Samstag, 6. September 2008
Rassismus im (A)Sozialstaat, Zivilcourage und so weiter
Mal ein retrospektiver Beitrag zur aktuellen Drangsalierung von ALGII-EmpfängerInnen:

Mitte der Neunziger wurden Wertgutscheine für Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge ausgegeben, die diese anstelle Sozialhilfe in Geld bekamen und für die sie nur bestimmte Produkte ausgehändigt bekamen (Genussmittel waren ausgeschlossen). Wir unterliefen diese Praxis, indem wir die Gutscheine von Flüchtlings aufkauften, denen also Geld gaben und selber mit den Gutscheinen einkauften. Das waren dann so Aktionen, wo wir mit 20 Leuten in einen Supermarkt gingen, bewusst Wein, Zigaretten usw. kauften, die auf Gutscheine nicht herausgegeben wurden und dann sämtliche Kassen damit blockierten. Neben lustigen Erlebnissen, wie der Anrede durch eine Verkäuferin, die mich noch vorgestern sehr höflich bedient hatte “du mich verstehen, du können nicht kaufen das” gab es deutlichen Unmut der Wartenden, die sich über die “Scheiß-Asylis” aufregten, die mal wieder den ganzen Betrieb lahmlegten , aber auch wütende Empörung, als wir, angeblich Beamte , auf Eisverpackungen und Alkoholflaschen Aufkleber “Genussmittel! Nicht für Asylbewerber!” aufklebten und Sprüche wie “Das sind ja Judensterne!” uns einfingen. Die Presse ging mit und berichtete über unsere Spaßguerrilla-Aktuion. Das Ergebnis war (und das hatten wir damit ja auch beabsichtigt), dass ein Supermarkt nach dem Anderen sich weigerte, diese Gutscheine einzulösen und die Stadt Flüchtlings ihr Geld in Bar auszahlte. Die Firmen, die damals die Gutscheine produzierten - Sodexho (Firmenslogan: “Sodexho ist Spezialist für Dienstleistungen, die das tägliche Leben für jedermann erleichtern”) und Accor stellten damals auch Gutscheine für Sozialhilfeempfänger z.B. in Uruguay her. Das wäre in Deutschland der nächste Schritt, die Flüchtlinge waren immer die, an denen Diskriminierungsmaßnahmen zuerst ausprobiert wurden, das Experimentallabor für alle Armen.

Aber ich fürchte, wenn heute solche Maßnahmen eingeführt würden, gäbe es keine Solidaritätsbewegung mehr. Merkt Euch die Namen der Schweine, es soll ihnen nicht vergessen sein!

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... sodexho ist doch schon laengst weiter - die becatern doch zB. auch die US-Truppen im Irak. (Insofern beschaffen die da auch Neukunden fuer diverse andere, unter anderem oben beschriebene, Geschaeftsfelder) ... hmm ... sind die eigentlich boersennotiert ... ach neee lieber doch nicht dann muss man auf der HV den Schweinefrass den die so produzieren herunterwuergen ...

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Ich muss hoffentlich nicht betonen, dass ich ein solches Gutscheinsystem auch ablehne (und das nicht nur wegen der Diskriminierung, denn es hindert die Asylbewerber auch an der Teilnahme am Markt): was führt Dich bitte zu der Annahme, dass man bei uns in Deutschland so etwas wie Wertgutscheine statt ALG-II (oder Sozialhilfe) planen könnte? Die Meinungen, die Du in der Zeitung über irgendwelche Studien aus Chemnitz gelesen hast? ;-)

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Die Koppelung ist zu eng: Ich nehme nicht an, dass irgendjemand die Einführung von Gutscheinen statt ALG2 oder Sozialhilfe für deutsche BezieherInnen planen würde. Ich schrieb, dass es der konsequente nächste Schritt wäre, wenn eine Regierung die Hartz-Gesetze weiter forcieren wollte (alles Konjunktiv und eher etwas, das im Falle einer Rezession mit starker Zunahme der Arbeitslosigkeit in ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht zu erwarten wäre) eine solche Regelung einzuführen.Diese ist bei Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlingen längst Alltag, wobei hier immer wieder Solidaritätsaktionen zu einer Aufweichung einer rigorosen Anwendung geführt haben. In der Vergangenheit, s.o., fand so etwas auf recht spektakuläre Weise und mit großen Erfolg statt, und ich äußerte meine Zweifel daran, dass sich so etwas unter den veränderten Bedingungen, was Solidarität angeht, wiederholen ließe. Kann mich auch täuschen.

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lieber stefanolix

diese Gutscheine gibt es längst. Sie werden gnadenhalber ausggeben, wenn die Zahlungsanweisung wieder mal irgendwo liegengeblieben ist.

bei (existenziell bedrohlichen!) sanktionen KÖNNEN Gutscheine ausgegeben werden (nur bei Familien mit Kindern sollen/müssen sie ausgegeben werden).

Habe ich bei Penny jetzt schon mehrfach mitbekommen...

@ che: Du machst nicht nur gute Fotos, sondern vor allem auch gute Aktionen ;-)

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Aber das lässt jetzt nicht den Rückschluss zu, dass der Staat die Ausgabe von Gutscheinen an ALG-II-Empfänger plant(?)

Zweifelsohne macht eine satte und aufgeblähte Bürokratie Fehler, zweifelsohne fehlte in den letzten Jahren manchmal einfach die technische Infrastruktur (Beispiel: Fehler der Arbeitsagentur bei der Software-Einführung). Aber es gibt nun wirklich keinen Hinweis darauf, dass in Kürze wieder Lebensmittelbezugskarten eingeführt werden. Insofern kann ich mit dem Wort »gnadenhalber« überhaupt nichts anfangen.

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Ich wüsste nichts davon, dass Gutscheine gnadenhalber ausgegebenwürden anstelle einer Zahlungsanweisung. Die behördliche Praxis, die ich kenne, ist die Ausgabe von Wertgutscheinen (oder noch schlimmer: Lebensmittelpaketen) an Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge anstelle der Auszahlung von Sozialhilfe in Bargeld als eine gegenüber deutschen Leistungsempfängern diskriminierende Form der Versorgung. Man kann das auch behördlichen Rassismus nennen. Nirgendwo habe ich behauptet oder angenommen, der Staat plane die Ausgabe von Gutscheinen an ALG2-Empfänger. Vielmehr habe ich gesagt, dass dies in der Logik, in der bislang immer Asylbewerber staatlicherseits als Versuchskaninchen restriktiver sozialpolitischer Maßnahmen benutzt wurden, ein zu erwartender Schritt wäre. Nicht jetzt, nicht demnächst, sondern wenn in einer künftigen wirtschaftlich angespannten Situation die Hartz-Gesetze abermals verschärft würden. DerJetzt-Bezug kam eher von der Überlegung her "wie würden die Leute heute denn auf so etwas reagieren?" Dabei ging es mir weniger um die Frage, ob das genau so eintritt, sondern darum, ob dann die Zeit reif wäre für Solidaritätskampagnen großen Stils (angelehnt an die geschilderten Aktionen früher bei den Gutscheinen) oder ob die Menschen dann schon so entsolidarisiert sind, dass dies ausbliebe. Bezogen darauf, wie es heute mit Solidarität der Armen untereinander und Organisation von Protest aussieht wäre da m.E. nicht viel zu erwarten. Mir geht es dabei, wie immer bei solchen Betrachtungen, um die Solidaritäts- und Widerstandsperspektive, nicht um das staatliche Handeln selbst.

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soweit ich weiß, gibt es sone art gutscheine auch heute noch/wieder für hartzis, die z.b. dreimal ne "arbeitsgelegenheit" nicht oder nicht wie vorgeschrieben (also z.b. verspätet und/oder verkatert) angetreten haben und deshalb 100% leistungskürzung für 3 monate haben - damit sie nicht komplett hungers verrekken, denn das machte sich ja öffentlich nicht sooo gut...
!VENCEREMOS!

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