Freitag, 9. August 2019
Soziokulturelle Wahrnehmung von sexueller Übergriffigkeit früher und heute
In meiner Abizeit war Antanzen mit Küsschen-Klauen in meiner Schulclique durchaus ein verbreiteter Partyspaß, nicht nur einseitig von Jungs gegenüber Mädchen sondern durchaus auch in umgekehrter Richtung. Dass das nicht nur bei uns so war, dafür ist Marius´"Mit Pfefferminz bin ich Dein Prinz" Zeugnis.


Etwas über ein Jahr nach demn Abi begann im Studium für mich ein Techtel damit, dass auf einem Plenum das der Planung von Störaktionen gegen einen Burschenaufmarsch diente eine Genossin mir von hinten an die Eier fasste, das war ihre Art mir klarzumachen was sie von mir wollte.

Noch in den 90ern war in einer militant autonomen Fraktion eine Genossin dort mit mehreren Männern zugleich liiert, und alle redeten darüber - ohne Gegnickere und Spott.


Beide haben dolle Karrieren gemacht, ich frage mich wie die so heute Parties feiern und wie deren erwachsene Kinder so drauf sind. Die Art und Weise wie wir so übereinander hergefallen waren würde ich am Ehesten als "spielerisch" bezeichnen. Das war damals halt so.

Vor noch nicht langer Zeit hatte ich als Dozent ein Seminar im Harz. Da gab es zwei Lerngruppen nebeneinander.
Meine waren Gewerkschaftsmitundohneglieder, IGM und ver.di, VW und Krankenpflegekräfte, die andere LehramtsreferendarInnen,
Landesschulbehörde.

Der Kontrast auf der abendlichen Party hätte nicht größer sein können: Hie lautes Gelächter und Witze
reißen, da fast im Flüsterton gehaltene Gespräche über schwere pädagogische Probleme. Zu fortschrittener Stunde setzte
ich mich zu einer schönen Blondine an die Theke und sprach sie an, wurde aber sofort angeschrien was mir denn einfiele.
Allein die Tatsache dass ich mich in Flirtabsicht neben sie gesetzt und sie angesprochen hatte wurde schon als sexuelle
Belästigung angesehen. Von den Malocherinnen aus meinem Kurs wurde ich dann gefragt warum die so abgegangen sei,
ob ich ihr "an die Düsen" gefasst hätte. Und ihrerseits fanden sie die Reaktion der Referendarin, die von da an nur noch "Deine Stichflamme" genannt wurde völlig unverständlich.


Vergleichbare Erfahrungen habe ich in meinem beruflichen Umfeld, das so eine Art Schnittstelle zwischen Handwerk und Finanzdienstleistungsbereich darstellt, wobei die Leute niemals aus AkademikerInnenfamilien stammen oft gemacht: Die Empörung über das was bei Akademix so als sexuelle Belästigung betrachtet wird wenn die sich nur auf verbalen Ebenen darstellt wird dort nicht nur nicht geteilt sondern überhaupt nicht nachvollzogen. "Wer erwachsen ist hat ja wohl ein Recht auf Koks zu poppen" aus dem Mund einer 22 jährigen Versicherungsagentin mit Migrationshintergrund dürfte da eher Konsens sein.

Überhaupt scheint die Verbundenheit einer repressiven und regressiven Sexualmoral mit feministischen und antidiskriminierungsbezogenen Ansprüchen etwas für akademische Mittelschichten typisches zu sein das zu anderen Gesellschaftsschichten keinen Bezug hat. Moral wird zum Politikersatz und hat letztlich eher theologischen Charakter.

Geradezu vom Stuhl schmiss mich dann ein Interview mit einem angehenden Astronauten, der erzählte, aufgrund der Probleme mit sexuellen Beziehungen bei jahrelangen Weltraummissionen habe er beschlossen sexuell völlig enthaltsam zu leben und empfinde es jetzt als völlige Befreiung, andere Menschen nicht mehr als Objekte zu betrachten da er sie nicht mehr begehre und sie so erst auf Augenhöhe wahrnehmen zu können.


Was für ein komplett verdinglichtes Verhältnis zu Sexualität und Liebesbeziehungen ist das denn? Da waren die Griechen vor 2500 Jahren ja schon weiter, unsere Plena in den Achtzigern mit Petting in der Politdiskussion auch. Von 2 Ausnahmen abgesehen, berauschten Party-one-night-stands, waren alle sexuellen Kontakte die ich je hatte selbstverständlich mit Interesse an den Gedanken, Gefühlen und Zielen des jeweiligen Menschen, mit Achtung, Empathie und Mitgefühl verbunden gewesen, anders wäre mir das gar nicht vorstellbar. Aus den Partner-Problem-Diskussionen die ich mit Frauen in meinem Umfeld und meiner Generation erinnere kenne ich eher so etwas dass Frauen sich darüber beklagten dass ihre Partner nicht bereit wären emotional mit ihnen zu verschmelzen, aber von Erniedrigung zum Objekt habe ich nur in Fällen gehört, wo es um sexualisierte Gewalt oder aber, dann mit ganz anderer Stoßrichtung, um BDSM ging.

Wenn das, was dieser angehende Astronaut erzählte repräsentativ für heutige Diskurse ist, dann hat der Neopuritanismus auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts gesiegt.

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Mal von Ania Goledzinowska gehört? - Vermutlich nicht ... Also, die hält Vorträge, "Vom Bunga-Bunga Girl zur Quelle des Lichts", vom Party-Girl in Italien (gerade so der Prostitution entkommen) zur Bekehrung. Gläubige Katholiken können jetzt an einer Aktion teilnehmen, wo es um "kein Sex vor der Ehe" geht. Verlobte gehen ein solches Versprechen ein, bekommen einen entsprechenden symbolischen (gesegneten) Ring zugesandt, so ungefähr.

Sie sagt aber ganz klar: Nicht jeder bekommt diesen Ring zugesandt! Dieser Verzicht könne, ohne die richtige spirituelle Reife, zu Depressionen und psychischen Störungen führen!

Eine Freundin, die, wie sie sagt, hunderte Liebaher hatte, vertritt verrückterweise eine ganz ähnliche Philosophie, was sich beim Sex abpielt, wird als Meditationsobjekt aufgefasst. Die Ejakulation in der Frau sei ohnehin zu vermeiden, weil sich darin Jahrhunderte der Unterdückung der Frau wiederholten. Kommt die Frau zum Orgasmus (dem "äußerlichen", den der Mann vermeidet), könne diese Energie vom Mann aufgenommen werden. Im Zentrum stehen Zärtlichkeit und der meditative Aspekt. Als nächstes, nach einiger Übung, soll versucht werden, dass beide den (äußerlichen) Orgasmus vermeiden und auf diesem Gipfel auzuharren versuchen. Sie berichet tatsächlich vom "inneren Orgasmus", den sie erlebt haben will, "ich explodierte", ohne dass da großartig was mit konventioneller Sexualität vonstatten gegangen sei (meditativer Aspekt, total verliebt, viel Zärtlichkeit).

Nach den erwähnten "hunderten von Liebhabern", nachdem sie "von allen Seiten des Kelchs getrunken" hatte, so mit 64, könne sie vollkommen auf Sex verzichten. Mit ihrem festen Freund sei aber diese spirituelle Dimension durch reine Zärtlichkeit erhalten geblieben, aber nicht minder intensiv.

Was also jene spirituell reifen, katholisch verlobten Paare vor der Ehe praktizieren - um dahin zu kommen, hat sie über 40 Jahre keine Gelegenheit ausgelassen, Sex zu haben mit bestimmten Männern.

Übrigens, beim Zurückhalten des "äußeren Orgasmus" (für Männchen der Ejakulation) kommt es natürlich mehr darauf an, die Position des "reinen Beobachters" beizubehalten, also ohne zu bewerten zu beobachten, als sich Vorwürfe zu machen, wenn´s mal nicht klappt.

Die unterschielichen Varianten, sexuelle Enthaltsamkeit aus verirrten Motiven heraus, oder anders, Sex als pornographischer Ego-Trip, scheinen mir gleichermaßen traurig.

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Das ist zwar durchaus sehr interessant, hat aber mit dem Thema um das es hier geht nichts zu tun.

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o.k., kein probelm, das sind nur die Erfahrungen, von denen mir aus unterscchiedlichen Quellen (einmal Kath.-TV, einmal Sannyas-Bewegung) berichtet wurden. Nur als vage Andeutung, was sich in der Empirie noch so tut.

Können wir wirklich aus irgendeiner Ecke Bewertungsstandarts formuliren, die eingehalten werden sollten, oder sollten wir uns nicht einem solchen Meinugsverbot von vorneherein verwehren?

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Meinungen sind zunächst mal einfach offen. Das Thema an dem ich mich abarbeite ist allerdings das Umschwenken der Sexualmoral von libertär-hedonistisch zu regressiv-repressiv im linken-linksliberalen Spektrum als Entwicklung über Jahrzehnte hinweg, nicht der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität generell.

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vielleicht gehe ich da ja in die Irre, aber im Prinzip scheinst du mir eher ja die Libertinage zu vertreten, bedaulerlich dann mehr die "regressiv-repressive" Variante. Ich sehe hier nicht direkt, wie du nicht Sexualität als Bewertungsgröße ins Spiel bringst, und lese deine Berichte über jenen Umschwank im linken-liberatalem Spektrum als Berichte über einen vermeidbar gewesenen Umschwenk ins Sektierrertum. Je schlimmer dieses Sektierertum ausfällt, desto krasser an der Sexualmoral abzulesen, denn effektiver kannst du niemanden unterdrücken als an dieser "Wurzel".

Als "Auswege" habe ich hier nur zwei weitere Sekten vorgestellt, die katholische und die baghwanistische. Beide können in der Konsequnz zu schweren psychschen Störungen führen.

("Sekten" im hier gemeiten Sinne, es gab den Freispurch, Osho habe eine "Jugendsekte" betrieben, und ich glaube an die apostolische Folge.)

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Das stimmt teilweise und teilweise auch nicht. Ich verrtrete voll und ganz die Libertinage und leide darunter dass es die regressiv-repressive Richtung überhaupt gibt und sich immer mehr durchzusetzen scheint. Ob Sektierertum die Richtung ist in die der Schwenk geht weiß ich nicht so genau, ich sehe da eigentlich eher eine verdeckte Anpassung an den Mainstream. Die Beschreibungen der Sekten die Du brachtest haben nichtdestotrotz Aussagekraft, wobei Bhagwan/Osho ja durchaus noch in das Kontinuum gehört mit dem ich mich beschäftige, die katholische Kirche hinggegen nicht. Hierzu später mehr, bin noch sehr mit alpinistischen Dingen beschäftigt.

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