Mittwoch, 27. November 2019
Wir fordern die sofortige Beendigung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit mit der Türkischen Republik!
Weitergeleiteter Aufruf
Die jüngere Geschichte der Türkei ist durch die Zerstörung rechtsstaatlicher Standards nach innen und völkerrechtswidrige Aggression und Kriegsverbrechen nach außen geprägt. Weder die Bombardierung der eigenen Zivilbevölkerung in den Jahren 2015 und 2016, noch die Umgestaltung des türkischen Staates zu einer Präsidialdiktatur in den Folgejahren hatten eine entschiedene Reaktion der europäischen Regierungen zur Folge. Die Entlassung von mehr als hunderttausend Staatsbediensteten, die Inhaftierung hunderter Journalist*innen und Rechtsanwält*innen, die drakonische Verfolgung und Bestrafung der Wahrnehmung demokratischer Rechte, Wahlmanipulationen und die Nichtanerkennung von Wahlergebnissen, die Erdoğan nicht passen, wie auch der völkerrechtswidrige Angriff auf den syrisch-kurdischen Kanton Afrin, waren für die europäischen Regierungen kein Anlass, die Zusammenarbeit mit dem Erdoğan-Regime in Frage zu stellen. Ein unsäglicher Grund hierfür ist das mit Erdoğan geschlossene Bündnis zur Verhinderung der Weiterwanderung flüchtender Menschen nach Kerneuropa.
Die Unterzeichnenden fordern angesichts der aktuellen Geschehnisse in Nordsyrien ihre jeweiligen Regierungen auf, endlich die längst überfälligen Konsequenzen gegenüber dem die Menschenrechte und Völkerrecht mit Füßen tretenden autoritären Erdoğan-Regime zu ziehen.
Die Athener Rechtsanwältin Yiota Massouridou von der EDA erklärt: »Der türkische Staat hat seine völkerrechtswidrige Aggression gegenüber den nordsyrischen Kurdinnen und Kurden offen mit dem Ziel eines Bevölkerungsaustauschs begründet. Ein Staat, der ethnische ›Säuberungen‹ propagiert, in dem die grundlegenden Bürger- und Menschenrechte nicht gelten, in dem blanke Willkür herrscht und der Völkerrechtsverbrechen begeht, darf von keiner europäischen Regierung als Partner behandelt werden«.

Wir fordern:

- die sofortige Beendigung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit mit der Türkei,
- die Aufkündigung des sogenannten Flüchtlingsdeals sowie
- die Rücknahme jeglicher Verfolgungsermächtigungen in den Staatsschutzverfahren mit Bezug zur Türkei. Der türkische Staat in seiner aktuellen Verfasstheit kann weder Partner in der Flüchtlingspolitik noch Schutzobjekt deutschen Strafrechts sein.

Angesichts der politischen Verfolgung jeglicher Opposition, der gewaltsamen Unterdrückung der kurdischen Minderheit und der offenkundigen Zusammenarbeit des türkischen Staates mit Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat, birgt die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit mit der Republik Türkei die reale Gefahr der Verstrickung europäischer Behörden in Unterdrückung, Folter und Staatsterrorismus.

Der Frankfurter (Main) Rechtsanwalt Stephan Kuhn vom Organisationsbüro der Deutschen Strafverteidigervereinigungen: »Nur durch den strikten Verzicht auf justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit mit türkischen Behörden lässt sich ausschließen, dass durch Informationen deutscher Behörden Unterdrückungsmaßnahmen, Folter und Unrechtsurteile in der Türkei erfolgen. Umgekehrt dürfen deutsche Gerichte und Behörden keine Informationen verwenden, denen offenkundig der Verdacht anhaftet, durch rechtsstaatswidrige Methoden gewonnen worden zu sein. Die Bundesregierung darf ein solches Regime durch Nichts unterstützen«.

* Avocats Européen Démocrates / European Democratic Lawyers (AED/EDL)
* Çağdaş Hukukçular Derneği | Progressive Lawyers Association
* European Association of Lawyers for Democracy & World Human Rights (ELDH)
* Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
* Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen
* Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV)
* Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ)

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Menschenrechte im Iran: Verfolgung jenseits der Gesetze
http://alischirasi.blogsport.de/2019/06/17/iran-verfolgung-jenseits-der-gesetze/

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Wider Identitäterä
Die linke Szene in der ich mich lange Zeit bewegte und der ich mich teilweise, aber auch nur teilweise noch immer verbunden fühle – mein heutiges politisches Engagement hat eher den Charakter von befristeten Interventionen ohne lebensweltliche Eingebundenheit in Szenestrukturen, wenn auch in Kontakt zu diesen –

war und ist ganz eindeutig linksidentitär und essenzialistisch ausgerichtet. Das heißt mit anderen Worten, links ist nicht einfach eine Frage des politischen Standpunkts, linkssein ist eine Seinsform, ein Linker eine Lebensform. Also ich sehe das nicht so, explizit hat das auch noch niemand so formuliert, praktisch ist das aber das kollektive Lebensgefühl der linken, zumindest der autonomen Szene.

Und nicht nur in der Szene selbst wurde das so gesehen. Ich erinnere mich dass ich, als ich mich in jungen Jahren als Anarchist definierte, von anderen, in unserer damaligen Spontivilla in Nachbar-WGs wohnenden Leuten, dafür kritisiert wurde, man sagte mir ich sei kein Anarchist. Ein Anarchist sei eine abenteuerliche, wildromantische Gestalt wie aus einem italienischen Partisanenfilm, aber es könne nicht jemand der vom Anarchismus als Ideologie oder Philosophie überzeugt sei sich einfach so als Anarchist bezeichnen. Außerdem hätte ich ein Auto, äße Fleisch, ginge einer normalen Tätigkeit nach, da sei ich doch kein Anarchist.

Na gut, ich stimmte dieser Wahrnehmung nie zu sondern hielt sie für völlig absurd, stieß dann aber später auch in der autonomen Szene auf jede Menge von Zu- und Einordnungen die darauf hinausliefen, dass es ein festgelegtes linkes Menschenbild gibt.

Als ich meinem damals besten Freund erzählte dass ich zwei Bekannte habe, die beide linke Positionen vertreten und spekulative Börsengeschäfte, genauer gesagt Insidergeschäfte tätigen und meinten sie würden sich dabei an den kranken Seiten des Kapitalismus weiden meinte der: „Aha, zwei so richtige Schweine!“ und führte aus, dass Leute die so etwas tun alles, was Linke ausmache, längst verraten hätten und außerhalb alles Akzeptablen lägen.

Generell wurden von meinem damaligen Umfeld alle Leute, die linke Gesellschaftskritik praktizieren, aber nicht in eine linke Szene eingebunden leben und nicht regelmäßig an Demos und sonstigen Aktionen teilnehmen für unglaubwürdig und eigentlich keine richtigen Linken gehalten.

Dazu kamen Normierungen des persönlichen Lebensstils. Es schickte sich, einen interessanten Lebenslauf mit ein paar Vorstrafen oder zumindest Ermittlungsverfahren vorweisen zu können, das trug sehr zur Street Credibility bei. Es galt die Regel „Ein Linker redet nicht unbedacht irgendetwas daher“, stringent im Diskurs zu diskutieren wurde ebenso erwartet wie eine gewisse materielle Bedürfnislosigkeit.

Nach Reichtum zu streben war völlig unmöglich, schon wer Lotto spielte machte sich als Linker unglaubwürdig. Es war auch klar dass ein linker Mann kein Rasierwasser benutzt und eine linke Frau sich nicht schminkt, Linke keine Pornos konsumieren und politisch korrekten Sex haben, also z.B. keine BDSM-Praktiken. Nicht umsonst suchten sich viele Männer ihre Partnerinnen außerhalb der Szene mit ihren extremen moralischen Ansprüchen.

Das Schlimmste war nach einer Karriere in der Privatwirtschaft zu streben. Als ich nach Promotion und Weiterbildung als Textredakteur bei einer Softwareschmiede anheuerte und neun Tage später zum Marketingmanager befördert wurde bekam ich einen Brief, in dem es hieß: „Genosse, eine Karriere in der IT-Branche ist keine Karriere, sondern Verrat an der guten Sache!“. Da kündigte mir jemand wegen meiner Jobwahl tatsächlich die Freundschaft auf.

Heute, mehr als 15 Jahre später ist es immer noch so, dass MitstreiterInnen von damals Befremden und Misstrauen äußern wenn sie erfahren dass ich inzwischen selbstständiger Unternehmer bin. Zwar bin ich immer noch im Flüchtlingsrat und im Deutsch-Arabischen Freundschaftsverein und einer Initiative für PatientInnenrechte aktiv und habe einige Jahre für eine linke Liste im Rat gesessen, aber das schließt die Glaubwürdigkeitslücke für manche nicht wirklich. Da scheiße ich allerdings auch drauf. Ich brauche kein Szenedasein um weiterhin ein kritisches Bewusstsein zu pflegen. Im Kopf und im Herzen weiterhin Autonomer habe ich trotzdem Sinn für pragmatische Politik, und mein persönlicher Lebensstil ist eher der eines Yuppies als der eines Szenelinken. Ich kann mit dieser Bandbreite echt gut leben.

Und fühle mich dabei sehr authentisch.

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