetzt waren. Das zeigt eine neue, in Pediatric Allergy and Immunology veröffentlichte Metaanalyse.

Ein internationales Forschungsteam wertete 23 Studien systematisch aus, von denen 13 in 8 separate Metaanalysen einflossen. Im Fokus standen die am häufigsten untersuchten Luftschadstoffe: PM2.5, PM10 und Stickstoffdioxid. Die Wissenschaftler analysierten dabei sowohl kurzfristige (innerhalb einer Woche), mittelfristige (innerhalb eines Monats) als auch langfristige Belastungen (länger als ein Monat).

Die Analyse zeigt: In den meisten Einzelstudien stieg das Risiko für einen Klinikaufenthalt bei betroffenen Säuglingen mit der Belastung durch die genannten Schadstoffe – unabhängig vom betrachteten Zeitraum. In den Metaanalysen zeigte sich zwar generell ein Anstieg des Risikos zwischen 2% und 9%. Statistisch signifikant war dieser Anstieg jedoch nur bei kurzfristiger Belastung mit PM10 (Odds Ratio 1,07; 95%-KI 1,05-1,09).

Besonders relevant ist, dass viele der identifizierten Schadstoffe – wie Stickstoffdioxid – vor allem aus dem Straßenverkehr stammen. Die Studienautoren betonen daher: Verkehrsberuhigende Maßnahmen könnten einen wichtigen Beitrag leisten, um die Krankheitslast durch eine schwere Bronchiolitis im Säuglingsalter zu verringern.

West-Nil-Virus: Erstmals Nachweis in Tigermücken aus Großbritannien
Erstmals wurden genetische Spuren des West-Nil-Virus (WNV) in Großbritannien nachgewiesen – in Mücken der Art Aedes vexans (Tigermücke), die im Juli 2023 in den Feuchtgebieten des River Idle in Nottinghamshire gesammelt wurden. Darüber hat Medscape.com berichtet. Der Fund stammt aus dem Überwachungsprogramm Vector-Borne RADAR, das vom britischen Gesundheitsamt (UKHSA) und von der Tier- und Pflanzengesundheitsbehörde (APHA) betrieben wird.

Die Forscher vermuten, dass Zugvögel das Virus eingeschleppt haben. In seltenen Fällen kann es auch auf Menschen oder Pferde übertragen werden. Bisher wurden jedoch in Großbritannien keine lokalen Infektionen bei Menschen oder Tieren festgestellt. Die UKHSA stuft das Risiko für die Bevölkerung als „sehr gering“ ein, mahnt jedoch zu erhöhter Wachsamkeit: Ärzte sollen bei ungeklärten Enzephalitis-Fällen auch an das West-Nil-Virus denken.

Dass der Erreger nun auch in Großbritannien auftritt, ist wohl eine Folge des Klimawandels: Stechmücken und ihre Krankheiten breiten sich zunehmend in nördlicher gelegene Länder aus.

Polio: Ausbruch in Papua-Neuguinea
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet von einem Polio-Ausbruch in Papua-Neuguinea. Polioviren vom Typ 2 wurden in Abwasserproben und bei 2 symptomfreien Kindern nachgewiesen.

Die Impfquote liegt landesweit bei 47%, in manchen Regionen sogar bei lediglich 8%. Die WHO und UNICEF haben daraufhin eine nationale Notfallmaßnahme gestartet, inklusive zweier Impfkampagnen im ganzen Land. Ziel ist es, alle Kinder zu schützen. Dabei setzt die UNICEF auf die enge Zusammenarbeit mit Kirchen und Gemeindeleitern zur Aufklärung und Ermutigung der Eltern.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 22. Mai 2025
COVID; WHO-Mitglieder verabschieden Pandemievertrag; Anpassung von COVID-19-Vakzinen an neue Variante
Michael van den Heuvel, Medscape

Interessenkonflikte 22. Mai 2025


Infektiologie-Newsblog, Update vom 15. Mai 2025
COVID-19, Influenza, RSV – die Trends in Deutschland

Infektionen: WHO-Mitgliedsstaaten verabschieden Pandemievertrag; Umsetzung könnte Jahre dauern

COVID-19: EMA rät zur Anpassung von Impfstoffen an die Virusvariante LP.8.1

COVID-19: Von der Leyen hätte Kommunikation mit Pfizer-Chef offenlegen müssen

COVID-19: Schlechtere Lungenfunktion vor der Infektion erhöht Risiko für schweren Verlauf

COVID-19: Empfehlungen des BfArM zur Off-Label-Therapie von Long-COVID

COVID-19: Welchen Nutzen zeigt die Hirnstimulation bei Long-COVID?

Norvirus: Erfolgreiche klinische Tests neuer Impfstoffkandidaten

Antibiotika-Resistenzen: Klimawandel und fehlende Nachhaltigkeit als treibende Faktoren

Bakterielle Augenentzündung: Steigende Fallzahlen in Ostafrika, Indien und Somalia

COVID-19, Influenza, RSV – die Trends in Deutschland
Auf der Website „Infektionsradar“ stellt das Bundesministerium für Gesundheit Trends bei akuten Atemwegserkrankungen (ARE) zusammen. Die neuesten 7-Tage-Inzidenzen (laborbestätigte Fälle je 100.000 Einwohner):



Aktuelle Woche

Vorwoche

COVID-19

0,5

0,4

Influenza

0,48

0,51

Respiratorisches Synzytialvirus (RSV)

0,11

0,16

1

„Nach den Osterferien und den bundesweiten Feiertagen wird eine niedrige, leicht steigende ARE-Aktivität beobachtet“, schreibt das Robert Koch-Institut im Wochenbericht zu akuten Atemwegsinfektionen (ARE). „Das ARE-Geschehen wird aktuell durch Erkältungsviren wie Rhinoviren und humane saisonale Coronaviren bestimmt, vereinzelt werden noch Influenzaviren und RSV nachgewiesen.“ Die Zahl schwer verlaufender ARE liege seit einigen Wochen auf niedrigem Niveau.

Im Nationalen Referenzzentrum für Influenzaviren haben Forscher zuletzt in 17 (40%) aller 42 untersuchten Proben respiratorische Viren identifiziert, darunter Rhinoviren (14%), gefolgt von humanen saisonalen Coronaviren (hCoV; 7%), Influenza-A- oder Influenza-B-Viren, Adenoviren, Respiratorischen Synzytialviren (RSV) und Parainfluenzaviren (PIV) mit jeweils 5% sowie humanen Metapneumoviren (hMPV; 2%). SARS-CoV-2 und Influenza C-Viren waren nicht vorhanden.

Infektionen: WHO-Mitgliedsstaaten verabschieden Pandemievertrag; Umsetzung könnte Jahre dauern
Die Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich nach langem, zähem ringen auf einen internationalen Pandemievertrag geeinigt, um auf zukünftige Gesundheitskrisen besser vorbereitet zu sein.


Hintergrund ist das weltweite Chaos während der Corona-Pandemie, als es zu Lieferengpässen, nationalen Alleingängen und ungleicher Impfstoffverteilung kam. Der Vertrag verpflichtet die Staaten, ihre Gesundheitssysteme zu stärken, Ausbrüche frühzeitig zu erkennen und solidarisch zu handeln. Lieferketten sollen widerstandsfähiger werden, medizinisches Personal weltweit bevorzugt versorgt werden. Zudem sollen Pharmaunternehmen ihr Wissen teilen, damit auch ärmere Länder Medikamente und Impfstoffe produzieren können.

Ein zentraler Bestandteil ist der geplante Austausch genetischer Informationen von Erregern (PABS-System). Im Gegenzug sollen Hersteller Impfstoffe spenden oder vergünstigt abgeben – Details dazu sind noch offen.

Die Verhandlungen waren geprägt von Interessenskonflikten zwischen reichen und ärmeren Ländern, etwa zu Kostenfragen, Technologietransfer und finanzieller Unterstützung. Entgegen verbreiteter Falschinformationen verleiht der Vertrag der WHO keine Macht, Zwangsmaßnahmen zu verhängen. Er tritt erst in Kraft, wenn 60 Staaten ihn ratifizieren – das könnte noch Jahre dauern.

COVID-19: EMA rät zur Anpassung von Impfstoffen an die Virusvariante LP.8.1
Die Notfall-Taskforce (ETF) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hat empfohlen, COVID-19-Impfstoffe für die Saison 2025/2026 an die neue SARS-CoV-2-Variante LP.8.1 anzupassen. Diese hat sich weltweit zur am häufigsten zirkulierenden Virusvariante entwickelt und die bislang dominierenden JN.1-Varianten abgelöst, die Grundlage früherer Impfstoffe war.


Für ihre Empfehlung hat die ETF eng mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), mit internationalen Partnern und Zulassungsinhabern von COVID-19-Impfstoffen zusammengearbeitet. Außerdem waren Daten zur aktuellen Entwicklung des Virus sowie Daten aus Tierstudien, in denen die Wirkung von Impfstoffkandidaten gegen LP.8.1 untersucht wurde, Grundlage der Bewertung.

Impfstoffe, die auf JN.1 oder KP.2 ausgerichtet sind, könnten übergangsweise weiterhin eingesetzt werden, bis angepasste LP.8.1-Impfstoffe verfügbar sind.

COVID-19: Von der Leyen hätte Kommunikation mit Pfizer-Chef offenlegen müssen
Ein Urteil des Urteil des Europäischen Gerichts setzt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zunehmend unter Druck: Die Richter in Luxemburg hoben eine Entscheidung der EU-Kommission auf, mit der diese sich geweigert hatte, Textnachrichten zwischen von der Leyen und Pfizer-Chef Albert Bourla offenzulegen. Die Nachrichten wurden offenbar während der Verhandlungen über milliardenschwere Corona-Impfstoffverträge ausgetauscht.

Geklagt hatte die New York Times. Ihre Journalisten forderten Zugang zu der Kommunikation im Zeitraum vom 1. Januar 2021 bis zum 11. Mai 2022. Das Gericht gab der Klage nun statt – mit einer klaren Begründung: Auch SMS seien als offizielle EU-Dokumente zu werten und fielen grundsätzlich unter das Recht auf Informationszugang.

Von der Leyen selbst hatte erklärt, sie habe die Nachrichten nicht mehr. Doch diese Begründung ließ das Gericht nicht gelten. Die Kommission habe nicht überzeugend dargelegt, warum die SMS unauffindbar sein sollen. Das Urteil stellt damit indirekt auch die Transparenzpraxis der Kommission infrage.

Für Ursula von der Leyen ist dies ein herber Rückschlag – nicht nur rechtlich, sondern auch politisch. Seit Langem steht sie wegen mangelnder Offenheit bei der Beschaffung von Corona-Impfstoffen in der Kritik. Besonders der umstrittene Vertrag mit Pfizer und BioNTech über bis zu 1,8 Milliarden Dosen sorgt immer wieder für Diskussionen.

Die EU-Kommission kündigte an, das Urteil eingehend zu prüfen und eine neue, ausführlichere Entscheidung zu treffen. Ob sie gegen das Urteil Rechtsmittel beim Europäischen Gerichtshof einlegen wird, ist derzeit noch offen.

COVID-19: Schlechtere Lungenfunktion vor der Infektion erhöht Risiko für schweren Verlauf
Eine große US-amerikanische Kohortenstudie zeigt: Menschen mit vorbestehender schwerer Lungenerkrankung hatten während der Pandemie ein deutlich erhöhtes Risiko für schweres COVID-19. Darüber berichten Forscher im American Journal of Respiratory and Critical Care Medicine .

Grundlage ihrer Analyse waren Daten von über 29.000 Personen mit einem Durchschnittsalter von 67 Jahren aus 11 bevölkerungsbasierten Langzeitstudien. Ärzte hatten bei ihnen vor der Pandemie eine Lungenfunktionsprüfung durchgeführt. Die Patienten wurden ab dem 1. März 2020 im Median 17,3 Monate beobachtet.

Forscher teilten die Lungenfunktion in 3 Kategorien ein: normale Funktion, obstruktive Einschränkung (z. B. COPD) oder restriktive Einschränkung (z. B. Lungenfibrose). Zudem wurden strukturelle Veränderungen wie Emphyseme oder interstitielle Lungenerkrankungen auf CT-Aufnahmen erfasst.

Ihr Ergebnis: Personen mit obstruktiver Lungenerkrankung hatten ein mehr als doppelt so hohes Risiko für schwere COVID-19-Verläufe – also für Hospitalisierung oder Tod – verglichen mit Menschen mit normaler Lungenfunktion (aHR 2,11). Auch bei restriktiver Lungenfunktion war das Risiko erhöht (aHR 1,40). Wer strukturelle Veränderungen wie ein ausgeprägtes Emphysem aufwies, hatte ein um 64% erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf (aHR 1,64).

Eine COVID-19-Impfung senkte das Risiko für schweres COVID-19 in allen Gruppen deutlich – unabhängig vom Grad der Lungenfunktion oder von strukturellen Lungenschäden (aHR zwischen 0,19 und 0,50).

COVID-19: Empfehlungen des BfArM zur Off-Label-Therapie von Long-COVID
Die Expertengruppe Long-COVID Off-Label-Use am Bundesinstitut für Arzneistoffe und Medizinprodukte (BfArM) schlägt laut Sitzungsprotokoll vor, folgende Wirkstoffe bei Patienten mit Long-COVID einzusetzen:

Agomelatin (ein Antidepressivum) bei Fatigue

Ivabradin (ein Wirkstoff zur Behandlung verschiedener Herzerkrankungen) beim posturalem Tachykardiesyndrom (POTS)

Naltrexon (ein Opioidrezeptor-Antagonist) in niedriger Dosierung bei Fatigue

Vortioxetin (ein Antidepressivum) bei kognitiven Defiziten

Metformin (ein orales Antidiabetikum) zur Prophylaxe von Long-COVID innerhalb von 3 Tagen nach Diagnosestellung einer akuten SARS-CoV-2-Infektion bei Patienten mit Übergewicht/Adipositas als Risikofaktor.

Für Agomelatin ist aufgrund der Studiendaten eine Ausweitung der Empfehlung auf die Behandlung bei postviralem ME/CFS vorgesehen.

Im nächsten Schritt erstellt die Expertengruppe am BfArM für jeden der genannten Wirkstoffe eine fachliche Ausarbeitung. Diese dient dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) als wissenschaftliche Grundlage für die Entscheidung, ob der jeweilige Wirkstoff in die Arzneimittelrichtlinie aufgenommen und somit für die empfohlene Off-Label-Anwendung verordnungsfähig wird.

COVID-19: Welchen Nutzen zeigt die Hirnstimulation bei Long-COVID?
Forscher haben untersucht, ob eine sanfte, nicht invasive Hirnstimulation mittels transkranieller Gleichstromstimulation (tDCS) eine wirksame Behandlungsmöglichkeit für geistige Ermüdung bei Long-COVID sein könnte. Darüber berichten sie in Brain Stimulation.

In der Studie wurden 40 Long-COVID-Patienten mit ausgeprägter kognitiver Fatigue 4 Tage lang entweder mit einer echten oder einer Schein-Stimulation (Kontrollgruppe) behandelt. Ärzte haben in der Interventionsgruppe jeweils 30 Minuten lang der linke dorsolaterale präfrontale Kortex angeregt – ein Hirnbereich, der mit Aufmerksamkeit, Motivation und Antrieb in Verbindung steht. Ziel war, die Auswirkungen der Behandlung auf Erschöpfung, depressive Symptome und Lebensqualität zu untersuchen.

Sowohl aktiv behandelte Patienten als auch Teilnehmer der Placebo-Gruppe berichteten über spürbare Verbesserungen ihrer kognitiven Beschwerden – und das bis zu 1 Monat nach der letzten Sitzung. Die Verringerung der Fatigue war statistisch signifikant, gemessen am Ausgangswert. Depressive Symptome sowie die subjektive Lebensqualität verbesserten sich ebenfalls messbar in beiden Gruppen. Es gab keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen.

EEG-Messungen zeigten jedoch etwas Auffälliges: Nur bei Teilnehmern der Placebo-Gruppe fanden die Wissenschaftler Veränderungen in bestimmten Hirnstrommustern, die mit kognitiver Erschöpfung assoziiert sind. „Diese Unterschiede werfen Fragen zur genauen Wirkweise von tDCS auf und legen nahe, dass künftige Studien auch den Einfluss von Kontextfaktoren wie Patientenerwartungen oder therapeutischer Beziehung intensiver untersuchen sollten“ schreiben die Autoren.

Norovirus: Erfolgreiche klinische Tests neuer Impfstoffkandidaten
Noroviren zählen weltweit zu den häufigsten Ursachen akuter Magen-Darm-Erkrankungen. Trotz hoher Ansteckungsgefahr gibt es bislang keinen zugelassenen Impfstoff – doch ein neuer oraler Kandidat zeigt vielversprechende Ergebnisse.


Forschende haben in 2 Studien den Impfstoffkandidaten VXA-G1.1-NN getestet. Er wird oral verabreicht und soll im Darm eine gezielte Immunreaktion auslösen. In einer Phase-Ib-Studie mit älteren Erwachsenen, veröffentlicht in Science Translational Medicine , war der Impfstoff gut verträglich und rief eine starke, langanhaltende Antikörperantwort hervor – sowohl im Blut als auch an den Schleimhäuten.

Dann folgte eine Phase-II-Studie, ebenfalls in Science Translational Medicine publiziert. 165 Personen (18 bis 49 Jahre alt) erhielten im Verhältnis 1:1 randomisiert VXA-G1.1-NN oder ein Placebo. Bei der gezielten Provokation mit einem Norovirus verringerte die Impfung die Infektionsrate um 30% und senkte die Viruslast signifikant. Auch die Schleimhaut-Antikörper stiegen deutlich an – ein möglicher Hinweis auf protektive Effekte.

Antibiotika-Resistenzen: Klimawandel und fehlende Nachhaltigkeit als treibende Faktoren
Die weltweite Belastung durch Antibiotikaresistenzen (AMR) könnte bis zum Jahr 2050 um bis zu 2,4% steigen – selbst dann, wenn der Einsatz von Antibiotika nicht weiter ansteigt. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Analyse von über 4.500 Datensätzen mit insgesamt 32 Millionen Proben aus 101 Ländern, die den Zeitraum von 1999 bis 2022 abdecken. Sie wurde in Nature Medicine veröffentlicht.

Schon heute stellt AMR eine erhebliche globale Bedrohung dar. Im Jahr 2021 waren resistente Bakterien weltweit für schätzungsweise 1,14 Millionen Todesfälle verantwortlich – vor allem in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommen. Sollte keine wirksame Gegensteuerung erfolgen, könnte diese Zahl bis 2050 auf fast 2 Millionen steigen. Die Vereinten Nationen haben sich deshalb das Ziel gesetzt, AMR-bedingte Todesfälle bis zum Jahr 2030 um 10% zu senken.

Bisher konzentrieren sich internationale Maßnahmen vor allem auf die Verringerung des Antibiotikaeinsatzes in der Humanmedizin und in der Tierhaltung. Nach Ansicht der Autoren greift dieser Ansatz jedoch zu kurz. Ihre Modellrechnungen zeigen: Unter einem Worst-Case-Szenario mit einem globalen Temperaturanstieg von 4 bis 5°C (SSP5-8.5) könnte die AMR-Belastung weltweit um 2,4% steigen – in einkommensschwachen Ländern sogar um bis zu 4,1%. In wohlhabenderen Staaten wäre der Anstieg mit 0,9 % deutlich geringer.

Gleichzeitig machen Modellrechnungen Hoffnung: Investitionen in Impfprogramme, in eine bessere Gesundheitsversorgung und in den Ausbau der medizinischen Infrstruktur könnten die AMR-Belastung bis zum Jahr 2050 um 5,1% senken. Sie wären effektiver als eine alleinige Verringerung des Antibiotikaverbrauchs, die laut Modell AMR lediglich um 2,1% sehken würde.

Bakterielle Augenentzündung: Steigende Fallzahlen in Ostafrika, Indien und Somalia
Ein Trachom ist eine chronisch-entzündliche Infektionskrankheit des Auges. Sie wird durch das Bakterium Chlamydia trachomatis verursacht und zählt zu den häufigsten Ursachen vermeidbarer Erblindung weltweit. Forscher erwarten bis zum Jahr 2040 ein Anstieg der absoluten Fallzahlen auf rund 1,74 Millionen – durch starkes Bevölkerungswachstum in betroffenen Ländern. Darüber berichten sie in Opthalmology and Therapy .

Heute leben rund 125 Millionen Menschen in Trachom-Endemiegebieten; am stärksten betroffen sind Ostafrika, Indien und Somalia. Allein diese 3 Länder vereinen über 70% der weltweiten Fälle. Besonders hoch ist die Krankheitslast in Afrika südlich der Sahara – mit einer Prävalenz, die das 25-Fache des globalen Durchschnitts beträgt.

Trotz internationaler Programme wie der WHO-Initiative GET2020 wurde das Ziel einer weltweiten Eliminierung bislang nicht erreicht. Künftige Maßnahmen sollten verstärkt soziale Ungleichheiten – insbesondere geschlechterspezifische Risiken – in den Blick nehmen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 25. März 2025
Gelenkschmerzen? Arthrose? Arthritis? So gut lindert Aktivität die Schmerzen
Ergebnisse aus Metanalysen und Tipps für den Alltag
Lucy Hicks, Medscape


Regelmäßige Bewegung ist auch bei Arthrose wichtig, aber für Menschen mit schmerzenden Gelenken oft eine Herausforderung. Dabei gilt Sport als Schlüssel zur Arthrose-Therapie. Trotzdem bleiben fast 1 Drittel aller Patienten inaktiv.

Die zentralen Fragen: Wie viel Bewegung ist ideal? Und wie lassen sich Patienten motivieren? Medscape hat mit Experten über Aspekte des Arthrose-Managements gesprochen.

Warum Aktivität der beste Schutz ist
Sport ist eine effektive Therapie, besonders für Menschen mit Arthrose. Studien zeigen, dass regelmäßige Bewegung Schmerzen lindern, die Gelenkfunktion verbessern und den Muskelabbau verringern bzw. verhindern kann. Wer aktiv bleibt, schützt seine Gelenke und kann langfristige Schäden hinauszögern.


Fast alle medizinischen Fachgesellschaften sind sich einig: Bewegung ist essenziell für die Arthrose-Therapie. 2 große Cochrane-Studien bestätigen, dass gezielte körperliche Aktivität nicht nur die Schmerzen bei Hüft- und Kniearthrose verringert, sondern auch die Mobilität verbessert. Und laut den US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) kann körperliche Aktivität bei Erwachsenen mit Arthritis Schmerzen um 40% lindern, aber auch die Funktionsfähigkeit in relevantem Umfang verbessern.

Neue Studien zeigen, dass Bewegung sogar die Gelenkstruktur positiv beeinflussen kann. Eine Untersuchung mit 1.200 Kniearthrose-Patienten ergab: Regelmäßiges Gehen verringerte nicht nur die Häufigkeit von chronischen Knieschmerzen, sondern senkte auch das Risiko für eine Gelenkspaltverengung um 20% – ein Indikator, dass die Krankheit voranschreitet.

Darüber hinaus schützt körperliche Aktivität vor chronischen Krankheiten, die oft mit Arthrose einhergehen, etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Typ-2-Diabetes. Eine in der Zeitschrift Journal of Orthopaedic & Sports Physical Therapy veröffentlichte Analyse zeigt, dass Bewegung hilft, mindestens 35 chronische Erkrankungen zu vermeiden und mindestens 26 bestehende Krankheiten zu behandeln – unter anderem durch die entzündungshemmende Wirkung von Sport.

Nicht nur der Körper profitiert von Sport. Auch die mentale Gesundheit wird durch Bewegung gestärkt. Studien belegen, dass Depressionen und Angstzustände bei Arthrose-Patienten häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Körperliche Aktivität kann dabei helfen, Stress abzubauen, die Stimmung zu heben und das allgemeine Wohlbefinden zu verbessern.

Bewegung bei Arthrose: Jeder Schritt zählt
Bleibt als Problem, dass viele Menschen mit chronischen Schmerzen denken, das in Leitlinien empfohlene Pensum von 150 Minuten moderater Bewegung pro Woche sei unerreichbar. Doch die gute Nachricht ist: Jede Bewegung ist besser als keine – und selbst wenige Schritte pro Tag sind nützlich.

Eine große Studie mit über 1.500 Erwachsenen mit Gelenkbeschwerden an den unteren Gliedmaßen hat gezeigt, dass bereits 1 Stunde Bewegung pro Woche das Risiko für körperliche Einschränkungen über 4 Jahre hinweg deutlich verringern kann.

Auch Krafttraining bringt große Vorteile. Eine Analyse von 280 Studien bestätigt, dass das Training über 3 bis 6 Monate hinweg zu einer spürbaren Schmerzreduktion und einer besseren Gelenkfunktion führt – unabhängig davon, wie oft oder wie intensiv trainiert wurde. Es kommt also nicht auf Perfektion oder strikte Trainingspläne an, sondern darauf, überhaupt aktiv zu werden.


Ein praktikabler Weg, Bewegung in den Alltag zu integrieren, ist das Zählen von Schritten. Oft lesen Patienten, sie sollten auf 10.000 Schritte pro Tag kommen. Studien zufolge bringen aber schon weniger Schritte gesundheitliche Vorteile.

Eine Untersuchung mit fast 1.800 Menschen mit Kniearthrose belegt:

1.000 zusätzliche Schritte pro Tag senken das Risiko für funktionelle Einschränkungen in den nächsten 2 Jahren um 16 bis 18%.

6.000 Schritte täglich gelten als wichtiger Schwellenwert, ab dem das Risiko für künftige Einschränkungen deutlich verringert wird.

Ärzte sollten „Patienten mit chronischen Schmerzen ermutigen, indem sie ihne erklären: 6.000 Schritte am Tag sind ein erreichbares und sinnvolles Ziel“, so Prof. Dr. Kelli Allen, Professorin für Medizin und Sportphysiologin an der University of North Carolina.

So gelingt der Einstieg in einen aktiven Alltag
„Es gibt keine speziellen Übungen, die am besten gegen Osteoarthritis geeignet sind, es kommt also auf die Vorlieben des Patienten an“, sagt Allen. Der 1. Schritt zur regelmäßigen Bewegung sei oft der schwerste – besonders für Menschen, die bislang wenig aktiv gewesen seien oder durch Schmerzen starke Einschränkungen hätten.

Doch Experten sind sich einig: Kleine, machbare Veränderungen sind der Schlüssel zu einem gesünderen Lebensstil. Es muss nicht gleich ein intensives Trainingsprogramm sein. Bereits kleine Anpassungen im Alltag können große Wirkung zeigen.

Dr. Grace H. Lo, Dozentin für Immunologie, Allergie und Rheumatologie am Baylor College of Medicine in Houston, empfiehlt einen sanften Einstieg, der sich mühelos in den Tagesablauf integrieren lässt. Schon 3-mal pro Woche 20 Minuten Spazierengehen können die Beweglichkeit spürbar verbessern. Dabei ist es nicht entscheidend, möglichst viele Kilometer zurückzulegen, sondern in Bewegung zu bleiben.

Einige Tipps der Expertin:

Kurze Strecken zu Fuß statt mit dem Auto zurücklegen.

Eine Bushaltestelle früher aussteigen und den Rest des Weges zu Fuß gehen.

Beim Telefonieren durch den Raum laufen statt zu sitzen.

„Patienten sollten Möglichkeiten auswählen, die ihnen leicht fallen und sich mühelos in ihren Alltag integrieren lassen“, erklärt Lo. Je einfacher eine Änderung alter Gewohnheiten sei, desto wahrscheinlicher werde sie beibehalten – und desto besser seien auch die langfristigen Effekte.

Welche Übungen sind am besten bei Arthrose?
Una Makris, Dozentin für Innere Medizin an der University of Texas, setzt auf eine Kombination aus Aerobic, Gleichgewichtstraining und Krafttraining, wie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen. Ihre Erfahrung zeigt, dass gelenkschonende Aktivitäten wie Radfahren, Spazierengehen oder Schwimmen besonders geeignet sind.

Doch Bewegung kann auch unkonventionell sein. Gartenarbeit, so Dr. Lo, sei ideal für Menschen mit Arthrose. Neben der körperlichen Betätigung biete sie auch Vorteile für die mentale Gesundheit. Menschen seien häufiger an der frischen Luft.

Je nach individuellen Bedürfnissen könnten auch Yoga oder Tai-Chi eine sinnvolle Ergänzung sein – besonders für Menschen mit Gleichgewichtsproblemen, so Allen. Wichtig ist: Es gibt keine perfekte Übung – die beste Bewegung ist die, die regelmäßig gemacht wird.

So motivieren Sie Ihre Patienten
Für Ärzte bleibt als Frage, wie sie Patienten motivieren, sich mehr zu bewegen, und zwar langfristig. „Es gibt nicht die eine Methode, die für alle funktioniert“, sagt Makris. Der Schlüssel liege darin, herauszufinden, was Patienten wirklich wichtig sei – und woran sie Spaß hätten. Dann steige die Motivation automatisch.

Auch die SMART-Methode gilt als effektiv. Ziele, die sich Menschen stecken, müssen spezifisch (S), messbar (M), erreichbar (achievable, A), realistisch (R) und terminiert (T, also zeitlich planbar) sein.

Lo rät, Bewegung so praktisch und alltagstauglich wie möglich zu gestalten. Patienten brauchen Lösungen, die sich problemlos in ihren Tagesablauf integrieren lassen, ohne als zusätzliche Belastung empfunden zu werden.

Ein weiterer wichtiger Punkt: Bewegung sollte ein fester Bestandteil ärztlicher Gespräche sein. Lo und Makris sind sich einig, dass Erfolge gewürdigt und Ziele regelmäßig überprüft werden sollten. So bleibt Bewegung nicht nur eine Empfehlung, sondern wird zu einer Gewohnheit.

Dieser Beitrag ist im Original erschienen auf Medscape.com.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 10. März 2025
Wie normal ist Anderssein?
Konzept der Neurodiversität hilft Patienten mit ADHS, Leseschwäche und anderen Syndromen

Von Ute Eppinger, Medscape

Interessenkonflikte 10. März 2025

Wie normal ist Anderssein? Menschliche Gehirne sind wie Schneeflocken: Von weitem sehen sie alle gleich aus. Aber bei näherer Betrachtung sieht die Sache anders aus.

„Wir können mit wissenschaftlicher Sicherheit sagen: Es gibt keine 2 Personen, deren Gehirn sich gleicht. Und das ist die Grundlage für Neurodiversität“, erklärt Prof. Dr. André Frank Zimpel, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Leiter des Zentrums für Neuro-Diversitäts-Forschung an der Universität Hamburg. Menschen denken unterschiedlich und stellen auf verschiedene Weisen Bezug zur Welt her.

Grob geschätzt leben in Deutschland mehr als 4 Millionen Menschen mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und circa 1 Million Menschen mit Diagnosen (bzw. fehlenden Diagnosen) im Autismus-Spektrum, so Zimpel. Bei seinen Studien stelle er immer wieder fest, dass Menschen mit verschiedenen Syndromen – ADHS, Lese-Rechtschreibschwäche, Synästhesie oder Dyskalkulie – keine Lernbehinderung haben, sondern „einen anderen Bezug zur Welt“ herstellen, erklärt Zimpel.

Die Neurodiversitätsbewegung entstand in den USA durch autistische Aktivistinnen, die sich seit Anfang der 1990er-Jahre für die Rechte neurodivergenter Menschen engagieren und Kritik an der vorherrschenden Meinung äußerten, neurologische Diversität sei inhärent pathologisch.


2 Begriffe und ihre Konzepte: Neurodiversität und Neurodivergenz
Während der Begriff Neurodiversität darauf verweist, dass alle Menschen unterschiedliche Gehirne haben, grundsätzlich also eine neurologische Vielfalt auf der Welt herrscht, bezieht sich Neurodivergenz auf Menschen, deren neurokognitive Funktionen von den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen abweichen.

Dabei verleugne das Konzept der Neurodiversität weder, dass Autismus mit Einschränkungen einhergeht in einer Welt, die nicht für autistische Menschen gemacht ist, noch, dass eine Behinderung vorliegen könne, schreibt der 2019 gegründete Verein NeuroDivers e.V. Der Schwerpunkt wird aber auf Akzeptanz und den Abbau von Barrieren gelegt statt auf Ausgrenzen und Anpassung. Neurodiversität ist keine medizinische Diagnose, für Betroffene ist es aber mehr als ein Label: eine Form der Selbstermächtigung.

Konzept der Neurodiversität für viele hilfreich und entstigmatisierend …
„Ich denke schon, dass das Konzept der Neurodiversität für viele Menschen sehr hilfreich und entstigmatisierend ist“, sagt Prof. Dr. Georg Schomerus, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig, im Gespräch mit Medscape. Es sei viel leichter, sich auf einem solchen Spektrum einzuordnen, als in Kategorien. „Ein solches Konzept ermöglicht auch eine differenzierte Betrachtungsweise: Dass ein Mensch eben bestimmte Schwierigkeiten oder Besonderheiten oder einfach andere Fähigkeiten aufweist.“

Früher identifizierte man Kinder mit Problemen vor allem mit ihren Störungsbildern und bezeichnete sie als Autisten, als ADHS-Betroffene oder als Legastheniker. Die Vertreter des Konzepts Neurodiversität möchten, dass auch die Stärken der Betroffenen gesehen werden. Sie vermeiden deshalb Begriffe wie Krankheit und Störung, auch wenn die Kinder mit erheblichen Beeinträchtigungen der Gesundheit und im Alltag zu kämpfen haben.

Bei leichten Formen gelingt das natürlich besser. So kann sich zum Beispiel ein Kind mit ADHS in der Schule zwar schwerer konzentrieren als andere Kinder. Es ist aber möglicherweise gleichzeitig besonders kreativ oder mitreißend.

Die Chancen und Grenzen des Konzepts sind in der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) immer wieder Thema: Auf dem DGPPN-Kongress 2022 fand das 1. Diskussionsforum zum Thema Neurodiversität statt.

Die Chancen der Neurodiversität in der Medizin wurden in einem vor Kurzem in JAMA erschienenen Meinungsartikel erörtert. Dr. Roy Hamilton, Neurologe an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia, und seine Kollegen werben darin für den Aufbau einer integrativen Ärzteschaft. Übereinstimmende Belege zeigten, dass vielfältige und integrative Arbeitsumgebungen oft besser sind als homogene Arbeitsumgebungen, denn eine größere Vielfalt an Hintergründen und Lebenserfahrungen schaffe ein breiteres Spektrum an Perspektiven, um gemeinsame Herausforderungen zu bewältigen, schreiben die Autoren.


… bildet das Problem aber nicht vollständig ab
Allerdings, erinnert Schomerus, schließt das Spektrum auch Extreme ein: Menschen, die sehr schwer betroffen sind, beispielsweise Mensch mit schwerem Autismus. Schomerus glaubt nicht, dass speziell diese Menschen von der Entstigmatisierung tatsächlich profitieren. „Menschen mit einem relativ hohen Funktionsniveau, die sich gut als neurodivers positionieren können, prägen das Bild von Neurodiversität und Neurodivergenz. Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer, weil Neurodiversität entsprechend konnotiert ist und man das schwere Ende des Spektrums nicht mehr sieht.“

Dadurch werden diejenigen, die sehr schwer betroffen sind, nicht sichtbarer, sondern eher noch unsichtbarer. Prof. Dr. Georg Schomerus
Zumindest, so Schomerus, bestehe die Gefahr, dass das passiert. Zu beobachten ist dies auch bei anderen psychischen Erkrankungen. Während Depressionen eher entstigmatisiert wurden – auch, weil viele Menschen depressive Episoden aus eigener Anschauung kennen – sind schwere Krankheitsbilder wie etwa Schizophrenie nicht entstigmatisiert und werden nach wie vor mit Gefährlichkeit u.ä. assoziiert.

Fördert das Konzept die Ablehnung von Hilfsangeboten?
Schomerus erinnert auch an Menschen, die versuchen, ihre ausgeprägte ADHS im Selbstversuch mit Stimulanzien zu therapieren, weil sie merken, dass sie sich dann besser fühlen. Um an diese Substanzen zu gelangen, wird ein Teil dieser Menschen kriminell. „Das ist eine Gruppe, die von solchen Neurodiversitäts-Debatten völlig ausgeschlossen ist. Dabei bezahlen gerade diese Menschen einen hohen Preis für ihre Besonderheit“, erklärt Schomerus.


„Als Psychiater muss man immer auf die Menschen achten, die es besonders schwer haben und auf diejenigen, die besonders schwierig sind – wir müssen uns gerade um diese Betroffenen gut kümmern. Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob die Popularität des Konzepts den schwer Betroffenen wirklich nützt.“

Der Begriff Neurodiversität ist sicher für viele hilfreich und entlastend – er bildet das Problem aber nicht vollständig ab. Prof. Dr. Georg Schomerus
Für ein Scheinargument hält Schomerus hingegen Bedenken von Kritikern, dass das Konzept Neurodiversität dazu führen könnte, dass sich Menschen mit beispielsweise ausgeprägter ADHS mit ihren Problemen arrangieren und sich gegenüber sinnvollen Hilfsangeboten verschließen könnten. „Das glaube ich nicht. Der soziale Druck – nehmen wir das Beispiel Pünktlichkeit – ist ja vorhanden, sozialer Druck verschwindet durch ein solches Label ja nicht“, erklärt Schomerus. Wenn das Konzept dazu beitrage, den Anpassungsdruck auf die Betroffenen ein bisschen zu verringern, sei das entlastend und eher positiv zu bewerten.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914759?ecd=WNL_mdplsfeat_250310_mscpedit_de_etid7282775&uac=&impID=7282775

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 20. Februar 2025
Klinische Studie zu "Alterbremsen"
Mit Omega-3-Fettsäuren an der epigenetischen Uhr drehen? Studie zeigt „Verjüngung“ von Senioren um ein paar Monate

Nadine Eckert, Medscape

20. Februar 2025

Omega-3-Fettsäuren könnten das biologische Altern verlangsamen. Eine internationale Forschungsgruppe hat in einer Studie, die im Fachjournal Nature Aging veröffentlicht wurde, gezeigt, dass Omega-3-Fettsäuren bei älteren Menschen einen messbaren, wenn auch moderaten Einfluss auf verschiedene epigenetische Uhren haben. Durch zusätzliches Vitamin D und regelmäßige Bewegung könnte dieser Effekt noch verstärkt werden.

Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren. Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari und Kollegen
Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren und Bewegung hatten im Tiermodell, in einigen Beobachtungsstudien und kleineren Pilotstudien Hinweise auf eine verlangsamte biologische Alterung gezeigt. „Unsere Studie zeigt einen kleinen schützenden Effekt der Behandlung mit Omega-3-Fettsäuren auf die Verlangsamung der biologischen Alterung“, schreiben Prof. Dr. Heike A. Bischoff-Ferrari, Lehrstuhlinhaberin Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich und Akademische Leiterin des Campus Altersmedizin am Stadtspital Zürich, und ihre Kollegen.

Menschen altern anders als Mäuse


Die beiden anderen Interventionen hatten in der aktuellen Studie dagegen für sich genommen keinen Effekt, zeigten zusammen mit Omega-3-Fettsäuren aber eine additive Wirkung. Auf Nachfrage von Medscape erklärt Dr. Maria Ermolaeva, die am Leibniz-Institut für Alternsforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena die Forschungsgruppe „Stresstoleranz und Homöostase“ leitet: „Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Das zeigt, wie wichtig es ist, Ergebnisse aus Tierstudien nicht vorschnell auf den Menschen zu übertragen."

Die Forschungsgruppe um Bischoff-Ferrari untersuchte in einer Post-hoc-Analyse 777 Teilnehmende der DO-HEALTH-Studie. In dieser randomisiert-kontrollierten Studie wurde bei Personen über 70 Jahre der Effekt von Vitamin D (2000 IE/Tag) und/oder Omega-3-Fettsäuren (1 g/Tag) und/oder eines Bewegungsprogramm auf einen gesunden Alterungsprozess untersucht.

In der Post-hoc-Analyse wurde der Effekt der untersuchten Interventionen auf 4 epigenetische Uhren überprüft: PhenoAge, GrimAge, GrimAge2 und DunedinPACE (s. Kasten). Epigenetische Uhren ermöglichen es, anhand von DNA-Methylierungsmustern das biologische Alter eines Menschen zu bestimmen.

Wir wissen aus Tiermodellen, dass diese Interventionen vielversprechend sind. Aber Maus-Altern ist nicht gleich Menschen-Altern. Dr. Maria Ermolaeva
Die alleinige Einnahme von Omega-3-Fettsäuren verlangsamte alle 4 untersuchten epigenetischen Uhren. Für Vitamin D oder Bewegung ließ sich das so nicht beobachten. Aber alle 3 Interventionen zusammen hatten additive Effekte auf immerhin eine der Uhren, PhenoAge.

Zu alt für Anti-Aging?
Ein besonders überraschendes Ergebnis der Studie war, dass Bewegung keine signifikanten Effekte auf die epigenetischen Uhren zeigte. Ermolaeva vermutet, dass das Alter der Probanden eine Rolle spielt: „Viele Anti-Aging-Strategien basieren darauf, den Stoffwechsel flexibel zu halten. Zellen müssen leicht zwischen verschiedenen Methoden der Energieerzeugung hin- und herwechseln können. Doch mit zunehmendem Alter nimmt diese metabolische Plastizität ab. Jüngere Menschen hätten vielleicht mehr profitiert."

Bischoff-Ferrari und ihre Kollegen berichten, dass die Effekte über einen Interventionszeitraum von 3 Jahren von 2,9 bis 3,8 Monate gereicht hätten. Eine um 3 bis 4 Monate verlangsamte Alterung über 3 Jahre stellt einen moderaten Effekt dar, wie auch die Expertin bestätigt. „Es ist nicht bahnbrechend, aber es ist auch keine radikale Intervention“, kommentiert Ermolaeva. Zum Vergleich: In Tierstudien kann eine drastische Kalorienrestriktion die Lebensspanne um 30% bis 40% verlängern. Doch solche Effekte sind beim Menschen aufgrund der genetischen Vielfalt und weniger standardisierter Lebensbedingungen schwerer zu erreichen.

Der Schlüssel sind personalisierte Ansätze
Die Studienautoren weisen darauf hin, dass Teilnehmende mit niedrigeren Omega-3-Ausgangswerten stärkere epigenetische Veränderungen gezeigt hätten. Dies spreche für die Entwicklung personalisierter Anti-Aging-Ansätze. „Der Ernährungsstatus zu Beginn könnte das Ausmaß der epigenetischen Reaktivität modulieren. Dies hebt hervor, dass Omega-3-Fettsäuren als gezielte Intervention das Potenzial haben, epigenetische Uhren und damit das biologische Alter zu beeinflussen“, schreiben sie.

Auch Altersforscherin Ermolaeva geht davon aus, dass Anti-Aging-Interventionen wahrscheinlich individuell unterschiedlich wirken. „Es gibt Menschen, die genetisch besser auf Omega-3 ansprechen, zum Beispiel aufgrund einer besseren Mitochondrienfunktion oder eines aktiveren Stoffwechsels. Andere wiederum könnten es nicht so gut verwerten. Die Zukunft der Altersforschung liegt daher in personalisierten Ansätzen."

Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Dr. Maria Ermolaeva
Auf die Frage, ob sie Omega-3-Fettsäuren für ein längeres Leben empfehlen würde, bleibt die Expertin zurückhaltend: „Es gibt zwei wichtige Fragen: Wird es helfen? Und kann es schaden? Schaden wird Omega-3 den meisten Menschen nicht – es sei denn, sie haben eine spezifische Unverträglichkeit. Ob es nützt? Vielleicht, aber die Effekte sind nicht überwältigend. Aber da Menschen ohnehin Fette zu sich nehmen, warum dann nicht vermehrt Omega-3?

Epigenetische Uhren

Epigenetische Uhren sind biologische Messinstrumente, die anhand von Veränderungen in der DNA-Methylierung das biologische Alter eines Individuums bestimmen. Das biologische Alter kann vom chronologischen Alter abweichen und ist häufig ein genauerer Indikator für die Gesundheit und das Krankheitsrisiko.

PhenoAge verwendet DNA-Methylierungsmuster, die mit physischen und klinischen Gesundheitsmarkern korrelieren. Sie berücksichtigt Parameter wie Bluthochdruck, Blutfette, Glukose und das Vorhandensein von chronischen Krankheiten. Diese epigenetische Uhr ist besonders gut darin, das biologische Alter in Bezug auf das Krankheitsrisiko und die Lebensqualität zu messen, indem sie Risikofaktoren für Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes einbezieht.

GrimAge nutzt DNA-Methylierungsmuster, bestimmte Biomarker (etwa Blutdruck, Cholesterin, Glukose, Body-Mass-Index) sowie Proteine im Blut (z.B. Leptin, Cystatin C und CRP). Sie hat eine hohe Vorhersagekraft für die verbleibende Lebensspanne und das Risiko für frühzeitigen Tod.

GrimAge2 ist eine Weiterentwicklung von GrimAge mit Anpassungen und Verbesserungen, die genauere Prognosen ermöglichen. Es enthält zusätzliche epigenetische Marker und berücksichtigt noch mehr Altersindikatoren. GrimAge2 kann das biologische Alter und das verbleibende Leben noch genauer schätzen. Diese Uhr wird in Studien eingesetzt, um präzisere Aussagen zu den Auswirkungen von Lebensstil, Ernährung und Umweltfaktoren auf das Alter zu treffen.

DunedinPACE misst die Alterungsrate des Körpers auf Basis von DNA-Methylierung und verbindet diese mit klinischen Gesundheitsdaten. Sie ermittelt, wie schnell ein Individuum biologisch altert. Diese Uhr bestimmt nicht nur das biologische Alter, sondern auch das Tempo der biologischen Alterung. Sie ist in der Lage, schneller alternde Individuen zu identifizieren. DunedinPACE wird zunehmend verwendet, um die Geschwindigkeit des Alterungsprozesses und den Einfluss verschiedener Faktoren, einschließlich Lebensstil, Ernährung und Genetik, zu untersuchen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 12. Februar 2025
Patient prügelt Hausarzt krankenhausreif: Gewalt in Kliniken und Praxen nimmt laut MB-Monitor zu
Ute Eppinger, Medscape

Interessenkonflikte 12. Februar 2025

Vor Kurzem erst wurde ein Hausarzt aus Spenge in Ostwestfalen-Lippe von einem Patienten im Wartezimmer krankenhausreif geprügelt. Fassungslos reagiert der Hausärztinnen- und Hausärzteverband Westfalen-Lippe auf den gewalttätigen Angriff: „Schon lange beobachten wir eine Zunahme von aggressivem Verhalten gegenüber den Beschäftigten im Rettungsdienst und Gesundheitswesen. Dieser Fall in unserer Region, bei dem es nicht bei verbaler Gewalt blieb, sondern bei dem ein Kollege auf derart brutale Weise körperlich angegangen wurde, macht uns fassungslos. Wir wünschen ihm eine schnelle Genesung und dem gesamten Team viel Kraft, um das Erlebte zu verarbeiten“, erklärt Lars Rettstadt, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe.

„Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss“, erklärt Dr. Laura Dalhaus, Vorstandsmitglied des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes Westfalen-Lippe. „Wir fordern ganz konkret, dass Beschäftigte in Arztpraxen in den Paragrafen 115 Strafgesetzbuch mit aufgenommen werden. Bislang macht sich strafbar, wer Hilfeleistende wie etwa Beschäftigte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes oder der Notaufnahmen durch Androhung von Gewalt oder tätlichen Angriff behindert. Angriffe gegen Ärztinnen, Ärzte und das Praxispersonal in der ambulanten Versorgung müssen ebenfalls ein Straftatbestand nach diesem Gesichtspunkt werden“, so Dalhaus.

Der aktuelle Vorfall zeigt sehr deutlich, dass sich hier politisch dringend etwas bewegen muss. Dr. Laura Dalhaus
Die Gewalt gegen medizinisches Personal in Krankenhäusern nimmt zu: Das geht aus den Ergebnissen des MB-Monitor 2024 hervor. An der Umfrage des Marburger Bundes haben 9.649 angestellte Ärztinnen und Ärzte zwischen dem 27. September und dem 27. Oktober 2024 teilgenommen.

12% der Befragten gaben an, häufig mit Beschimpfungen, Beleidigungen und anderen Formen verbaler Gewalt im beruflichen Umfeld konfrontiert zu sein; bei einem Drittel kommen solche verbalen Gewalterfahrungen manchmal vor.

Körperliche Gewalt, beispielsweise in Form von Schlägen oder Tritten, erleben 10% der Ärztinnen und Ärzte gegen sich oder andere Mitarbeitende „manchmal“ und 2% „häufig“.

41% schreiben, dass die Gewalt in den vergangenen 5 Jahren zugenommen habe.


Erstmals waren Ärztinnen und Ärzte im MB-Monitor nach ihren Erfahrungen mit verbaler und körperlicher Gewalt im beruflichen Kontext gefragt worden. „Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal“, kommentiert Dr. Susanne Johna, Vorsitzende des Marburger Bundes, die Ergebnisse. „Uns ist klar, dass bei manchen Patienten Aggressionen Teil des medizinischen Problems sind. Diese Fälle sind aber deutlich zu unterscheiden von einer Vielzahl von inakzeptablen Anfeindungen und Übergriffen, beispielsweise durch Angehörige“, so Johna weiter.


"Die Umfrage-Ergebnisse sind ein Alarmsignal". (Dr. Susanne Johna)


Die zunehmende Aggression verschärfe die ohnehin belastenden Arbeitsbedingungen und trage zur Frustration und Erschöpfung im ärztlichen Beruf bei. „Schutzmaßnahmen und ein gesellschaftliches Umdenken sind dringend erforderlich. Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden“, betont Johna.

Es kann doch nicht sein, dass diejenigen, die anderen helfen, bei ihrer Arbeit traumatisiert werden. Dr. Susanne Johna
Die Zahl sogenannter Rohheitsdelikte in medizinischen Einrichtungen ist zwischen 2019 und 2022 um 20% gestiegen. Wie Medscape berichtet hatte, fordern die Kassenärzte deshalb ähnlichen Schutz vor Gewalttaten wie bei den Rettungskräften. Schon seit längerer Zeit haben Ärztekammern Online-Portale eingerichtet, bei denen Gewalt gegen medizinisches Personal gemeldet werden kann.

Immer wieder sind auch Niedergelassene mit Gewalt konfrontiert. In einer Erhebung aus dem Jahr 2020 mit 1.500 Augenärztinnen und Augenärzten (75,5% arbeiteten in Praxen) berichteten 83,3% der Befragten von Aggressionen während ihrer Tätigkeit, 65% hatten verbale Übergriffe ohne Drohung erlebt, von bedrohlich körperlichen Gewalterfahrungen berichteten 24,1%.

Vorfälle überwiegend in Notaufnahmen oder auf Stationen:

Rund 90% der Teilnehmer der MB-Umfrage arbeiten in Akutkrankenhäusern und Reha-Kliniken, 8% in ambulanten Einrichtungen. Die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (53%) war zum Zeitpunkt der Umfrage nicht älter als 40 Jahre, 54% der Befragten waren Frauen.


Meist geht verbale oder körperliche Gewalt von Patienten oder Angehörigen aus. Die Vorfälle tragen sich überwiegend in Notaufnahmen oder auf den Stationen zu. Schutzmaßnahmen vor Gewalt am Arbeitsplatz, z.B. Sicherheitspersonal und spezifische Schulungen wie Deeskalations-Trainings, müssen an vielen Krankenhäusern und Gesundheitseinrichtungen erst noch etabliert werden. 41% der Mitglieder des Marburger Bundes geben an, dass es solche Schutzmaßnahmen an ihrer Einrichtung gibt, genauso viele verneinen dies, 18% wissen es nicht.

Strukturelle Probleme treffen auf allgemeine Verrohung der Gesellschaft
Gefragt nach den Ursachen für verbale bzw. körperliche Gewalt nannten die Teilnehmer am häufigsten Probleme wie Drogen- und Alkoholmissbrauch und psychiatrische Erkrankungen. Aber auch überzogene Anspruchs- und Erwartungshaltungen der Patienten, eine „allgemeine Verrohung und Enthemmung in der Gesellschaft“ und strukturelle Probleme wie lange Wartezeiten, personelle Engpässe, Ressourcenverknappung und Kommunikationsprobleme wurden als Ursachen genannt.

„Wir brauchen mehr Aufklärung durch breit angelegte Kampagnen, ausreichend Personal in der direkten Patientenversorgung und adäquate Schutzmaßnahmen für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und das Pflegepersonal. Das ist nicht nur eine Aufgabe der Krankenhäuser – hier ist auch die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen der Versorgung besser zu gestalten“, so Johna.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Montag, 16. Dezember 2024
Fit im Training heißt fit im Hirn
Eine gute kardiorespiratorische Fitness bremst den geistigen Verfall unabhängig von Alter und APOE4-Status

Anke Brodmerkel, Medscape
16. Dezember 2024

Eine gute kardiorespiratorische Fitness senkt bei älteren Menschen das Risiko, dass deren kognitive Fähigkeiten nachlassen. Darauf deutet eine US-amerikanische Beobachtungsstudie hin, die ein Team um Prof. Dr. Kirk Erickson vom Department of Neuroscience des AdventHealth Research Institute in Orlando, Florida, jetzt online im British Journal of Sports Medicine (BJSM) veröffentlicht hat.

Der positive Einfluss zeige sich unabhängig von den wichtigsten Risikofaktoren für den geistigen Abbau – dem Alter und dem Vorliegen des Hochrisikogens APOE4, berichten die Erstautorin der Publikation, Dr. Lauren Oberlin vom AdventHealth Research Institute, und ihre Kollegen. Finanziert wurde die Studie von den National Institutes of Health.

Mehr als jeder 4. Proband war Träger des APOE4-Gens
Die kardiorespiratorische Fitness (CRF) beschreibt die Fähigkeit des Herz-Kreislauf- und des Atmungssystems, die großen Skelettmuskeln ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, damit diese bei sportlichen Aktivitäten die nötige Energie bereitstellen können. Durch regelmäßiges Ausdauertraining lässt sie sich verbessern.

Auch frühere Studien hatten bereits Zusammenhänge zwischen der kardiorespiratorischen Fitness und dem Risiko für einen altersbedingten kognitiven Verfall beobachtet. Unklar war bisher aber, welche konkreten Aspekte der Kognition eine gute CRF positiv verändern kann und welche anderen Faktoren diesen Zusammenhang womöglich beeinflussen.

Für ihre Studie, die diese Fragen beantworten sollte, rekrutierten Erickson und sein Team 648 kognitiv gesunde Probanden im Alter von 65 bis 80 Jahren. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 69 Jahren. 71% von ihnen waren Frauen. 15% gaben an, einen Betablocker einzunehmen. Von den 640 Probanden, die einem entsprechenden Gentest unterzogen wurden, waren 27% APOE4-Träger.

Die Fitness der Teilnehmer ließ eher zu wünschen übrig
Als Maß für die CRF verwendeten die Wissenschaftler um Erickson den VO2max-Wert, also die maximale Sauerstoffmenge, die bei höchster körperlicher Anstrengung aufgenommen und verwertet werden kann. Gemessen wurde der Wert während eines abgestuften Belastungstests auf einem motorisierten Laufband.

Die kognitiven Fähigkeiten ihrer Probanden bewerteten die Forscher anhand der Ergebnisse zahlreicher validierter neuropsychologischer Tests, die an 2 verschiedenen Tagen durchgeführt wurden. In den Tests wurden 5 Bereiche der Kognition untersucht:

die Verarbeitungsgeschwindigkeit,

das Arbeitsgedächtnis,

die visuell-räumliche Verarbeitung,

das episodische Gedächtnis und

die Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle, die auch Planungs- und Organisationsfähigkeiten miteinschließt.

Wie Erickson und seine Kollegen schreiben, betrug die durchschnittliche VO2max ihrer Probanden 21,68 ml/kg/min. Sonderlich fit waren die Teilnehmer der Studie demnach nicht. Eine gute VO2max liegt bei Männern zwischen 30 und 40 ml/kg/min, bei Frauen zwischen 25 und 35 ml/kg/min.

Das Bildungsniveau wirkte sich positiv aus
Erwartungsgemäß war ein höheres Alter der Probanden mit einer schlechteren Leistung in allen 5 kognitiven Bereichen verbunden, wenn das Geschlecht, die Bildungsjahre und der BMI berücksichtigt wurden. Ein höheres Bildungsniveau war durchweg mit besseren Leistungen assoziiert.

Die vermutlich wichtigste Botschaft der Studie ist jedoch die folgende: Ein höherer VO2max-Wert war mit einer besseren Leistung in allen 5 untersuchten kognitiven Bereichen verbunden – und zwar unabhängig vom Alter und APOE4-Status.

Bei Frauen, Probanden mit geringerer Schulbildung und Patienten, die Betablocker einnahmen, fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen der CRF und der kognitiven Leistung vor allem in den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle.

Da es sich lediglich um eine Beobachtungsstudie handele, könnten sie natürlich keine eindeutigen Schlüsse zu Ursache und Wirkung ziehen, räumt das Team um Erickson ein. Auch seien nicht alle kognitiven Bereiche bewertet worden – unter anderem fehlte die Sprache – und die Teilnehmer seien zudem recht inaktiv gewesen, was die Bandbreite der beobachteten Fitnessniveaus eingeschränkt habe.

Ausdauertraining für mehr kognitive Gesundheit im Alter
Dennoch ist das Fazit der Forscher ein positives: „Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness als einen wichtigen Gesundheitsfaktor für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter“, schreiben Erickson und seine Kollegen.

Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness (…) für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter. Prof. Dr. Kirk Erickson und Kollegen
Sie vermuten, dass eine gute CRF die Hirndurchblutung steigert, oxidativen Stress reduziert, neue synaptische Verbindungen schafft, das Wachstum von Neuronen ankurbelt, Neurotransmittersysteme verbessert sowie die Form und Struktur der grauen und weißen Substanz verändern kann.

Psychosoziale Faktoren, die mit der CRF zusammenhängen, etwa eine bessere Stimmung, besserer Schlaf und weniger Müdigkeit, könnten sich ebenfalls positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken, fügen die Autoren der Studie hinzu. Das Verständnis für die gefundenen Zusammenhänge könne helfen, individuelle Trainingspläne zu entwickeln, die eine gesteigerte Ausdauer zum Ziel haben – um so die kognitive Gesundheit im Alter zu optimieren.

... link (4 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 4. Dezember 2024
Sexuelles Fehlverhalten in Arztpraxen und Kliniken - der neue Medscape-Report ist da
https://deutsch.medscape.com/diashow/49005032?ecd=WNL_mdplsfeat_241204_mscpedit_de_etid7054156&uac=&impID=7054156

... link (0 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 28. November 2024
ADHS bei Erwachsenen: Von wegen „Modediagnose“ – Expertin sieht die Störung noch immer unterdiagnostiziert
Ute Eppinger, medscape

Auf die schwierige Situation von Erwachsenen mit ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung) in den USA weist jetzt eine in JAMA Psychiatry erschienene Publikation hin [1]. Die Autoren Dr. Carlos Blanco, Epidemiologe am National Institute on Drug Abuse in Bethesda, Maryland, und Dr. Craig B. H. Surman, Psychiater und ADHS-Experte an der Harvard Medical School, schreiben, dass ADHS bei Erwachsenen unterdiagnostiziert und unterbehandelt sei, hinzu komme ein Mangel an Therapeutika. Sie berichten auch, dass es trotz erheblicher psychiatrischer Komorbiditäten und individueller und gesellschaftlicher Belastungen der Betroffenen unter Ärzten in den USA eine große Zurückhaltung gebe, ADHS zu diagnostizieren. Nicht zuletzt, weil in der Öffentlichkeit immer wieder ein Missbrauch der Stimulanzien diskutiert wird, die zur Therapie verschrieben werden.
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, äußert sich zur Situation hierzulande, zum Hype um ADHS bei Erwachsenen und was sie sich von Hausärzten wünscht.

Medscape: Wie ist die Situation zu ADHS bei Erwachsenen in Deutschland?
Philipsen: Die Diskussion hat sich in den letzten 20 Jahren gar nicht so sehr verändert: zu lange Wartelisten, zu wenig Ansprechpartner, „ADHS ist eine Erkrankung im Kindesalter“, die Skepsis den Stimulanzien gegenüber oder auch „Das ist eine Modediagnose“ – diese ganze Diskussion, die gab´s früher auch schon. Manchmal flammt sie ein bisschen mehr auf, dann flacht sie wieder ab. Aber die Awareness für ADHS unter Erwachsenen ist jetzt schon eine andere – das ist eine positive Entwicklung.

Medscape: Stichwort „Modediagnose ADHS“: Gibt es Hinweise, dass bei Erwachsenen ADHS überdiagnostiziert wird?

Philipsen: Unter Erwachsenen rechnet man mit einer Prävalenz von ADHS von 2,5%, manche Schätzungen gehen bis 4%. Aber bislang lag die administrative Prävalenz – also die Diagnosen im Krankenkassen-System bei Erwachsenen – immer unter der zu erwartenden Prävalenz. Meine persönliche Einschätzung ist, dass ADHS bei Erwachsenen immer noch unterdiagnostiziert ist.

Medscape: Sie sagen, dass sich die Awareness für ADHS unter Erwachsenen erhöht hat. Wie zeigt sich das?

Philipsen: Da gibt es einen Hype um ADHS unter Erwachsenen. Dieser Hype bringt Vor- und Nachteile. Selbstdiagnosen via Social Media – wobei Erwachsene mit ADHS auch oft über eine gute Selbsteinschätzung verfügen – führen dazu, dass unsere Wartelisten länger werden und dadurch die Menschen, die wirklich die Probleme haben, nicht schnell in eine Behandlung kommen.

Wobei: Bei uns in der Ambulanz erfüllen 75 bis 80% der Patienten mit der Verdachtsdiagnose ADHS auch tatsächlich die Diagnosekriterien für eine ADHS. Das heißt, die Vorauswahl der Patienten durch die niedergelassenen Kollegen funktioniert gut.


Medscape: Wie sieht das Geschlechterverhältnis aus?
Philipsen: Bei uns in der Ambulanz ist das tatsächlich relativ egalitär. Und das entspricht auch der Verteilung unter Erwachsenen. ADHS bei Frauen ist lange Zeit stark vernachlässigt worden. Aktuelle Daten aus Schweden zeigen: Die Diagnose wird bei den Frauen 3 Jahre später gestellt.
Durch die erhöhte Awareness verändert sich das gerade. In der Presse und auf Social Media wird mehr über Frauen mit ADHS berichtet und darüber verändert sich auch die Wahrnehmung und führt dazu, dass Frauen eher vorstellig werden. Das ist auch gut so.

Medscape: Für Erwachsene mit ADHS sind bislang Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zur Therapie zugelassen. Gibt es in Deutschland einen ähnlichen Mangel an Therapeutika wie in den USA?

Philipsen: Es gibt immer wieder die Situation, dass Medikamente nicht lieferbar sind. Diese Situation hatten wir auch. Aber wir sind noch nie – zumindest hier im Raum Bonn – in die Situation gekommen, dass wir den Patienten gar nichts anbieten konnten. Aber es kann passieren, dass ein Patient auf ein spezielles Präparat warten muss.
Medscape: In den USA gibt es starke Vorbehalte gerade gegenüber Methylphenidat, immer wieder wird sein Missbrauchspotenzial thematisiert. Ist das auch in Deutschland so?
Philipsen: Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Es ist wichtig, sachlich aufzuklären: Eine frühe medikamentöse Therapie kann das Risiko für Suchterkrankungen und Depressionen verringern. Wenn Psychotherapie – hier speziell die Psychoedukation – nicht ausreicht, kann das Medikament Betroffenen ermöglichen, mit ihrer Symptomatik zurecht zu kommen, denn die medikamentöse Therapie hat den stärksten Effekt.
Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Der genannte Hype um ADHS bei Erwachsenen hat 2 Seiten: Ein Vorteil ist die höhere Awareness, die dazu führt, dass Betroffene sich eher in Behandlung begeben. Er führt aber auch dazu, dass gesunde Menschen glauben, ADHS zu haben und in der Öffentlichkeit so der Eindruck entsteht, ADHS sei eine Art Modediagnose.
Medscape: Gibt es Daten, dazu wie lange es dauert, bis jemand mit ADHS tatsächlich die richtige Diagnose erhält?
Philipsen: Noch gibt es dazu keine Daten. Es ist aber so, dass der Zeitraum bis zur korrekten Diagnose kürzer wird. Dennoch liegt das Durchschnittsalter der Patienten, die sich bei uns vorstellen, immer noch bei Anfang 30. Da ADHS im Kindesalter beginnt, ist das schon eine große Lücke.
Medscape: Hat diese Lücke auch damit zu tun, dass noch häufiger die Auffassung herrscht, ADHS sei eine Kinderkrankheit und wachse sich aus? Bei immerhin 60% der Betroffenen halten die Symptome ja bis ins Erwachsenenalter hinein an …
Philipsen: Ja, das ist immer noch ein Thema. Wobei: In Fachkreisen ist den meisten inzwischen bekannt, dass es ADHS auch im Erwachsenenalter gibt. Aber es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die die Diagnose ablehnen. Kürzlich war ich entsetzt: Auf einer Veranstaltung – es ging um das Thema Neurodiversität – hieß es, ADHS sei eine Kindheitsdiagnose und ließe sich durch Kunsttherapie heilen. Da kursieren immer noch sehr viele falsche Informationen über ADHS. Gleichzeitig wird in den Medien sehr viel über ADHS berichtet. Aber bei allen positiven Aspekten, die diese erhöhte, öffentliche Aufmerksamkeit mit sich bringt, führt sie leider auch dazu, dass ADHS dann als „Modediagnose“ abgetan wird.
Medscape: Hat die verzögerte Diagnose Einfluss darauf, wie gut die Therapie anschlägt?
Philipsen: Die Therapie schlägt trotzdem an, aber die Betroffenen verlieren natürlich wertvolle Zeit. Denn ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Die Erkrankung beeinflusst die schulische Entwicklung, die Ausbildung, die persönliche Entwicklung, Familie, Partnerschaft, den Freundeskreis. Und sie führt – unbehandelt – zu Folgeproblemen, die zum Teil auch genetisch assoziiert sind, wie ein erhöhtes Risiko für Sucht- und Angsterkrankungen.
ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Was wünschen Sie sich von den Hausärzten, und was können Hausärzte, die ja die erste Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf ADHS sind, tun?
Philipsen: AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Wenn Patienten immer wieder Termine vergessen, häufig und wiederholt in Stress- und Burnout-Situationen geraten, wiederholt zu Suchtmitteln greifen – dann ist es wichtig, auch an ADHS zu denken. Gerade Hausärzte kennen die Familie ja oft sehr lange.
AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Und ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Erste Anhaltspunkte könnten Screeningstools für die Praxis liefern. Wenn Zeit dafür ist – das kann auch an eine MFA delegiert werden – können auch schon erste edukative Interventionen angeboten werden, beispielsweise aus dem Buch „Psychologischen Kurzinterventionen“. Sollte sich der Verdacht auf ADHS erhärten, ist es sinnvoll, die Betroffenen an einen Nervenarzt zu überweisen.
ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch



https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914451#vp_3

... link (27 Kommentare)   ... comment


Montag, 28. Oktober 2024
Verdrängen die Abnehmspritzen die Adipositas-Chirurgie?
Prof. M. Blüher über neue Therapie-Strategien für starkes Übergewicht
Ute Eppinger, Medscape



Prof. Dr. Matthias Blüher

GLP-1-Analoga in der Therapie der Adipositas, umgangssprachlich auch als „Abnehmspritzen“ bezeichnet, sind zur Gewichtsreduktion hocheffektiv. Werden Semaglutid, Tirzepatid & Co über kurz oder lang die Adipositas-Chirurgie zurückdrängen oder sie eines Tages sogar ersetzen?

Für welche Patienten eher die Adipositas-Chirurgie infrage kommt und wie jetzt schon Inkretinmimetika und Operationen zusammenspielen – das erklärt Prof. Dr. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas Ambulanz für Erwachsene und Professor für Klinische Adipositas-Forschung an der Universität Leipzig und Mediensprecher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG).

Medscape: GLP-1-Analoga sind bei Patienten mit Adipositas sehr effektiv. Was bedeutet das für die Adipositas-Chirurgie? Ist die Zahl der Magen-Bypässe rückläufig?

Blüher: Es gibt in den USA Hinweise, dass das so ist. Noch ist allerdings nicht ganz klar, ob sich das auf die Wirkung der Medikamente zurückführen lässt, in den USA werden solche Medikamente ja schon viel länger eingesetzt als bei uns. Wenn sich das bestätigt, wäre das ein schöner Trend und – auch vor dem Hintergrund der Risiken einer Operation – eine begrüßenswerte Entwicklung.

Medscape: Was denken Sie – wird sich das auch in Deutschland in diese Richtung entwickeln?

Blüher: Möglich ist das. Ich glaube allerdings, dass es zumindest zunächst eher mehr Patienten geben wird, die eine Adipositas-Chirurgie in Anspruch nehmen und sich operieren lassen. Das Problem ist, dass der Zugang zu diesen Medikamenten erschwert ist. In Deutschland erstatten die Kassen die Kosten dafür nicht. Viele Menschen können sich deswegen diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Die bariatrische Chirurgie hingegen wird von den Kassen meist übernommen, ich denke, die Operation bleibt deshalb für viele Patienten der Ausweg.

Viele Menschen können sich diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Prof. Dr. Matthias Blüher
Der 2. Aspekt ist: Es gibt auch Patienten, bei denen die Therapie mit Medikamenten nicht perfekt anspricht oder bei denen der Gewichtsverlust durch ein Medikament nicht ausreicht. Diese Patienten werden sich wahrscheinlich leichter für die chirurgische Option entscheiden, weil sie sich sagen: Medikamentös habe ich alles ausgeschöpft, jetzt lasse ich mich doch operieren. Ich denke deshalb, dass die OP-Zahlen erst einmal nicht

Medscape: Dr. Miguel A. Burch, bariatrischer Chirurg am Cedars Sinai in Los Angeles, spricht von einer „neuen Ära“ bezogen auf das Potenzial der GLP-1-Analoga. Heißt das – überspitzt ausgedrückt – dass man künftig auf Medikamente statt auf Operationen setzt?

Blüher: So pauschal kann man das nicht sagen, denn es wird immer Patienten geben, die von einer chirurgischen Therapie z.B. aufgrund ihres extrem hohen Gewichts mehr profitieren als von einer medikamentösen Therapie.

Es hängt auch von den Risikofaktoren jedes einzelnen Patienten ab, und auch von der Abwägung der kumulativen Kosten der lebenslangen Einnahme von Medikamenten im Vergleich zu einer Operation. Die Behandlung der Adipositas könnte aber mehrere Ansätze einschließen und eben nicht nur die Wahl zwischen einer Operation oder Medikamenten zur Gewichtsreduktion.

Medscape: Das heißt, GLP-1-Analoga und chirurgische Therapie werden kombiniert?

Blüher: Ja, in Leipzig behandeln wir beispielsweise Patienten vor einer bariatrischen Operation mit Semaglutid vor, denn eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Auch postoperativ setzen wir diese Medikamente ein, um eine erneute Gewichtszunahme möglichst gering zu halten. Es gibt ja Patienten, die nach dem chirurgischen Eingriff wieder zunehmen, mit den GLP-1-Analoga haben wir die Möglichkeit, medikamentös gegenzusteuern.

Eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Prof. Dr. Matthias Blüher
Medscape: Wird mit der Adipositas-Chirurgie immer noch eine höhere Gewichtsabnahme erreicht als mit GLP-1-Analoga?

Blüher: Für den einzelnen Menschen kann man das nicht genau sagen, aber im Mittel ist die Chirurgie nach wie vor die effektivste Methode zum Abnehmen. Die Daten zeigen – wobei es noch keinen Direktvergleich zwischen Inkretinmimetika und bariatrischer Chirurgie gibt –, dass Tirzepatid, obwohl man damit im Mittel 23% abnehmen kann, immer noch nicht ganz so effektiv ist wie die Chirurgie.

Im Mittel lässt sich mit einer Schlauchmagen-Operation und einem Bypass ein Gewichtsverlust von 30 bis 35% erreichen. Schaut man sich aber die Gewichtsreduktion unter einer Magenband-Operation an, dann sind Tirzepatid oder Semaglutid vergleichbar effektiv. Man muss sagen: Wir sind bei der Gewichtsabnahme mit Medikamenten jetzt schon im Bereich der Magenband-Operationen.

Medscape: Für welche Patienten ist eine chirurgische Therapie sinnvoller als eine medikamentöse?

Blüher: Patienten, die mit einem BMI > 50 zu uns kommen. Man muss berücksichtigen, dass es keine guten Daten dazu gibt, wie effektiv die aktuellen Medikamente in solchen Fällen sind.

Für Patienten mit einem solchen BMI wäre die chirurgische Therapie nach wie vor sinnvoller. Und natürlich für Patienten, die relativ schnell sehr viel Gewicht abnehmen müssen, beispielsweise weil eine schwere Herzleistungsschwäche vorliegt und sie eine Herztransplantation benötigen. Oder auch Patienten, die einen Kniegelenks- oder einen Hüftgelenksersatz brauchen und auch schnell abnehmen sollten. Solche Fälle sprechen aus meiner Sicht für eine chirurgische Therapie.

Medscape: Und was ist Ihrer Einschätzung nach nachhaltiger?

Blüher: Medikamente wirken natürlich nur, solange man sie auch nimmt. Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Bei der medikamentösen Therapie wird die Nachhaltigkeit darüber erreicht, dass das Medikament weiter genommen und mit Lebensstil-Interventionen kombiniert wird.

Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Prof. Dr. Matthias Blüher
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Nachhaltigkeit zu verbessern – über eine dauerhafte Therapie, eine Steigerung der Dosis, Bewegung und Ernährungsumstellung und ähnliches. Letztendlich können wir aber noch nicht über einen langen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren sagen, ob diese Medikamente genauso nachhaltig sind wie die Chirurgie, denn so lange gibt es diese Medikamente noch nicht

Bei meinen Patienten, die im BMI-Bereich unter 35 liegen, würde ich immer zuerst zu einer Ernährungs-und Bewegungstherapie raten. Wenn das nicht ausreicht zur medikamentösen Therapie und wirklich erst als allerletzten Schritt zur Adipositas-Chirurgie. Gerade bei Patienten, die so 10, 20 kg Übergewicht haben, ist eine chirurgische Therapie als Einstieg nicht sinnvoll.

Medscape: Wir bedanken uns für das Gespräch


https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914330?ecd=WNL_mdplsfeat_241028_mscpedit_de_etid6949958&uac=389796AZ&impID=6949958

... link (0 Kommentare)   ... comment