Sonntag, 16. Februar 2020
Paukenschlag aus Straßburg: EGMR macht Rückzieher beim Schutz von Menschenrechten an der Grenze PE von PRO ASYL vom 14.02.2020
Der Menschenrechtsgerichtshof hat ein früheres Urteil zu »Push-Backs« von Spanien nach Marokko revidiert. Diese seien keine verbotenen kollektiven Abschiebungen gewesen, die Schutzsuchenden hätten legale Einreisewege nutzen müssen. Der Gerichtshof ignoriert die tatsächliche Lage an den Grenzen und schafft einen gefährlichen Präzedenzfall.
Die Einschätzungen zum am 13. Februar 2020 ergangenen Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in dem Fall N.D. und N.T gegen Spanien sind eindeutig: Das Urteil sei »weltfremd und geht an der harten Realität vorbei, der Flüchtlinge ausgesetzt sind« (SZ vom 13.02.2020). Die Organisation ECCHR, die u.a. die Kläger vor dem EGMR vertreten haben, befürchten sogar: »Andere Länder werden diese Entscheidung als Blankoscheck für brutale Push-Backs verstehen«.
Der Fall: Direkte Abschiebung nach Marokko

Einstimmig hatten die Richter*innen der Großen Kammer in N.D. und N.T. entschieden, die Klage der zwei Männer aus Mali bzw. der Elfenbeinküste abzuweisen. Sie hatten im August 2014 mit über 70 weiteren Personen versucht, über die Grenzzäune von Marokko nach Melilla auf spanischen Boden zu gelangen. Nachdem sie über die Zäune geklettert waren, wurden sie beim Hinunterklettern umgehend von der spanischen Guardia Civil festgenommen – um sie sofort ohne jegliche Prüfung wieder nach Marokko zurückzuschieben. Dort warteten schon die marokkanischen Sicherheitskräfte, die die Schutzsuchenden ins Landesinnere verbrachten. Dieser sogenannte »Push-Back« ist auch durch Videomaterial verschiedener Journalist*innen und Zeug*innen belegt.
Die Kammer-Entscheidung von 2017: Klarer Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung

Am 3. Oktober 2017 hat der EGMR zum ersten Mal in dem Fall entschieden. Die Kammer, in der sieben Richter*innen entscheiden, gab den Klägern auf ganzer Linie Recht. Der Gerichtshof stellte sowohl einen Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung (Artikel 4 des Vierten Zusatzprotokolls der EMRK) als auch gegen das Recht auf wirksame Beschwerde (Artikel 13 EMRK) fest. Denn zu keiner Zeit hatten die Betroffenen überhaupt die Möglichkeit, ein Verfahren einzuleiten oder Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Es wurde nicht einmal ihre Identität geprüft, es konnten keinerlei persönlichen Umstände vorgebracht werden. Die langjährige Abschiebepraxis der spanischen Behörden wurde damit vom EGMR als rechtswidrig beurteilt.

Die »Push-Backs« von Melilla sowie der weiteren Enklave Ceuta nach Marokko wurden von Spanien derweil sowohl 2018 als auch 2019 weiter fortgesetzt

Spanien ging gegen das Urteil in Berufung. Deswegen musste jetzt die Große Kammer des EGMR, bestehend aus 17 Richter*innen, erneut über den Fall entscheiden.

Die »Push-Backs« von Melilla sowie der weiteren Enklave Ceuta nach Marokko wurden von Spanien derweil sowohl 2018 als auch 2019 weiter fortgesetzt.
Die Große Kammer beginnt in ihrer Begründung zunächst mit einigen grundsätzlichen Ausführungen zum Verbot der Kollektivausweisungen und inwiefern dieses an der Landgrenze anwendbar ist – denn die Fälle in denen bislang die Verletzung dieses Verbotes festgestellt wurde, spielten sich z. B. auf hoher See ab. Der EGMR legt prinzipiell rechtliche Begriffe »autonom« aus, also unabhängig von der Bedeutung in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen.

Eine Ausweisung/Abschiebung ist »kollektiv«, wenn mehrere Menschen als Gruppe abgeschoben werden und es keine individuelle Prüfung gab

Den Begriff der Ausweisung/Abschiebung (auf Englisch »expulsion«) interpretieren die Richter*innen als jedes unfreiwillige außer Landes Schaffen einer Person, unabhängig davon, ob die Person sich rechtmäßig in dem Land aufgehalten hat, ob sie illegal oder legal eingereist ist, ob die Person als Migrant*in oder als asylsuchend gilt und wie sie sich an der Grenze verhalten hat (Rn. 185). Eine Ausweisung/Abschiebung ist »kollektiv«, wenn mehrere Menschen als Gruppe abgeschoben werden und es keine individuelle Prüfung gab, im Rahmen derer sie Gründe vorbringen konnten, die gegen ihre Abschiebung sprechen (Rn. 193).

Wären die Richter*innen allein bei dieser bereits etablierten Rechtsprechungslinie geblieben, sie hätten – wie bereits die Richter*innen in der Kammer im Jahr 2017 – einen Verstoß des Verbots der Kollektivausweisung feststellen müssen. Denn die Kläger wurden ohne jedes Verfahren direkt abgeschoben.
Freiwillige Entscheidung zur illegalen Einreise?!

Stattdessen prüfen die Richter*innen, ob in Fällen, bei denen eine Gruppe von Menschen gleichzeitig versucht eine Grenze zu überqueren und damit eine chaotische Situation erzeugt, die schwierig zu kontrollieren ist und die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellt, nicht die betroffene Person selbst an der Kollektivausweisung Schuld sei. Dafür entwickelten sie folgenden Test (Rn. 201):

Hat der Staat tatsächliche und effektive Möglichkeiten eines legalen Zugangs ermöglicht, z.B. mit einem Grenzverfahren?
Gab es zwingende Gründe dafür, warum die betroffene Person diese Zugangswege nicht genutzt hat und war dafür der Staat verantwortlich?

. Dass es für die Kläger aufgrund von »racial profiling« durch die marokkanische Polizei nicht möglich gewesen wäre, so nah an die Grenze zu kommen, wischen die Richter*innen mit dem Argument beiseite, dass nicht belegt wurde, das dies Spaniens Verantwortung sei.

Zahlreiche Berichte, u.a. vom UNHCR und dem Menschenrechtskommissar des Europarates, bezeugten in dem Verfahren, dass es einen solchen tatsächlichen Zugang für Menschen aus Sub-Sahara Afrika nicht gab. Doch den Richter*innen reicht, dass es eine gesetzliche Grundlage für Botschaftsverfahren gab und dass es zum Zeitpunkt des Vorfalls vereinzelte Fälle von Asylanträgen an dem fraglichen Grenzübergang gab. Dass es für die Kläger aufgrund von »racial profiling« durch die marokkanische Polizei nicht möglich gewesen wäre, so nah an die Grenze zu kommen, wischen die Richter*innen mit dem Argument beiseite, dass nicht belegt wurde, das dies Spaniens Verantwortung sei.
Aufgrund dieser Verkennung der Realität an der Grenze kommen die Richter*innen dann zum folgenden Schluss: die Kläger hätten sich selbst in Gefahr gebracht in dem sie versucht hatten, über den Grenzzaun nach Spanien zu gelangen, anstatt einen der angeblich zur Verfügung stehenden legalen Einreisewege zu nutzen. Deswegen sei es auch ihre Schuld, dass es keine individuelle Prüfung in ihren Fällen gegeben hätte (Rn. 231).
Der Kampf um die Menschenrechte geht weiter

Die Entscheidung der Großen Kammer des EGMR in N.D und N.T ist ohne Frage eine große Enttäuschung und ein Rückschritt in der bislang meist progressiven Rolle des Gerichtshofs bei der Frage des Schutzes von Menschenrechten an der Außengrenze.

Bei der Vereinbarkeit mit dem internationalen Recht zählt nicht nur das Verbot der Kollektivausweisung nach der EMRK, sondern auch das Verbot der Folter, welches neben der EMRK auch in anderen internationalen Verträgen verbrieft ist
Das lenkt zum einen den Blick auf andere Menschenrechtsinstitutionen: Der UN-Kinderrechteausschuss hatte in einem ähnlich gelagerten Fall eines unbegleiteten Minderjährigen aus Mali im Februar 2019 diese Form der direkten Abschiebung von Melilla nach Marokko verurteilt, u.a. als Verstoß gegen das auch in der Kinderrechtskonvention enthaltene Verbot der Folter. In Spanien haben Entscheidungen der UN-Menschenrechtsausschüsse bindende Wirkung. Entsprechend sollte auch das spanische Verfassungsgericht diese Entscheidung im Rahmen eines laufenden Verfahrens zu der spanischen Gesetzesvorschrift, die die »Push-Backs« vermeintlich erlaubt, berücksichtigen. Das Verfahren wurde bis zur EGMR-Entscheidung ausgesetzt, doch zählt bei der Vereinbarkeit mit dem internationalen Recht nicht nur das Verbot der Kollektivausweisung nach der EMRK, sondern auch das Verbot der Folter, welches neben der EMRK auch in anderen internationalen Verträgen verbrieft ist. Vielleicht werden die »Push-Backs« nach Marokko also bald doch noch rechtlich gestoppt.

Zum anderen aber darf auch der Weg nach Straßburg nicht aufgegeben werden: Das letzte Wort zu »Push-Backs« an europäischen Grenzen ist noch lange nicht gesprochen. Der Kampf für die Achtung der Menschenrechte aller Menschen geht weiter.

... link (10 Kommentare)   ... comment


Festnahme von Asyl-Vertrauensanwalt in der Türkei: Deutlich mehr Asylsuchende betroffen als bislang bekannt
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert eine Offenlegung der Zahl der durchgeführten Recherchen in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei und wirkungsvolle Schutzmaßnahmen für alle Geflüchteten und ihre Familienangehörigen, die durch die Beschlagnahmung von intimen Personaldaten und vertraulichen Asylinformationen bei Vertrauensanwalt Yilmaz S. in Gefahr geraten sind.

Der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius hat die Forderung des Flüchtlingsrats nach einem Abschiebungsstopp für die Türkei mit der Begründung abgelehnt, er sehe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in der Pflicht und habe keine Veranlassung, die von der Bundesregierung genannte Zahl von 283 durch die Festnahme des Vertrauensanwalts gefährdete Personen in Zweifel zu ziehen.

Den Antworten der Bundesregierung auf zwei Anfragen der Linkspartei im Bundestag (jeweils Antworten des Auswärtigen Amtes vom 24. Januar 2020 hier und hier) ist nun zu entnehmen, dass doch erheblich mehr Personen betroffen sind als bislang öffentlich zugegeben, und dass die Bundesregierung letztlich nicht weiß, wie viele Personen betroffen sind: 448 möglicherweise gefährdete Personen wurden durch das BAMF informiert (BT-Drs. 19/16811, Frage 11). Allerdings teilt das Auswärtige Amt mit, dass auch ein PC und zwei USB-Sticks des Vertrauensanwalts beschlagnahmt worden seien – wie viele weitere Fälle bzw. welche Gefährdungen für in Deutschland lebende Flüchtlinge daraus entstehen könnten, weiß auch die Bundesregierung nicht. „Das Problem ist, dass das Auswärtige Amt die Zahl der betroffenen Flüchtlinge herunterspielt“, kommentiert Dündar Kelloglu vom Vorstand des Flüchtlingsrats.

Eine erste Auswertung der Antworten hat dankenswerterweise die Linkspartei übernommen (siehe Vermerk KA Festnahme Vertrauensanwalt). Ihr lässt sich u.a. entnehmen, dass die Zahl der Anfragen des BAMF an das Auswärtige Amt von 201 (Jahr 2015) auf 1.401 (Jahr 2018) gestiegen ist und 2019 bei immer noch 1.301 lag, was in Relation zu den Entscheidungen des BAMF in etwa auf eine Verzehnfachung der Anfragen hinausläuft. Die Frage, zu wie vielen Asylsuchenden das AA seit 2015 Informationen über Vertrauensanwälte in der Türkei eingeholt hat, beantwortet die Bundesregierung nicht offen. Das Überprüfungsinteresse des BAMF beim Herkunftsland Türkei scheint jedoch besonders groß zu sein: Nach unserer Wahrnehmung wurde in Türkeiverfahren in den letzten Jahren erheblich häufiger eine Überprüfung durch das Auswärtige Amt in Auftrag gegeben als bei anderen Herkunftsländern.

Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke kommentiert:

„Die Zahl der Anfragen aus dem BAMF an das Auswärtige Amt ist in den letzten Jahren in die Höhe geschossen. Das ist Ausdruck einer notorischen Misstrauenskultur in der Asylbehörde. Immer wieder wird berichtet, dass BAMF-Mitarbeiter glaubhafte Angaben von Asylsuchenden grundlos in Frage stellen. Anstatt sich inhaltlich mit den vorgelegten Beweismitteln auseinanderzusetzen, beauftragen sie das Auswärtige Amt leichtfertig mit der Prüfung von Dokumenten und gefährden so Geflüchtete. Diese Praxis muss sich schleunigst ändern!“

In das gleiche Horn stößt Kamil Taylan, der seit Ende der 1970er Jahre als Gutachter in Asylverfahren tätig ist und mit seiner kritischen und unabhängigen Tätigkeit eine hohe Reputation auch bei Behörden genießt. „Ist der Papst katholisch?“ ist sein Blog ironisch überschrieben, in dem er das „gigantomanische“ Ausmaß der vom BAMF in Auftrag gegebenen Überprüfungen kritisiert und u.a. auf den Fall der prokurdischen HDP-Abgeordneten Leyla Birlik verweist, deren Akten das BAMF ebenfalls in der Türkei prüfen ließ. „Das ist ungefähr so, wenn die deutsche Bundesregierung im Vatikan einen Fachanwalt für katholisches Kirchenrecht beauftragen würde, er möge mal in den Archiven und Datenbanken recherchieren, ob da Unterlagen vorhanden sind, die darauf hinweisen könnten, dass der Papst katholisch sein könnte oder auch nicht.“

Auch Kamil Taylan zweifelt die vom Auswärtigen Amt genannte Zahl der Betroffenen an und weist darauf hin, dass „die Zahl, die die türkischen Medien über die bei den verhafteten Rechtsanwälten sichergestellten Akten veröffentlicht haben, durchaus realistisch“ sei. „Mehrere Medien berichteten, dass bei der Durchsuchung in der Kanzlei vom Rechtsanwalt Yilmaz S. neun Aktenordner mit Berichten über 4000 Personen sichergestellt wurden. Außerdem soll die türkische Finanzpolizei auf den Konten von Yilmaz S. ca. 5 Millionen Lira (ca. 900.000 Euro) sichergestellt haben. Der Rechtsanwalt habe angegeben, dass davon nur 37.000 Euro und 5.000 Lira ihm gehören würden. Unter diesen 4000 Personen sind auch die schon abgelehnten und die als Asylberechtigter akzeptierten Flüchtlinge.“

Als Konsequenz aus der Festnahme von Yilmaz S. führt das Auswärtige Amt inzwischen in der Türkei keine personenbezogenen Recherchen mit Kooperationsanwält_innen mehr durch.

... link (0 Kommentare)   ... comment