Montag, 16. Dezember 2024
Fit im Training heißt fit im Hirn
Eine gute kardiorespiratorische Fitness bremst den geistigen Verfall unabhängig von Alter und APOE4-Status

Anke Brodmerkel, Medscape
16. Dezember 2024

Eine gute kardiorespiratorische Fitness senkt bei älteren Menschen das Risiko, dass deren kognitive Fähigkeiten nachlassen. Darauf deutet eine US-amerikanische Beobachtungsstudie hin, die ein Team um Prof. Dr. Kirk Erickson vom Department of Neuroscience des AdventHealth Research Institute in Orlando, Florida, jetzt online im British Journal of Sports Medicine (BJSM) veröffentlicht hat.

Der positive Einfluss zeige sich unabhängig von den wichtigsten Risikofaktoren für den geistigen Abbau – dem Alter und dem Vorliegen des Hochrisikogens APOE4, berichten die Erstautorin der Publikation, Dr. Lauren Oberlin vom AdventHealth Research Institute, und ihre Kollegen. Finanziert wurde die Studie von den National Institutes of Health.

Mehr als jeder 4. Proband war Träger des APOE4-Gens
Die kardiorespiratorische Fitness (CRF) beschreibt die Fähigkeit des Herz-Kreislauf- und des Atmungssystems, die großen Skelettmuskeln ausreichend mit Sauerstoff zu versorgen, damit diese bei sportlichen Aktivitäten die nötige Energie bereitstellen können. Durch regelmäßiges Ausdauertraining lässt sie sich verbessern.

Auch frühere Studien hatten bereits Zusammenhänge zwischen der kardiorespiratorischen Fitness und dem Risiko für einen altersbedingten kognitiven Verfall beobachtet. Unklar war bisher aber, welche konkreten Aspekte der Kognition eine gute CRF positiv verändern kann und welche anderen Faktoren diesen Zusammenhang womöglich beeinflussen.

Für ihre Studie, die diese Fragen beantworten sollte, rekrutierten Erickson und sein Team 648 kognitiv gesunde Probanden im Alter von 65 bis 80 Jahren. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer lag bei 69 Jahren. 71% von ihnen waren Frauen. 15% gaben an, einen Betablocker einzunehmen. Von den 640 Probanden, die einem entsprechenden Gentest unterzogen wurden, waren 27% APOE4-Träger.

Die Fitness der Teilnehmer ließ eher zu wünschen übrig
Als Maß für die CRF verwendeten die Wissenschaftler um Erickson den VO2max-Wert, also die maximale Sauerstoffmenge, die bei höchster körperlicher Anstrengung aufgenommen und verwertet werden kann. Gemessen wurde der Wert während eines abgestuften Belastungstests auf einem motorisierten Laufband.

Die kognitiven Fähigkeiten ihrer Probanden bewerteten die Forscher anhand der Ergebnisse zahlreicher validierter neuropsychologischer Tests, die an 2 verschiedenen Tagen durchgeführt wurden. In den Tests wurden 5 Bereiche der Kognition untersucht:

die Verarbeitungsgeschwindigkeit,

das Arbeitsgedächtnis,

die visuell-räumliche Verarbeitung,

das episodische Gedächtnis und

die Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle, die auch Planungs- und Organisationsfähigkeiten miteinschließt.

Wie Erickson und seine Kollegen schreiben, betrug die durchschnittliche VO2max ihrer Probanden 21,68 ml/kg/min. Sonderlich fit waren die Teilnehmer der Studie demnach nicht. Eine gute VO2max liegt bei Männern zwischen 30 und 40 ml/kg/min, bei Frauen zwischen 25 und 35 ml/kg/min.

Das Bildungsniveau wirkte sich positiv aus
Erwartungsgemäß war ein höheres Alter der Probanden mit einer schlechteren Leistung in allen 5 kognitiven Bereichen verbunden, wenn das Geschlecht, die Bildungsjahre und der BMI berücksichtigt wurden. Ein höheres Bildungsniveau war durchweg mit besseren Leistungen assoziiert.

Die vermutlich wichtigste Botschaft der Studie ist jedoch die folgende: Ein höherer VO2max-Wert war mit einer besseren Leistung in allen 5 untersuchten kognitiven Bereichen verbunden – und zwar unabhängig vom Alter und APOE4-Status.

Bei Frauen, Probanden mit geringerer Schulbildung und Patienten, die Betablocker einnahmen, fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen der CRF und der kognitiven Leistung vor allem in den Bereichen Verarbeitungsgeschwindigkeit und Exekutivfunktion/Aufmerksamkeitskontrolle.

Da es sich lediglich um eine Beobachtungsstudie handele, könnten sie natürlich keine eindeutigen Schlüsse zu Ursache und Wirkung ziehen, räumt das Team um Erickson ein. Auch seien nicht alle kognitiven Bereiche bewertet worden – unter anderem fehlte die Sprache – und die Teilnehmer seien zudem recht inaktiv gewesen, was die Bandbreite der beobachteten Fitnessniveaus eingeschränkt habe.

Ausdauertraining für mehr kognitive Gesundheit im Alter
Dennoch ist das Fazit der Forscher ein positives: „Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness als einen wichtigen Gesundheitsfaktor für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter“, schreiben Erickson und seine Kollegen.

Die Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der kardiorespiratorischen Fitness (…) für den Erhalt der kognitiven Fähigkeiten im höheren Lebensalter. Prof. Dr. Kirk Erickson und Kollegen
Sie vermuten, dass eine gute CRF die Hirndurchblutung steigert, oxidativen Stress reduziert, neue synaptische Verbindungen schafft, das Wachstum von Neuronen ankurbelt, Neurotransmittersysteme verbessert sowie die Form und Struktur der grauen und weißen Substanz verändern kann.

Psychosoziale Faktoren, die mit der CRF zusammenhängen, etwa eine bessere Stimmung, besserer Schlaf und weniger Müdigkeit, könnten sich ebenfalls positiv auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken, fügen die Autoren der Studie hinzu. Das Verständnis für die gefundenen Zusammenhänge könne helfen, individuelle Trainingspläne zu entwickeln, die eine gesteigerte Ausdauer zum Ziel haben – um so die kognitive Gesundheit im Alter zu optimieren.

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Mittwoch, 4. Dezember 2024
Sexuelles Fehlverhalten in Arztpraxen und Kliniken - der neue Medscape-Report ist da
https://deutsch.medscape.com/diashow/49005032?ecd=WNL_mdplsfeat_241204_mscpedit_de_etid7054156&uac=&impID=7054156

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Donnerstag, 28. November 2024
ADHS bei Erwachsenen: Von wegen „Modediagnose“ – Expertin sieht die Störung noch immer unterdiagnostiziert
Ute Eppinger, medscape

Auf die schwierige Situation von Erwachsenen mit ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung) in den USA weist jetzt eine in JAMA Psychiatry erschienene Publikation hin [1]. Die Autoren Dr. Carlos Blanco, Epidemiologe am National Institute on Drug Abuse in Bethesda, Maryland, und Dr. Craig B. H. Surman, Psychiater und ADHS-Experte an der Harvard Medical School, schreiben, dass ADHS bei Erwachsenen unterdiagnostiziert und unterbehandelt sei, hinzu komme ein Mangel an Therapeutika. Sie berichten auch, dass es trotz erheblicher psychiatrischer Komorbiditäten und individueller und gesellschaftlicher Belastungen der Betroffenen unter Ärzten in den USA eine große Zurückhaltung gebe, ADHS zu diagnostizieren. Nicht zuletzt, weil in der Öffentlichkeit immer wieder ein Missbrauch der Stimulanzien diskutiert wird, die zur Therapie verschrieben werden.
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, äußert sich zur Situation hierzulande, zum Hype um ADHS bei Erwachsenen und was sie sich von Hausärzten wünscht.

Medscape: Wie ist die Situation zu ADHS bei Erwachsenen in Deutschland?
Philipsen: Die Diskussion hat sich in den letzten 20 Jahren gar nicht so sehr verändert: zu lange Wartelisten, zu wenig Ansprechpartner, „ADHS ist eine Erkrankung im Kindesalter“, die Skepsis den Stimulanzien gegenüber oder auch „Das ist eine Modediagnose“ – diese ganze Diskussion, die gab´s früher auch schon. Manchmal flammt sie ein bisschen mehr auf, dann flacht sie wieder ab. Aber die Awareness für ADHS unter Erwachsenen ist jetzt schon eine andere – das ist eine positive Entwicklung.

Medscape: Stichwort „Modediagnose ADHS“: Gibt es Hinweise, dass bei Erwachsenen ADHS überdiagnostiziert wird?

Philipsen: Unter Erwachsenen rechnet man mit einer Prävalenz von ADHS von 2,5%, manche Schätzungen gehen bis 4%. Aber bislang lag die administrative Prävalenz – also die Diagnosen im Krankenkassen-System bei Erwachsenen – immer unter der zu erwartenden Prävalenz. Meine persönliche Einschätzung ist, dass ADHS bei Erwachsenen immer noch unterdiagnostiziert ist.

Medscape: Sie sagen, dass sich die Awareness für ADHS unter Erwachsenen erhöht hat. Wie zeigt sich das?

Philipsen: Da gibt es einen Hype um ADHS unter Erwachsenen. Dieser Hype bringt Vor- und Nachteile. Selbstdiagnosen via Social Media – wobei Erwachsene mit ADHS auch oft über eine gute Selbsteinschätzung verfügen – führen dazu, dass unsere Wartelisten länger werden und dadurch die Menschen, die wirklich die Probleme haben, nicht schnell in eine Behandlung kommen.

Wobei: Bei uns in der Ambulanz erfüllen 75 bis 80% der Patienten mit der Verdachtsdiagnose ADHS auch tatsächlich die Diagnosekriterien für eine ADHS. Das heißt, die Vorauswahl der Patienten durch die niedergelassenen Kollegen funktioniert gut.


Medscape: Wie sieht das Geschlechterverhältnis aus?
Philipsen: Bei uns in der Ambulanz ist das tatsächlich relativ egalitär. Und das entspricht auch der Verteilung unter Erwachsenen. ADHS bei Frauen ist lange Zeit stark vernachlässigt worden. Aktuelle Daten aus Schweden zeigen: Die Diagnose wird bei den Frauen 3 Jahre später gestellt.
Durch die erhöhte Awareness verändert sich das gerade. In der Presse und auf Social Media wird mehr über Frauen mit ADHS berichtet und darüber verändert sich auch die Wahrnehmung und führt dazu, dass Frauen eher vorstellig werden. Das ist auch gut so.

Medscape: Für Erwachsene mit ADHS sind bislang Methylphenidat, Lisdexamfetamin und Atomoxetin zur Therapie zugelassen. Gibt es in Deutschland einen ähnlichen Mangel an Therapeutika wie in den USA?

Philipsen: Es gibt immer wieder die Situation, dass Medikamente nicht lieferbar sind. Diese Situation hatten wir auch. Aber wir sind noch nie – zumindest hier im Raum Bonn – in die Situation gekommen, dass wir den Patienten gar nichts anbieten konnten. Aber es kann passieren, dass ein Patient auf ein spezielles Präparat warten muss.
Medscape: In den USA gibt es starke Vorbehalte gerade gegenüber Methylphenidat, immer wieder wird sein Missbrauchspotenzial thematisiert. Ist das auch in Deutschland so?
Philipsen: Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Es ist wichtig, sachlich aufzuklären: Eine frühe medikamentöse Therapie kann das Risiko für Suchterkrankungen und Depressionen verringern. Wenn Psychotherapie – hier speziell die Psychoedukation – nicht ausreicht, kann das Medikament Betroffenen ermöglichen, mit ihrer Symptomatik zurecht zu kommen, denn die medikamentöse Therapie hat den stärksten Effekt.
Das Missbrauchspotenzial ist bei Stimulanzien sehr gering und steht nicht im Verhältnis zur Diskussion darüber. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Der genannte Hype um ADHS bei Erwachsenen hat 2 Seiten: Ein Vorteil ist die höhere Awareness, die dazu führt, dass Betroffene sich eher in Behandlung begeben. Er führt aber auch dazu, dass gesunde Menschen glauben, ADHS zu haben und in der Öffentlichkeit so der Eindruck entsteht, ADHS sei eine Art Modediagnose.
Medscape: Gibt es Daten, dazu wie lange es dauert, bis jemand mit ADHS tatsächlich die richtige Diagnose erhält?
Philipsen: Noch gibt es dazu keine Daten. Es ist aber so, dass der Zeitraum bis zur korrekten Diagnose kürzer wird. Dennoch liegt das Durchschnittsalter der Patienten, die sich bei uns vorstellen, immer noch bei Anfang 30. Da ADHS im Kindesalter beginnt, ist das schon eine große Lücke.
Medscape: Hat diese Lücke auch damit zu tun, dass noch häufiger die Auffassung herrscht, ADHS sei eine Kinderkrankheit und wachse sich aus? Bei immerhin 60% der Betroffenen halten die Symptome ja bis ins Erwachsenenalter hinein an …
Philipsen: Ja, das ist immer noch ein Thema. Wobei: In Fachkreisen ist den meisten inzwischen bekannt, dass es ADHS auch im Erwachsenenalter gibt. Aber es gibt immer noch Kolleginnen und Kollegen, die die Diagnose ablehnen. Kürzlich war ich entsetzt: Auf einer Veranstaltung – es ging um das Thema Neurodiversität – hieß es, ADHS sei eine Kindheitsdiagnose und ließe sich durch Kunsttherapie heilen. Da kursieren immer noch sehr viele falsche Informationen über ADHS. Gleichzeitig wird in den Medien sehr viel über ADHS berichtet. Aber bei allen positiven Aspekten, die diese erhöhte, öffentliche Aufmerksamkeit mit sich bringt, führt sie leider auch dazu, dass ADHS dann als „Modediagnose“ abgetan wird.
Medscape: Hat die verzögerte Diagnose Einfluss darauf, wie gut die Therapie anschlägt?
Philipsen: Die Therapie schlägt trotzdem an, aber die Betroffenen verlieren natürlich wertvolle Zeit. Denn ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Die Erkrankung beeinflusst die schulische Entwicklung, die Ausbildung, die persönliche Entwicklung, Familie, Partnerschaft, den Freundeskreis. Und sie führt – unbehandelt – zu Folgeproblemen, die zum Teil auch genetisch assoziiert sind, wie ein erhöhtes Risiko für Sucht- und Angsterkrankungen.
ADHS kann zu vielen sozialen Beeinträchtigungen führen. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Was wünschen Sie sich von den Hausärzten, und was können Hausärzte, die ja die erste Anlaufstelle für Patienten mit Verdacht auf ADHS sind, tun?
Philipsen: AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Wenn Patienten immer wieder Termine vergessen, häufig und wiederholt in Stress- und Burnout-Situationen geraten, wiederholt zu Suchtmitteln greifen – dann ist es wichtig, auch an ADHS zu denken. Gerade Hausärzte kennen die Familie ja oft sehr lange.
AHDS ist eine Ausschlussdiagnose. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Und ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Erste Anhaltspunkte könnten Screeningstools für die Praxis liefern. Wenn Zeit dafür ist – das kann auch an eine MFA delegiert werden – können auch schon erste edukative Interventionen angeboten werden, beispielsweise aus dem Buch „Psychologischen Kurzinterventionen“. Sollte sich der Verdacht auf ADHS erhärten, ist es sinnvoll, die Betroffenen an einen Nervenarzt zu überweisen.
ADHS hat eine genetische Komponente, tritt familiär gehäuft auf. Prof. Dr. Alexandra Philipsen
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch



https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914451#vp_3

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Montag, 28. Oktober 2024
Verdrängen die Abnehmspritzen die Adipositas-Chirurgie?
Prof. M. Blüher über neue Therapie-Strategien für starkes Übergewicht
Ute Eppinger, Medscape



Prof. Dr. Matthias Blüher

GLP-1-Analoga in der Therapie der Adipositas, umgangssprachlich auch als „Abnehmspritzen“ bezeichnet, sind zur Gewichtsreduktion hocheffektiv. Werden Semaglutid, Tirzepatid & Co über kurz oder lang die Adipositas-Chirurgie zurückdrängen oder sie eines Tages sogar ersetzen?

Für welche Patienten eher die Adipositas-Chirurgie infrage kommt und wie jetzt schon Inkretinmimetika und Operationen zusammenspielen – das erklärt Prof. Dr. Matthias Blüher, Leiter der Adipositas Ambulanz für Erwachsene und Professor für Klinische Adipositas-Forschung an der Universität Leipzig und Mediensprecher der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG).

Medscape: GLP-1-Analoga sind bei Patienten mit Adipositas sehr effektiv. Was bedeutet das für die Adipositas-Chirurgie? Ist die Zahl der Magen-Bypässe rückläufig?

Blüher: Es gibt in den USA Hinweise, dass das so ist. Noch ist allerdings nicht ganz klar, ob sich das auf die Wirkung der Medikamente zurückführen lässt, in den USA werden solche Medikamente ja schon viel länger eingesetzt als bei uns. Wenn sich das bestätigt, wäre das ein schöner Trend und – auch vor dem Hintergrund der Risiken einer Operation – eine begrüßenswerte Entwicklung.

Medscape: Was denken Sie – wird sich das auch in Deutschland in diese Richtung entwickeln?

Blüher: Möglich ist das. Ich glaube allerdings, dass es zumindest zunächst eher mehr Patienten geben wird, die eine Adipositas-Chirurgie in Anspruch nehmen und sich operieren lassen. Das Problem ist, dass der Zugang zu diesen Medikamenten erschwert ist. In Deutschland erstatten die Kassen die Kosten dafür nicht. Viele Menschen können sich deswegen diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Die bariatrische Chirurgie hingegen wird von den Kassen meist übernommen, ich denke, die Operation bleibt deshalb für viele Patienten der Ausweg.

Viele Menschen können sich diese Medikamente – auch als Vorbereitung für den chirurgischen Eingriff – gar nicht leisten. Prof. Dr. Matthias Blüher
Der 2. Aspekt ist: Es gibt auch Patienten, bei denen die Therapie mit Medikamenten nicht perfekt anspricht oder bei denen der Gewichtsverlust durch ein Medikament nicht ausreicht. Diese Patienten werden sich wahrscheinlich leichter für die chirurgische Option entscheiden, weil sie sich sagen: Medikamentös habe ich alles ausgeschöpft, jetzt lasse ich mich doch operieren. Ich denke deshalb, dass die OP-Zahlen erst einmal nicht

Medscape: Dr. Miguel A. Burch, bariatrischer Chirurg am Cedars Sinai in Los Angeles, spricht von einer „neuen Ära“ bezogen auf das Potenzial der GLP-1-Analoga. Heißt das – überspitzt ausgedrückt – dass man künftig auf Medikamente statt auf Operationen setzt?

Blüher: So pauschal kann man das nicht sagen, denn es wird immer Patienten geben, die von einer chirurgischen Therapie z.B. aufgrund ihres extrem hohen Gewichts mehr profitieren als von einer medikamentösen Therapie.

Es hängt auch von den Risikofaktoren jedes einzelnen Patienten ab, und auch von der Abwägung der kumulativen Kosten der lebenslangen Einnahme von Medikamenten im Vergleich zu einer Operation. Die Behandlung der Adipositas könnte aber mehrere Ansätze einschließen und eben nicht nur die Wahl zwischen einer Operation oder Medikamenten zur Gewichtsreduktion.

Medscape: Das heißt, GLP-1-Analoga und chirurgische Therapie werden kombiniert?

Blüher: Ja, in Leipzig behandeln wir beispielsweise Patienten vor einer bariatrischen Operation mit Semaglutid vor, denn eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Auch postoperativ setzen wir diese Medikamente ein, um eine erneute Gewichtszunahme möglichst gering zu halten. Es gibt ja Patienten, die nach dem chirurgischen Eingriff wieder zunehmen, mit den GLP-1-Analoga haben wir die Möglichkeit, medikamentös gegenzusteuern.

Eine Gewichtsreduktion schon vor der Operation kann sinnvoll sein, um die Operationsrisiken zu verringern. Prof. Dr. Matthias Blüher
Medscape: Wird mit der Adipositas-Chirurgie immer noch eine höhere Gewichtsabnahme erreicht als mit GLP-1-Analoga?

Blüher: Für den einzelnen Menschen kann man das nicht genau sagen, aber im Mittel ist die Chirurgie nach wie vor die effektivste Methode zum Abnehmen. Die Daten zeigen – wobei es noch keinen Direktvergleich zwischen Inkretinmimetika und bariatrischer Chirurgie gibt –, dass Tirzepatid, obwohl man damit im Mittel 23% abnehmen kann, immer noch nicht ganz so effektiv ist wie die Chirurgie.

Im Mittel lässt sich mit einer Schlauchmagen-Operation und einem Bypass ein Gewichtsverlust von 30 bis 35% erreichen. Schaut man sich aber die Gewichtsreduktion unter einer Magenband-Operation an, dann sind Tirzepatid oder Semaglutid vergleichbar effektiv. Man muss sagen: Wir sind bei der Gewichtsabnahme mit Medikamenten jetzt schon im Bereich der Magenband-Operationen.

Medscape: Für welche Patienten ist eine chirurgische Therapie sinnvoller als eine medikamentöse?

Blüher: Patienten, die mit einem BMI > 50 zu uns kommen. Man muss berücksichtigen, dass es keine guten Daten dazu gibt, wie effektiv die aktuellen Medikamente in solchen Fällen sind.

Für Patienten mit einem solchen BMI wäre die chirurgische Therapie nach wie vor sinnvoller. Und natürlich für Patienten, die relativ schnell sehr viel Gewicht abnehmen müssen, beispielsweise weil eine schwere Herzleistungsschwäche vorliegt und sie eine Herztransplantation benötigen. Oder auch Patienten, die einen Kniegelenks- oder einen Hüftgelenksersatz brauchen und auch schnell abnehmen sollten. Solche Fälle sprechen aus meiner Sicht für eine chirurgische Therapie.

Medscape: Und was ist Ihrer Einschätzung nach nachhaltiger?

Blüher: Medikamente wirken natürlich nur, solange man sie auch nimmt. Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Bei der medikamentösen Therapie wird die Nachhaltigkeit darüber erreicht, dass das Medikament weiter genommen und mit Lebensstil-Interventionen kombiniert wird.

Die durch die Operation erreichte Gewichtsabnahme ist nachhaltig. Prof. Dr. Matthias Blüher
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Nachhaltigkeit zu verbessern – über eine dauerhafte Therapie, eine Steigerung der Dosis, Bewegung und Ernährungsumstellung und ähnliches. Letztendlich können wir aber noch nicht über einen langen Zeitraum von 10 oder 20 Jahren sagen, ob diese Medikamente genauso nachhaltig sind wie die Chirurgie, denn so lange gibt es diese Medikamente noch nicht

Bei meinen Patienten, die im BMI-Bereich unter 35 liegen, würde ich immer zuerst zu einer Ernährungs-und Bewegungstherapie raten. Wenn das nicht ausreicht zur medikamentösen Therapie und wirklich erst als allerletzten Schritt zur Adipositas-Chirurgie. Gerade bei Patienten, die so 10, 20 kg Übergewicht haben, ist eine chirurgische Therapie als Einstieg nicht sinnvoll.

Medscape: Wir bedanken uns für das Gespräch


https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914330?ecd=WNL_mdplsfeat_241028_mscpedit_de_etid6949958&uac=389796AZ&impID=6949958

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Mittwoch, 23. Oktober 2024
Warum Onkologen Vitamin-D-Spiegel bestimmen sollten: Diese prognostische Aussagekraft haben Messwerte
Christoph Renninger, Medscape


Basel – Wie es um den Vitamin D-Spiegel während einer radioonkologischen Behandlung bestellt ist und ob dieser auch eine prognostische Bedeutung hat, untersuchte PD Dr. Dorota Lubgan vom Uniklinikum Erlangen. Ihre Ergebnisse präsentierte sie bei der Jahrestagung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaften für Hämatologie und Medizinische Onkologie 2024 [1].

Vitamin D und Krebsmortalität
Eine im vergangenen Jahr publizierte Metaanalyse aus 14 Arbeiten mit über 94.000 Patientinnen und Patienten zeigte, dass die Gabe von Vitamin D die Mortalität bei Krebserkrankungen nicht reduziert (Kuznia S et al.: Ageing Research Reviews 2023). Prognostisch günstig war sie jedoch bei kolorektalen und Prostatakarzinomen, sowie männlichen Patienten. Die tägliche Einnahme von Vitamin D reduziert die Mortalität jedoch nur bei Personen über 70 Jahren und wenn bereits vor der Diagnose begonnen wurde.

Aussagen zur Vitamin D-Substitution in der Radioonkologie können derzeit nur mit Vorsicht getroffen werden. Ziel der Studie von Lubgan war die Überwachung des Vitamin D-Spiegels während der Behandlung und Auswirkungen auf die Prognose. In der Strahlenklinik Erlangen wurden alle Werte im Zentrallabor bestimmt, um eine gute Vergleichbarkeit zu erzielen. Dabei wurden sowohl privat wie gesetzlich Versicherte ausgewertet.

Messungen über längeren Zeitraum
Ab dem Jahr 2004 wurde bei 8-10% der in der Klinik Behandelten der Vitamin D-Wert bestimmt. Insgesamt kamen so 3.593 Patientinnen und Patienten mit radioonkologischer Behandlung in die Analyse. Bei den meisten (79%) erfolgte eine Vitamin D-Bestimmung, seltener waren es zwei Messungen (15,4%), der Höchstwert lag bei einem Patienten mit 22 Bestimmungen.

Das mediane Alter lag bei 63 Jahren, und zu 59,4% stammten die Messwerte von männlichen Patienten. Bei 39,1% lagen Fernmetastasen vor. Die häufigsten Primärtumore waren HNO-Tumore (17,8%), Darmkrebs (14,1%) und Tumore von Augen, ZNS und peripheren Nerven (11,3%). Insgesamt wurde ein großes Spektrum an Entitäten abgedeckt.

Die Bestimmung von Vitamin D erfolgte mittels Chemilumineszenz-Mikropartikel Immuno-Assay (CMIA). Dabei wurde folgende Einteilung für 25-Hydroxyvitamin D im Serum verwendet:

<20 ng/ml: Defizienz

20-29 ng/ml: Mangel

30-70 ng/ml: Optimum

>70 ng/ml: zu hoch


https://deutsch.medscape.com/s/artikelansicht/4914301?ecd=WNL_mdplsfeat_241023_mscpedit_de_etid6931350&uac=389796AZ&impID=6931350

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Donnerstag, 19. September 2024
Blutdrucksenkung durch operative Gewichtsreduktion
Bariatrische OP bringt Hypertonie in Remission – oder reduziert zumindest Bedarf an Blutdrucksenkern

Nadine Eckert, Medscape


Chicago – Eine bariatrische Operation reduziert nicht nur das Gewicht und die Risiken für metabolische Komplikationen wie Typ-2-Diabetes. Sie verbessert auch die Chancen auf Remission von zu hohem Blutdruck und reduziert den Bedarf an blutdrucksenkenden Medikamenten, wie eine bei den Hypertension Scientific Sessions 2024 der American Heart Association in Chicago präsentierte Datenanalyse zeigt .


Dr. Sneha Annie Sebastian:

„Die bariatrische Chirurgie ist weithin anerkannt als hocheffektive Behandlung von Adipositas und deren metabolischen Komplikationen. Aber bislang hat keine der durchgeführten randomisiert-kontrollierten Studien den Blutdruck als primären Endpunkt untersucht“, berichtete Studienleiterin Dr. Sneha Annie Sebastian vom Department of Internal Medicine des Azeezia Medical College in Airdrie, Alberta, Kanada.

Gepoolte Analyse von 18 randomisiert-kontrollierten Studien
Zusammen mit ihren Kollegen analysierte sie die gepoolten Daten von 18 randomisiert-kontrollierten Studien mit insgesamt 1.386 Teilnehmenden, überwiegend Frauen. Ihr Body-Mass-Index (BMI) lag im Schnitt bei 38 kg/m², und sie wiesen eine Hypertonie auf. Die Patientinnen und Patienten wurden randomisiert einer bariatrischen Operation oder einer nicht-chirurgischen Intervention – Medikation und Lebensstilmodifikation – zugeteilt und anschließend zwischen 1 und 5 Jahren nachbeobachtet.

In ihre gepoolte Analyse schlossen Sebastian und ihre Kollegen alle Arten von bariatrischen Operationsverfahren ein, am häufigsten waren aber der Roux-en-Y-Magenbypass und die Sleeve-Gastrektomie. Sie fanden einen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den operierten Patienten und den Patienten mit Medikation und Lebensstilmodifikation: Die bariatrisch operierten Patienten erreichten 2,77-mal häufiger eine Remission der Hypertonie (Blutdruck <140/90 mmHg).

Mit OP müssen weniger Blutdrucksenker eingenommen werden
Darüber hinaus konnten die Patienten in der operierten Gruppe 7,10-mal häufiger die Zahl der blutdrucksenkenden Medikamente reduzieren, ohne dass die Blutdruckkontrolle darunter litt, bei gleichzeitigem Erhalt der Blutdruckkontrolle. Und die bariatrische Operation verbesserte den systolischen Blutdruck signifikant: Er sank bei den operierten Patienten im Mittel um 3,67 mmHg stärker als in der Gruppe mit Medikation und Lebensstilmodifikation.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914187?ecd=WNL_mdplsfeat_240919_mscpedit_de_etid6841280&uac=389796AZ&impID=6841280

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Donnerstag, 12. September 2024
Aggressiver, aber einfacher: Neue ESC-Bluthochdruck-Leitlinie senkt die Zielwerte – und empfiehlt neue Lebensstil-Änderungen
Sue Hughes, Medscape


"London – Vereinfachte, aber aggressivere Zielwerte gehören zu den wichtigsten Veränderungen in der aktualisierten Hypertonie-Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC). Für die meisten Patienten, die eine Blutdrucktherapie erhalten, liegt der neue Zielwert für den systolischen Blutdruck jetzt direkt bei 120 bis 129 mmHg. Den vorherigen zweistufigen Ansatz gibt es nicht mehr.

Das beim ESC-Kongress 2024 in London vorgestellte Leitlinien-Update definiert Hypertonie weiterhin als systolischen Blutdruck von mindestens 140 mmHg und als diastolischen Blutdruck von mindestens 90 mmHg. Aber es gibt eine neue Kategorie – erhöhten Blutdruck [1].

Definiert ist der erhöhte Blutdruck als systolischer Blutdruck von 120 bis 139 mmHg und diastolischer Blutdruck von 70 bis 89 mmHg. Bei diesen Patienten soll eine kardiovaskuläre Risikobeurteilung stattfinden, bevor über eine Therapie entschieden wird – speziell bei Patienten mit einem Blutdruck ≥130/80 mmHg.

Die aktualisierte Leitlinie enthält auch neue Empfehlungen für Lebensstil-Optionen zur Senkung des Blutdrucks, etwa zur körperlichen Aktivität und zur Supplementation mit Kalium. Und zum ersten Mal gibt die ESC-Leitlinie auch Empfehlungen für den Einsatz der renalen Denervation zur Behandlung einer Hypertonie – unter bestimmten Bedingungen.

Die Leitlinie wurde von einem internationalen Autorenteam unter Leitung von Bill McEvoy von der University of Galway in Irland und Dr. Rhian Touyz von der McGill University in Montreal erstellt.

3 Kategorien von Blutdruck
McEvoy berichtete beim Kongress, dass es jetzt 3 Kategorien für die Einteilung des Blutdrucks gebe:

nicht erhöhter Blutdruck: < 120/70 mm Hg,

erhöhter Blutdruck: 120-139 mm Hg/70-89 mm Hg und

Hypertonie: ≥ 140/90 mm Hg.

Der Fokus auf die ambulante Blutdruckmessung sei stärker als in den früheren Versionen der Leitlinie, aber auch in den Praxen werde weiter gemessen, betonte er.

Alle Patienten, die in die Hypertonie-Kategorie fallen, sollen der Leitlinie zufolge behandelt werden, während bei denjenigen mit erhöhtem Blutdruck eine Beurteilung des kardiovaskulären Risikos stattfinden soll, bevor über eine Therapie entschieden wird.

n erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wird bei Patienten mit erhöhtem Blutdruck angenommen, die zusätzlich eine mittelschwere bis schwere chronische Nierenerkrankung (CKD), eine bestehende kardiovaskuläre Erkrankung, Diabetes oder eine familiäre Hypercholesterinämie aufweisen. Dasselbe gilt für Patienten mit einem geschätzten kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von 10% oder höher. Diese Patienten sollen, wenn der Blutdruck bei mindestens 130/80 mmHg liegt, nach einer 3-monatigen Lebensstilintervention medikamentös behandelt werden.

Diese neue Kategorie des erhöhten Blutdrucks berücksichtigt, dass die Leute nicht von normalen Blutdruckwerten über Nacht zur Hypertonie übergehen. Bill McEvoy
„Diese neue Kategorie des erhöhten Blutdrucks berücksichtigt, dass die Leute nicht von normalen Blutdruckwerten über Nacht zur Hypertonie übergehen“, sagte McEvoy. „Es ist in den meisten Fällen ein steter Anstieg, und verschiedene Subgruppen von Patienten – etwa diejenigen mit einem höheren Risiko für die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen – könnten von einer intensiveren Behandlung profitieren, selbst wenn ihr Blutdruck noch nicht den traditionellen Grenzwert für Hypertonie erreicht hat.“

Neuer niedrigerer Zielwert
Die Absenkung der Blutdruck-Zielwerte basiert auf neuen Studiendaten, die bestätigten, dass ein niedrigerer Blutdruck mit einer niedrigeren Rate an kardiovaskulären Ereignissen einhergeht. Das Resultat ist ein neuer systolischer Zielwert von 120-129 mmHg für die meisten Patienten, die mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt werden.

Der systolische Zielwert stelle eine einschneidende Veränderung im Vergleich zur vorherigen ESC-Leitlinie dar, so McEvoy. Diese habe empfohlen, die Patienten bis zu einem Blutdruckwert von unter 140/90 mmHg zu behandeln, und erst wenn das erreicht war, einen Zielwert von 130/80 mmHg anzustreben – ein zweistufiger Ansatz. „Diese Veränderung ist getrieben durch neue Studienevidenz, die zeigt, dass ein intensiveres Blutdruckziel die kardiovaskulären Outcomes über ein breites Spektrum von Patienten reduziert“, so McEvoy.

Die Empfehlung hat aber mehrere Vorbehalte: Die Behandlung bis zum Erreichen des Zielwerts muss zum einen gut vertragen werden. Zum anderen können bei Patienten mit symptomatischer orthostatischer Hypotonie, bei Patienten ≥ 85 Jahren, bei moderat bis schwer gebrechlichen Patienten und bei Patienten mit begrenzter Lebenserwartung weniger strenge Therapieziele angesetzt werden. Für diese Patienten empfiehlt die Leitlinie einen Zielwert, „der so niedrig ist, wie in vernünftiger Weise erreicht werden kann“.

Mehr Übereinstimmungen mit US-Leitlinie
„Die neuen Empfehlungen der ESC stimmen jetzt stärker mit der US-amerikanischen Leitlinie überein“, sagte Dr. Eugene Yang von der University of Washington in Seattle, Vorsitzender der Hypertension Writing Group des American College of Cardiology.

Die neuen Empfehlungen der ESC stimmen jetzt stärker mit der US-amerikanischen Leitlinie überein. Dr. Eugene Yang
„Diese neue europäische Leitlinie hat die jüngsten Studiendaten sorgfältig genutzt, um die Empfehlungen für ein spezifisches niedrigeres Blutdruckziel zu vereinfachen. Als die vorherige ESC-Leitlinie herauskam, gab es nur SPRINT. Jetzt gibt es eine Reihe weiterer Studien, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen“, so Yang. „Das ist ein Schritt nach vorne. Die Empfehlungen in Europa und den USA sind jetzt mehr auf einer Linie. Das ist gut, um Verwirrungen zu reduzieren und einen Konsens zu schaffen, der auf der ganzen Welt gilt.“

Neue Lebensstil-Empfehlungen
Neu ist in der Leitlinie auch die Empfehlung, jede Woche mindestens 75 Minuten Sport von hoher Intensität zu treiben – als Alternative zu den schon zuvor empfohlenen 2,5 Stunden moderat intensiver körperlicher Aktivität pro Woche. Ergänzt werden sollte dies weiterhin mit 2- bis 3-mal dynamischem oder isometrischem Krafttraining von geringer bis moderater Intensität in der Woche.

Empfohlen wird auch, dass Patienten mit Hypertonie ihre Kaliumzufuhr erhöhen, entweder mit Salzersatzprodukten oder einer Ernährung, die reich an Obst und Gemüse ist – allerdings nur, wenn sie keine mittelschwere bis schwere CKD haben.

Erstmals wird renale Denervation empfohlen
Die Leitlinie umfasst erstmals die renale Denervation als Option für die Behandlung der Hypertonie – in Zentren mit moderatem oder hohem Behandlungsvolumen und nur für Patienten mit resistenter Hypertonie, deren Blutdruck auch mit einer Dreifach-Kombination von Blutdrucksenkern nicht unter Kontrolle gebracht werden kann.

Aber die renale Denervation wird nicht als Erstlinientherapie empfohlen, da noch die Evidenz für einen Effekt auf die kardiovaskulären Outcomes fehlt. Auch bei Patienten mit stark beeinträchtigter Nierenfunktion und bei denjenigen mit sekundären Ursachen für die Hypertonie wird von der renalen Denervation abgeraten.

Yang lobte die Aufnahme einer Beurteilung der Gebrechlichkeit in der neuen Leitlinie und weniger aggressive Zielwerte für Patienten in schlechter gesundheitlicher Verfassung oder über 85 Jahren, fügte aber hinzu, dass die neuen Empfehlungen „alles in allem weniger altersspezifisch stratifizieren als zuvor, was eine signifikante Veränderung ist“.

"Meiner Ansicht nach sollten Empfehlungen für die Blutdrucktherapie so einfach wie möglich sein, deshalb denke ich, dass wir daran noch arbeiten müssen". Dr. Eugene Yang

Auch dies sei eine verstärkte Übereinstimmung mit der US-Leitlinie, die keine Altersgrenzen habe und für alle ein Blutdruckziel von 130/80 mmHg vorgebe, mit der Einschränkung, dass bei Patienten in Pflegeheimen das ärztliche Urteilsvermögen gefragt sei, ergänzte er.

Yang ergänzte, er sei nicht besonders angetan davon, dass bei Patienten mit einem systolischen Blutdruck von 130-139 mmHg eine Beurteilung des kardiovaskulären Risikos die Therapieentscheidung steuern soll, aber das finde man so auch in der aktuellen US-Leitlinie.

„Als Kliniker denke ich, dass dies die Dinge zu kompliziert macht und dadurch nur ein Hindernis für die Behandlung ist. Meiner Ansicht nach sollten Empfehlungen für die Blutdrucktherapie so einfach wie möglich sein, deshalb denke ich, dass wir daran noch arbeiten müssen.“

ttps://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4914160?ecd=WNL_mdplsfeat_240912_mscpedit_de_etid6822772&uac=389796AZ&impID=6822772

------ Ich finde die Zielwerte ziemlich absurd, zumal damit "normaler" Blutdruck etwas ist, was früher als Hypotonie galt und in meiner Jugend noch mit Ephedrin behandelt wurde und demzufolge wohl die Bevölkerungsmehrheit qua definitionem unter Bluthochdruck leiden dürfte. Ist so ähnlich wie mit den aktuellen Sucht-Definitionen, die so ziemlich jede regelmäßige Einnahme von Genussmitteln inzwischen als Sucht definieren.

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Montag, 29. Juli 2024
„Durchbruch“ bei der HIV-Prävention: „Enormer“ Schutz von 100% gegen HIV-Infektionen mit nur 2 (teuren) Spritzen pro Jahr
Richard Mark Kirkner, Medscape


München – 2 Spritzen Lenacapavir pro Jahr verhindern bei Frauen 100% aller Neuinfektionen mit HIV, wie die abschließende Auswertung der PURPOSE-1-Studie ergeben hat. Alle Ergebnisse wurden auf der Welt-Aids-Konferenz 2024 vorgestellt und im New England Journal of Medicine publiziert [1,2].

Überzeugende Daten zur PrEP
Seit Wochen haben sich viele Forscher der HIV-Community gefragt, ob die deutlichen, für viele überraschenden Zwischenergebnisse zur HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) mit Lenacapavir nach Abschluss der Studie Bestand haben.

Bei der Präsentation der Resultate berichtete Dr. Linda-Gail Bekker, Direktorin des Desmond Tutu HIV-Zentrums an der Universität Kapstadt in Südafrika, dass es in der Studie mit etwa 5.000 jungen Frauen, die Spritzen erhalten hätten, keine neuen Infektionen gegeben habe. In der Gruppe mit täglicher oraler PrEP hätten sich etwa 2% bei HIV-positiven Partnern infiziert. Hier war die Adhärenz schlechter als bei Frauen, die Spritzen erhielten.

„Die 2-malige PrEP pro Jahr könnte Probleme mit der Adhärenz lösen und entscheidend dazu beitragen, die Zahl der HIV-Infektionen bei Frauen auf der ganzen Welt zu verringern“, sagt Bekker.

PURPOSE 1 habe bestätigt, dass Lenacapavir ein „Durchbruch“ bei der HIV-Prävention sei, so Dr. Sharon Lewin. Sie ist Präsidentin der Internationalen AIDS-Gesellschaft und Direktorin des Peter Doherty Institute for Infection and Immunity an der Universität von Melbourne in Australien. Lewin betont, diese Form der PrEP habe ein „enormes Potenzial“.

Lenacapavir ist ein neuartiger, mehrstufiger HIV-1-Kapsid-Inhibitor mit langer Halbwertszeit. Er muss nur 1-mal alle 6 Monate verabreicht werden.

Studie zeigt 100-prozentige Wirksamkeit
An der Studie PURPOSE 1 nahmen Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren aus Südafrika und Uganda teil. Primärer Endpunkt war eine HIV-Infektion. Aufgrund der bekannten Zwischenergebnisse, die gezeigt haben, dass der Wirkstoff Infektionen verhindert, brach der Studiensponsor Gilead Sciences die randomisierte Phase der Studie ab und wechselte zu einem Open-Label-Design.

„Eine 100-prozentige Wirksamkeit ist mehr, als wir jemals für eine potenzielle Präventionswirkung erhoffen konnten“, sagt Dr. Christoph Spinner, Spezialist für Infektionskrankheiten am Universitätsklinikum der Technischen Universität München und Ko-Vorsitzender der Konferenz AIDS 2024. Dies sei zwar die 1. Studie zu Lenacapavir als PrEP, aber auch die 1. Studie, die parallel Emtricitabin-Tenofovir untersucht habe, berichtet Spinner.

Hohe Adhärenz bei den Teilnehmerinnen
In der Studie wurden 3 Möglichkeiten der PrEP verglichen: die Lenacapavir-Injektion, die 1-mal tägliche Einnahme von Emtricitabin 200 mg plus Tenofovir-Alafenamid 25 mg (F/TAF) und die 1-mal tägliche Einnahme von Emtricitabin 200 mg plus Tenofovir-Disoproxil-Fumarat 300 mg (F/TDF).

„Die meisten Teilnehmer sowohl in der F/TAF- als auch in der F/TDF-Gruppe wiesen eine niedrige Adhärenz auf, die mit der Zeit noch weiter abnahm“, so Bekker. In der Studie hatten die Forscher niedrige Adhärenz als Einnahme von weniger als 2 Dosen der oralen PrEP pro Woche definiert.

Bekker bezeichnete die Adhärenz bei den oralen Wirkstoffen in dieser Studie als „enttäuschend“ und ergänzt: „Die Adhärenz [im Lenacapavir-Studienarm] lag in Woche 26 bei 91,5% und in Woche 52 bei 92,8%.“

Die Ergebnisse der Studie zeigten bekannte Schwierigkeiten bei der täglichen Einnahme von Medikamenten, schreiben Dr. Rochelle Walensky und Dr. Lindsey Baden in einem begleitenden Editorial [3]. Sie forschen an der Harvard Kennedy School of Government und an der Harvard Business School in Cambridge, Massachusetts.

Mit einer Teilnahmequote von fast 92% bei den 2-mal jährlich verabreichten Lenacapavir-Injektionen zeige die „gut durchgeführte“ große, randomisierte, kontrollierte Studie „nicht nur, dass sich Probandinnen zuverlässig an den Zeitplan hielten. Vielmehr bleibe der Spiegel des HIV-1-Capsid-Inhibitors über einen Zeitraum von 6 Monaten hoch genug, um eine Infektion zuverlässig zu verhindern, schreiben die beiden Autorinnen des begleitenden Editorials.

Die Raten der schwerwiegenden unerwünschten Ereignisse lagen bei 2,8% für Lenacapavir, 4% für F/TAF und 3,3% für F/TDF.

Reaktionen an der Injektionsstelle sind häufig
Reaktionen an der Injektionsstelle traten bei 68% der Teilnehmerinnen der Lenacapavir-Gruppe auf. Besonders häufig (63%) handelte es sich um subkutane Knötchen. Bei der Injektion könne sich „ein Medikamentendepot bilden, das als Knötchen tastbar ist“, so Bekker.

In der Placebogruppe traten bei 34 % der Probandinnen Reaktionen an der Injektionsstelle und bei 16% Knötchen auf. Fast alle Reaktionen an der Injektionsstelle waren vom Grad 1 oder Grad 2. Höhergradige Reaktionen seien, wie Bekker erklärt, selten gewesen – und zu ähnlichem Maße bei Lenacapavir oder Placebo zu beobachten gewesen.

Insgesamt seien mehr als 25.000 Lenacapavir-Injektionen verabreicht worden, sagte Bekker. 4 Frauen hätten die Behandlung aufgrund von Reaktionen an der Injektionsstelle abgebrochen. Im Laufe der Zeit hätten Probandinnen immer seltener über Reaktionen an der Injektionsstelle, einschließlich Knötchen, berichtet.

Empfängnisverhütung war keine Voraussetzung für die Teilnahme an der Studie. Unterschiede zwischen den Studienarmen und der Bevölkerung hinsichtlich möglicher negativer Folgen auf ein ungeborenes Kind fanden die Wissenschaftler nicht.

Weitere Studien folgen
Dies sei die erste 1. Studie einer Reihe von PURPOSE-Studien gewesen, so Bekker. Die Phase-3-Studie PURPOSE 2, an der 3.000 homosexuelle Männer, Transgender-Frauen, Transgender-Männer und nichtbinäre Menschen teilnähmen, die Sex mit männlichen Partnern hätten, sei die 2., derzeit laufende Zulassungsstudie. 3 weitere kleinere Studien laufen in den Vereinigten Staaten und Europa.

Teilnehmer von PURPOSE 1 würden weiterhin Zugang zu Lenacapavir haben, bis das Medikament in Südafrika und Uganda verfügbar sei, so Bekker. Der Sponsor der Studie, Gilead Sciences, entwickele außerdem ein Programm zur direkten Lizenzierung, um den Zugang zu Generika in Ländern mit hoher Inzidenz und begrenzten Ressourcen zu beschleunigen, sagte sie.

Walensky und Baden scheiben, dass Lenacapavir in den Vereinigten Staaten momentan etwa 43.000 Dollar pro Jahr koste. „Aber die Ergebnisse der PURPOSE-1-Studie verpflichten moralisch, Lenacapavir als PrEP für die teilnehmenden Personen sowie für alle anderen, die in ähnlicher Weise in Frage kommen und davon profitieren könnten, allgemein zugänglich und erschwinglich zu machen“.

„Wir haben jetzt also ein PrEP-Produkt mit hoher Wirksamkeit“, heißt es im Editorial weiter. „Das ist eine gute Nachricht für die Wissenschaft, aber (noch) nicht für alle Frauen.“

Angesichts der hohen Zahl an Schwangerschaften bei Frauen in der PURPOSE-1-Studie weisen Walensky und Baden darauf hin, dass die Bewertung der Sicherheit von Lenacapavir hohe Priorität habe. Sie sind auch daran interessiert, mehr über die mögliche Resistenz von HI-Viren gegen den Wirkstoff zu erfahren.

„Wenn dieses lang wirkende Medikament zugelassen wird und schnell, erschwinglich und gerecht Menschen zur Verfügung gestellt wird, die es brauchen oder wollen, könnte es dazu beitragen, den weltweiten Fortschritt bei der HIV-Prävention zu beschleunigen“, sagt Lewin. „Wir erwarten jetzt mit Spannung auf Ergebnisse von PURPOSE 2.“

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Donnerstag, 21. Dezember 2023
Naschen ohne Reue: Der Weihnachtsstollen – laut BMJ-Weihnachtsausgabe quasi ein Obstsalat mit Nüssen
Ute Eppinger, Medscape

Sind Plätzchen, Kuchen, Gebäck oder Pudding zu Weihnachten gut für die Gesundheit? Das sicher nicht, aber dass Genießr zu Weihnachten beherzter bei Leckereien zuschlagen können, legt eine Studie nahe, die jetzt in der Weihnachtsausgabe des British Medical Journal veröffentlicht worden ist.

„In den Weihnachtsdesserts aus The Great British Bake Off werden mit größerer Wahrscheinlichkeit Zutaten verwendet, die das Sterbe- oder Krankheitsrisiko eher senken als erhöhen“, konstatieren Dr. Joshua D. Wallach von der Emory University in Atlanta, USA und Kollegen. Die Forscher hatten 48 Rezepte für Weihnachtsleckereien des populären Fernseh-Backwettbewerbs unter die Lupe genommen und hinsichtlich ihrer Bedenklichkeit für die Gesundheit ausgewertet.

Genuss ohne Reue?
Zum Hintergrund: Nahten die Festtage, flammten Jahr für Jahr die uralten Debatten wieder auf, schreibt Wallach. Die zentralen Fragen: „Dürfen wir uns Weihnachtsleckereien gönnen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Gelingt es uns, zu verdrängen, was Butter und Zucker unserem Körper antun, und ein Stück Weihnachtskuchen zu genießen?“.

Dürfen wir uns Weihnachtsleckereien gönnen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben? Dr. Joshua D. Wallach
Um Antworten zu finden, erfassten die Forscher von jedem der 48 untersuchten Rezepte alle Zutaten (n=178) und teilten diese in 17 Gruppen ein: Backpulver und andere Zutaten, Butter, Schokolade, Käse und Joghurt, Kaffee, Eier, Lebensmittelfarben, -aromen und -extrakte, Obst, Milch, Nüsse (außer Erdnüsse), Erdnüsse oder Erdnussbutter, raffiniertes Mehl, Salz, Gewürze, Zucker und pflanzliches Fett.

Die Forscher führten eine umfassende Literaturrecherche durch und wertete 46 Übersichtsarbeiten aus. Sie suchten Studien, in denen diese Zutaten und das Risiko, an verschiedenen Krankheiten zu erkranken oder zu sterben, untersucht worden waren.

Insgesamt fanden sie 363 Assoziationen zwischen den Inhaltsstoffen und dem Todes- oder Krankheitsrisiko. Davon waren 149 statistisch signifikant. Der Löwenanteil der Studien (110; 74%) brachte die Zutaten mit einem geringeren Krankheits- und Sterberisiko in Verbindung, was u.a. für Obst (44 von 110, 40%), Kaffee (17 von 110, 16%) und Nüsse (14 von 110, 13%) galt.

Weihnachtsstollen im Wesentlichen ein Obstsalat mit Nüssen
Alkohol (20 von 39, 51%) war die häufigste Zutat, die mit einem erhöhten Todes- oder Krankheitsrisiko in Verbindung gebracht wurde, gefolgt von Zucker (5 von 39, 13%). Alkohol war auch mit einem erhöhten Risiko für Dickdarmkrebs, Magenkrebs, Gicht und Vorhofflimmern assoziiert. Die alkoholhaltigen „Schokoladen-Glühwürmchen“ der Great British Bake Off-Jurorin Prue Leith seien deshalb „nicht das ideale Weihnachtsdessert“, urteilt Wallach.

Anders sieht das mit dem Stollen von Co-Juror Paul Hollywood aus: 70 Assoziationen weisen darauf hin, dass die Zutaten das Krankheitsrisiko verringerten. Hollywoods Stollen enthält u.a. Mandeln, Milch und Trockenfrüchte. „Insgesamt ist diese Leckerei ohne Eier, Butter und Zucker im Wesentlichen ein Obstsalat mit Nüssen. Lecker!", schreiben die Forscher.


https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4913247?ecd=WNL_mdplsfeat_231221_mscpedit_de_etid6180163&uac=389796AZ&impID=6180163

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Donnerstag, 14. Dezember 2023
Unerwünschte Proteine durch mRNA-Vakzin entstanden; Lauterbach empfiehlt Impfung noch vor Weihnachten; neuer Impfstoff-Typ
Michael van den Heuvel, Medscape

Corona-Newsblog, Update vom 14. Dezember 2023
COVID-19 – die Lage in Deutschland

SARS-CoV-2-Fragmente im Abwasser: Hinweis auf die nächste große Welle?

Barmer: Regional große Unterschiede bei Corona-Krankschreibungen

Unerwünschte Proteine nach Impfung mit mRNA-Vakzin – und eine Lösungsstrategie

Japan lässt selbst-amplifizierenden mRNA-Impfstoff gegen COVID-19 zu

COVID-19 bei immungeschwächten Patienten: Vorteile einer Kombinationstherapie

Antikörper gegen neue Varianten von SARS-CoV-2: Das passiert im Körper

COVID-19 – die Lage in Deutschland
Im Corona-Pandemieradar berichtet das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) über aktuelle Zahlen.

Momentan liegt die 7-Tage-Inzidenz bei 32 COVID-19-Fällen pro 100.000 Einwohner. Sie ist um 12 % höher als in der Vorwoche (29). Als Hospitalisierungsinzidenz nennt das BMG liegt bei 8,1 COVID⁠-⁠19-Fällen innerhalb von 7 Tagen und pro 100.000 Einwohner: ein Anstieg um 30%, gemessen an der Vorwoche (6,2). Aktuell befinden sich 1.158 Patienten mit COVID-19 in intensivmedizinischer Behandlung. Das sind 16% mehr als in der Vorwoche (994).

„Corona bleibt gefährlich. Es ist keine Erkältung, die man sich bedenkenlos jede Saison einfangen kann“, sagt Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach angesichts der Zahlen. Wer eine Erkrankung zu Weihnachten möglichst vermeiden wolle, sei gut beraten, sich möglichst in den nächsten Tagen schnell noch impfen lassen, „am besten gegen Grippe und Corona gleichzeitig.“ Allen Menschen rät Lauterbach, „lieber noch mal Maske in Bus und Bahn“ zu tragen und – falls möglich – im Homeoffice zu arbeiten.

„Bei Erkältungssymptomen sollte immer ein Coronaselbsttest durchgeführt werden“, betont Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU). Bei einem positiven Test könne der Hausarzt ein antivirales Medikament verordnen, um schwere Verläufe und Krankenhauseinweisungen zu verhindern.

SARS-CoV-2-Fragmente im Abwasser: Hinweis auf die nächste große Welle?
Kostenlose Bürgertests auf SARS-CoV-2 und Einschränkungen bei Infektionen sind längst Geschichte. Um einigermaßen valide Informationen zum Infektionsgeschehen zu haben, setzen Forscher deshalb auf Abwassertests. Sie machen sich zu Nutze, dass sich Coronaviren auch im Verdauungstrakt vermehren und so ins Abwasser gelangen. Oft werden sie in großen Mengen ausgeschieden, bevor die ersten Symptome auftreten.

ie über alle meldenden Standorte gemittelte Viruslast im Abwasser (SARS-CoV-2-Genfragmente) lag zwischen dem 23. und 29. November bei 977.000 Genkopien pro Liter Abwasser. Der Wert ist um 54 % höher als in der Vorwoche (634.000). Das „Abwasser weist derzeit auf große Welle hin“, schreibt Lauterbach auf X (vormals Twitter).

Seit Mitte 2023 beobachten Forscher einen stetigen, zuletzt steilen Anstieg:


Viruslast im Abwasser (Genkopien pro Liter). Quelle: BMG

Barmer: Regional große Unterschiede bei Corona-Krankschreibungen
Daten des Barmer-Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg) zeigen erhebliche Unterschiede bei der Zahl an Krankschreibungen durch SARS-CoV-2 bzw. durch COVID-19. Angegeben wurde die Zahl an AUs pro 10.000 Personen mit Anspruch auf Krankengeld in Woche 46:

Spitzenplätze: 118 (Niedersachsen), 117 (Sachsen-Anhalt), 115 (Mecklenburg-Vorpommern), 113 (Bremen)Schleswig-Holstein (111) und 108 (Rheinland-Pfalz)

Mittelfeld: Hessen (02), Nordrhein-Westfalen (91), Thüringen (90), Hamburg (86), Saarland (83), Sachsen (79)

Niedrige Werte: Baden-Württemberg (71), Bayern (57).

Im Bundesdurchschnitt lag der Wert bei 90.

Unerwünschte Proteine nach Impfung mit mRNA-Vakzin – und eine Lösungsstrategie
Forscher haben entdeckt, dass eine Verschiebung beim Ablesen therapeutischer mRNAs („Frameshifting“) durch die Entschlüsselungsmaschinerie der Zelle eine unbeabsichtigte Immunreaktion im Körper hervorrufen kann. Sie haben die Sequenz innerhalb der mRNA identifiziert, die dies verursacht, und einen Weg gefunden, „Off-Target“-Immunreaktionen zu verhindern, wie sie in Nature berichten.

Die Forscher fanden heraus, dass Basen mit einer chemischen Modifikation namens N1-Methylpseudouridin, die derzeit in mRNA-Vakzinen enthalten sind, für Lesefehler entlang der mRNA-Sequenz verantwortlich sind.


Die Zulassung stützt sich auf positive klinische Daten aus mehreren ARCT-154-Studien, darunter eine laufende Wirksamkeitsstudie mit 16.000 Probanden in Vietnam sowie eine COVID-19-Booster-Studie der Phase 3, die im Vergleich zu einem mRNA-COVID-19-Standardimpfstoff höhere Immunogenitätsergebnisse und ein günstiges Sicherheitsprofil erzielte. Erste Resultate einer Phase-3-Studie wurden als Preprint auf MedRxiv veröffentlicht und voraussichtlich bis Ende des Jahres in einer von Experten begutachteten Fachzeitschrift publiziert werden.

Im Rahmen der Studie haben Wissenschaftler die Immunreaktionen auf ARCT-154 und Comirnaty-Auffrischungsimpfungen bei gesunden 18- bis 77-jährigen japanischen Erwachsenen verglichen. Die Probanden hatten zunächst 2 Dosen der mRNA-COVID-19-Impfstoffe Comirnaty® oder Spikevax® erhalten, gefolgt von einer 3. Dosis Comirnaty® mindestens 3 Monate vor Studienbeginn.


Neutralisierende Antikörper wurden vor und 28 Tage nach der Auffrischungsimpfung gemessen. Das primäre Ziel war der Nachweis der Nichtunterlegenheit der Immunantwort in Form von geometrischen mittleren Titerverhältnissen (GMT) und Seroresponse-Raten (SRR) neutralisierender Antikörper. Zu den wichtigsten sekundären Endpunkten gehörten die Immunantwort gegen die Omikron-BA.4/5-Variante und die Verträglichkeit des Impfstoffs.

Zwischen 13. Dezember 2022 und 25. Februar 2023 nahmen die Wissenschaftler 828 Probanden in ihre Studie auf. Sie bekamen randomisiert entweder ARCT-154 (n=420) oder Comirnaty® (n=408) als Booster. 4 Wochen nach der Auffrischung ergaben sich bei ARCT-154 versus Comirnaty® folgende Unterschiede:

Titern an neutralisierenden Antikörper gegen SARS-CoV-2 (GMT): 5.641 (95%-KI 4.321-7.363) versus 3.934 (2.993, 5.169)

GMT-Verhältnis: 1,43 (95%-KI: 1,26-1,63)

SRR: 65,2 % (60,2-69,9) versus 51,6 % (46,4-56,8)

Das entspreche Kriterien der Nichtunterlegenheit, heißt es im Preprint.

Diese Lücke schließt eine retrospektive, multizentrische Studie. Untersucht wurden Kombinationstherapien mit Nirmatrelvir/Ritonavir, Remdesivir, Molnupiravir und/oder mABs während der Omikron-Welle. Als Ko-primäre Endpunkte definierten die Forscher eine verlängerte Virusausscheidung (≥ 106 Kopien/ml am Tag 21 nach Behandlungsbeginn) und die Tage mit einer SARS-CoV-2-Viruslast ≥ 106 Kopien/ml.

144 Patienten wurden mit einer medianen Dauer der SARS-CoV-2-Viruslast ≥ 106 Kopien/ml von 8,0 Tagen (IQR 6,0-15,3) eingeschlossen. Sie erhielten:

1 Virustatikum plus 1 mAB (n=96)

2 Virustatika (n=29)

2 Virustatika plus 1 mAB (n=19)

Zusammenfassend erwies sich keine der genannten verschiedenen Behandlungsstrategien als überlegen.

Eine verlängerte Virusausscheidung wurde bei 14,6% (n=21/144) beobachtet, insbesondere bei Patienten mit hämatologischen Malignomen (OR 3,5; 95%-KI 1,2-9,9; p=0,02). Die klinischen Verläufe von COVID-19 waren leicht bis mäßig.

„Insgesamt haben vor allem Patienten mit hämato-onkologischen Erkrankungen von einer frühen dualen Anti-SARS-CoV-2-Behandlung profitiert“, schreiben die Autoren. „Aber auch anderen immunsupprimierten Patienten sollte diese Therapieoption nicht vorenthalten werden.“ Eine frühzeitige Kombinationsbehandlung habe in 85,6% der Fälle wirksam eine langanhaltende Virusausscheidung verhindert.

Antikörper gegen neue Varianten von SARS-CoV-2: Das passiert im Körper
Für das Immunsystem ist SARS-CoV-2 zwar kein Unbekannter mehr, doch stellen neue Virusvarianten nach wie vor eine Herausforderung dar, wie Univadis.de berichtet. Neue Arbeiten sind in Science Immunology und Immunity erschienen.

In einem als Affinitätsreifung bezeichneten Prozess können Antikörper durch den Austausch einzelner Aminosäuren mit der Zeit reifen und so infektiöse Erreger besser erkennen. Die Forscher konnte nun zeigen, dass eine Omikron-Infektion bei geimpften Personen eine erneute Immunantwort hervorruft, die primär auf der Reaktivierung sogenannter Gedächtnis-B-Zellen beruht.

Interessanterweise hatte der Reifungsprozess der von diesen Zellen produzierten Antikörper bereits lange vor der Entstehung von Omikron stattgefunden – das Immunsystem war also schon vorbereitet. Die Ergebnisse der beiden Studien zeigen, wie stark der 1. Kontakt mit SARS-CoV-2 das Immunsystem prägt und geben Hoffnung, dass es auch auf zukünftige Varianten vorbereitet ist.

Die erneute Analyse ergab, dass sich jetzt Gedächtnis-B-Zellen vermehrten, die in der Lage waren, SARS-CoV-2 Omikron neutralisierende Antikörper zu bilden. Gegen die Omikron-Variante gerichteten Immunzellen waren bereits vor dem Kontakt mit Omikron vorhanden.

Parallel dazu schaute sich die Arbeitsgruppe den molekularen Mechanismus der Affinitätsreifung an. Es wurde quasi die Zeit zurückgedreht und einzelne Antikörper, welche im 1. Jahr der Pandemie überall auf der Welt isoliert wurden, wurden in ihren Ausgangszustand versetzt.

Dadurch konnten die Forschenden zeigen, dass ein Teil der Modifikationen während der Affinitätsreifung nicht gerichtet, sondern zufällig stattfindet. Überraschenderweise waren es genau diese zufälligen Modifikationen, welche für die Neutralisation von Omikron-Varianten essenziell waren.

Die neuen biologischen Erkenntnisse konnte die Gruppe nutzen, um einen therapeutischen Antikörper, welcher gegen Omikron unwirksam war, so zu modifizieren, dass er Omikron-Varianten wieder effektiv neutralisieren konnte.

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4913205?ecd=WNL_mdplsfeat_231214_mscpedit_de_etid6156618&uac=389796AZ&impID=6156618

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