Montag, 26. August 2013
Westerwelle und Brüderle im Wolkenkuckkucksheim
Mal Klartext in Sachen Lage in Griechenland von Sven Giegold, Mitbegründer attac Deutschland, als Finanzexperte (Gründer FinanceWatch) für die Grünen im EU-Parlament (und natürlich auch für die anstehenden Bundestagswahlen BRD interessant)


Neues Hilfsprogramm für Griechenland:
Westerwelle und Brüderle im Wolkenkuckucksheim

Zu den Diskussionen rund um ein neues Programm für Griechenland erklärt Sven Giegold, finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament:

"Griechenland braucht ein neues Programm. Seine Staatsschulden sind nicht nachhaltig. Die Grundrechenarten politisch zu leugnen, erzeugt nur weitere Politikverdrossenheit.

Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat erst jüngst errechnet, dass Griechenland selbst bei illusorischen 4% Wachstum einen Primärüberschuss von 10,6 % der Wirtschaftleistung erreichen müsste.
Das ist Wolkenkuckucksheim.

Politisch gestaltbar ist jedoch, wie ein notwendiges Programm aussehen sollte. Die Senkung der Zinskosten durch einen Schuldentilgungsfonds
ist billiger als Schulden abzuschreiben. Zukunftsinvestitionen in den Krisenländern auf den Weg zu bringen, ist billiger als das Land noch
weiter in die Krise zu sparen. Vermögende in Griechenland und anderswo durch eine Vermögensabgabe und gemeinsamen, europäischen Kampf gegen Steuerflucht fair an der Entschuldung des Staates zu beteiligen, ist billiger als radikale Umschuldungsmaßnahmen.

Die Europäische Zentralbank hat vor einigen Wochen eine wichtige Studie über die Vermögen privater Haushalte in der Eurozone vorgelegt. In
allen Ländern der Eurozone sind erhebliche private Vermögen vorhanden.
In Griechenland stehen private Vermögen von ca. 250% des BIP Staatsschulden von 170% entgegen. Selbst bei sehr hohen Freibeträgen können Vermögensabgaben und konsequente Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung den Schuldenstand in Europa schnell wieder in eine
tragfähige Region zurückbringen. Doch das scheut die schwarz-gelbe Bundesregierung wie der Teufel das Weihwasser.

Die Behauptung, ein neues Programm würde die Reformanstrengungen in Griechenland unterminieren, ist grotesk. Wer glaubt, dass eine
Regierung bei 27% Arbeitslosenquote keinen Reformdruck hat, verkennt jegliche politische und soziale Realität. Die wirklich zu führende
Debatte ist nicht die Notwendigkeit eines dritten Programms, sondern der unerträglich hohe Schuldenstand in Griechenland in Verbindung mit
der lähmenden Unsicherheit über die Zukunft. Solange in Deutschland führende Politiker immer wieder von Schuldenschnitt oder gar von einem
Euro Austritt schwadronieren, zerstören wir jegliche
Investitionsbereitschaft. Welches internationale Unternehmen ist bereit, ein griechisches Staatsunternehmen zu erwerben oder welcher
griechische Unternehmer investiert Millionen Euro, wenn er damitrechnen muss, in wertlosen Drachmen bedient zu werden?

Es ist schön, dass Herr Schäuble eine gewisse Offenheit für die Realitäten in Griechenland zeigt. Noch schöner wäre es, wenn er sich endlich von der Weisheit der fünf Weisen anstecken lassen würde und
einen mittels Vermögensabgaben finanzierten Schuldentilgungspakt propagieren würde."


Institut für Weltwirtschaft (Kiel): Das IfW-Schuldenbarometer
http://www.ifw-kiel.de/wirtschaftspolitik/politikberatung/ifw-schuldenbarometer/das-ifw-schuldenbarometer/

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Solange die Gesellschaften in der Guillotine der nicht-tragbaren Schulden hängen, sind deren Politiker gefügiger, um eine unmittelbare noch schlimmere Katastrophe zu vermeiden. Das ist die Idee. Papers zur Lateinamerikanischen Schuldenkrise 1982 bis 1989 sahen 1987 ganz ähnlich aus. Danach kam dann der Brady Plan mit wirklicher Schuldenreduktion, z.T. dann noch auf "Kosten" von Privatisierungen. Zu der Zeit etwa gabs die ganzen Berichte über die brasilianischen Straßenkinder in unseren Illustrierten.

Eher im Westen nichts Neues.

Was mich allerdings empört ist die Tatsache, dass sich dieses Volk und die Merkel eigentlich in diese Krise inzwischen gut eingelebt haben.
Wie die Bauern im Erftkreis sagen: Man musset nit nur im Kopp haben. Hinterkopp es viil wischtiger.

- Unsere Exportwirtschaft kann sich in viel härteren Märkten mit höheren Wachstumsversprechen in Asien und Lateinamerika behaupten.
- Unsere Wirtschaft erhält nicht wenige an gut in wert setzbaren, motivierten und gutausgebildeten Migranten als Südeuropa für lau, die dann schnell viel Steuern und Geld in die Sozialkassen zahlen. Even better, von letzteren bekommen sie viel nicht zurück, sobald sie wieder in die Heimat zurückgehen.
- die Reichs von dort legen ihr Geld aus Angst vor Teil-Enteignung hier an. Stabilisiert unsere Finanzmärkte.
- nachdem Kommunismus nicht wieder auf die Füße kommt und die Grusel-Qualitäten des Chavismus einfach zu weit weg ist, hat man halt Kampf gegen die Schulden-Uhr als neuen nation-stiftendes Alien entdeckt.
- Die Mindestlöhner sehen in der Nähe ein paar Gestalten, denen es noch übler geht.
- Hey und diese makroökonomischen Zahlen aus Spanien, Portugal und Griechenland sehen ja schon so viiiel besser aus. Nur beachtet für die nächsten 10 Jahre nicht BIP sondern Median-Einkommen und Verhältnis der verfügbaren Einkommen der unteren 40% zu den obersten 10%. Der Wert entwickelt sich nämlich praktisch überall wie Gini, nur ist er konzeptionell viel greifbarer für Jedermann.

Solidarität wäre intelligenter als wieder dieser Blödsinn.

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Merkel hat es sehr bequem
Obiger Kommentar trifft es.
Leider kann man Umfragen entnehmen, daß ein Drittel der Basis von SPD und Linken die inszenierte Griechen-Zähmungsshow goutieren. Rational ist kaum vorstellbar, daß das Thema nach der Wahl von Merkel nicht ganz anders angegangen wird. Genuin suizidale Strategien wie bei den US-Republikanern sind ja bei unseren konservativen Eliten bisher noch nicht mehrheitsfähig.

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Habe heute eine große Menge...
...mit Artikulationen des Selbstverständnisses und der strategischen Vorstellungen unserer konservativen Eliten bedruckten Papiers konsumiert. Leider führt mich diese Lektüreerfahrung zu dem Schluß, daß sich die Hoffnung darauf, nach der Wahl werde sich eine zynisch-pragmatische Rationalität Bahn brechen, schnell als Irrtum erweisen könnte.
Zu den von Lemmy Caution genannten Punkten gehört der Kampf gegen die Schuldenuhr. Das ist natürlich eine Donquichotterie, aber gerade derlei gehört halt oft zum bis zuletzt verteidigten Kernbestand ideologischer Selbstidentifikation. Austeritätsapologeten im Kampf gegen Windmühlenflügel scheitern zu sehen, ist nicht nur nicht neu - ein Reichskanzler Franz von Papen inszenierte diesen Ritterroman des deutschen Konservatismus einst mit großer rhetorischer Inbrunst -, sondern auch keineswegs an eine politische Konstellation gebunden, in der eine Massenbewegung und ihre Führung Gewehr bei Fuß stehen, jedes entstehende politische Vakuum sofort auszufüllen. Eher steht zu vermuten, daß hegemoniale ideologische Deutungssouveränität diesem Treiben viele Iterationen ermöglichen wird, bevor endlich erfolgreich eine Exitbedingung getriggert wird. There is a lot of ruin in a nation, sagte Keynes. Wäre er US-Amerikaner gewesen, hätte dieser Ausspruch lauten müssen: There is a lot of ruin in the middle class - eiserne Disziplin und Selbsttäuschungsbereitschaft natürlich immer vorausgesetzt. Daß diese in Deutschland bereits völlig abhandengekommen wären, ist nicht gerade offensichtlich.

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