Dienstag, 26. April 2016
Von wegen sichere Drittstaaten
Dr. Thomas Hohlfeld schreibt hierzu:


die gestrige Sachverständigen-Anhörung des Innenausschusses zur angestrebten Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als asylrechtlich sichere Herkunftsstaaten war bemerkenswert. Hier kann die Anhörung als stream angesehen werden: http://dbtg.tv/cvid/6763816, das Protokoll der Anhörung liegt noch nicht vor und wird auch zur geplanten morgigen Beratung des Gesetzesentwurfs im Innenausschuss noch nicht vorliegen.



Da nur die Oppositionsfraktionen Sachverständige benannt hatten, die sich tatsächlich mit der menschenrechtlichen und politischen Lage in den drei Ländern befassten, blieb die unwidersprochene Feststellung im Raum, dass es zahllose schwere Menschenrechtsverletzungen und Verfolgungsmaßnahmen, insbesondere auch gegen Homosexuelle / LGBTI, in allen drei Ländern gibt, demokratische Rechte (Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit) verletzt werden, Frauen und Mädchen zum Teil unzureichend vor sexueller Gewalt geschützt sind und die Lage angesichts verstärkter staatlicher Repressionsmaßnahmen im Zuge der Anti-Terrormaßnahmen auch keinesfalls als stabil bezeichnet werden kann.

Kurzum: Keines der drei Länder erfüllt die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts bzw. des EU-Rechts an die Einstufung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat!



Die von der Koalition benannten „Sachverständigen“ befassten sich praktisch nicht mit der Lage in den drei Ländern, sondern konzentrierten sich auch die Auswirkungen der geplanten Einstufung auf das Verwaltungsverfahren im BAMF und für die Ausländerbehörden. Kein Wunder: Zwei der drei von der Koalition geladenen Sachverständigen wurden aus einem Landesministerium bzw. dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgestellt, obwohl dies der Geschäftsordnung des Bundestages und der Idee einer Anhörung unabhängiger Sachverständiger widerspricht – hiergegen protestierte Ulla Jelpke für DIE LINKE noch einmal ausdrücklich, sowohl in der Anhörung als auch per Pressemitteilung:

http://www.ulla-jelpke.de/2016/04/alibi-anhoerung-mit-gefaelligkeitsgutachten/

Der Dauersachverständige der Koalition, Thym, erklärte, dass es bei Asylsuchenden aus den drei Ländern nur sehr wenige formelle Entscheidungen gebe, so dass die bereinigte Schutzquote der von der Bundesregierung verwandten Schutzquote weitgehend entspreche. Jedenfalls für das Jahr 2015 (und auf diese Werte bezieht sich die Bundesregierung in der Gesetzesbegründung, 2016 sieht es tatsächlich anders aus) ist das glatte Gegenteil richtig, darauf hatte ich schon hingewiesen (siehe nochmals im Anhang): Die offizielle Schutzquote des BAMF für die Länder Algerien und Marokko lag 2015 bei nur ein bis zwei Prozent, die bereinigten Schutzquoten lagen demgegenüber bei fünf bzw. 8,2 Prozent, weil es bei Asylsuchenden aus den drei Maghreb-Staaten deutlich mehr formelle als inhaltliche Asylentscheidungen gab.



Erstaunlich, dass die absurde Behauptung der Gräfin Praschma vom BAMF, bereits die Diskussion über die Einstufung der drei Länder habe zu einem Rückgang der Asylsuchenden von dort geführt (!), gestern ungeprüft von unzähligen Medien übernommen wurde. So, also hätte es keine Abriegelung der Fluchtrouten in Europa und an den EU-Grenzen gegeben, die bekanntlich als erstes alle Flüchtlinge traf, die nicht aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan kamen (später dann auch diese)…



Die zum Gesetzentwurf eingereichten Stellungnahmen, etwa auch der Kirchen, von Pro Asyl, dem Deutschen Institut für Menschenrechte u.a., sind hier verfügbar:

https://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse18/a04/anhoerungen/79-sitzung-inhalt/419476



Dass die Lage in den drei Ländern ihrer Einstufung als „sicher“ widerspricht, ist offenkundig. Allein: Die Koalition hat es so beschlossen, und die SPD tut nur so, als nähme sie die vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auferlegten besonderen Sorgfaltspflichten ernst.





Nachtrag:

Beim letzten Mal hatte ich eine Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Frage von Jan Korte zur Unterbringungssituation der Flüchtlinge in der Türkei angehangen – und nicht kommentiert. Das will ich hiermit gerne nachholen:

Nach Angaben der Bundesregierung lebten 274.000 der knapp drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei in 26 staatlichen Flüchtlingscamps, die anderen lebten in „zahlreichen kommunalen und informellen Flüchtlingslagern sowie Privatunterkünften“. Und weiter: „Genaue Zahlen zu diesen Gruppen liegen auch dem UNHCR nicht vor.“ Es gebe aber keine „belastbaren Erkenntnisse“ darüber, dass die Türkei ihren Verpflichtungen nicht nachkomme.

Jan Korte fragt: „Wenn die Bundesregierung nur von einem Zehntel der Flüchtlinge in der Türkei weiß, wie sie überhaupt untergebracht sind, wie kann sie dann von einem funktionierenden Versorgungssystem dort ausgehen?“

Die Mitteldeutsche Zeitung berichtete:

http://www.mz-web.de/politik/fluechtlinge-in-tuerkei-ungenaue-kenntnisse-ueber-unterbringung-23869100





Beste Grüße

Thomas Hohlfeld

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