Montag, 17. Januar 2022
Kein Risikofaktor ist annähernd so stark mit Multipler Sklerose assoziiert wie EBV Wäre eine Impfung die Lösung?
Dr. Bianca Bach, Medscape



Ließe sich einer Multiplen Sklerose (MS) wirksam vorbeugen, wenn es gelänge, Infektionen mit dem weit verbreiteten Epstein-Barr-Virus (EBV) vorzubeugen? Diese Frage ergibt sich aus den Erkenntnissen einer neuen Studie [1]. Ihr zufolge ist eine EBV-Infektion wahrscheinlich die Hauptursache für die chronisch-entzündliche demyelinisierende Erkrankung des zentralen Nervensystems.

Ein Forscher-Team um Dr. Kjetil Bjornevik, Ernährungsmedizin, Harvard T. H. Chan School of Public Health, Boston, USA, hat in Science 20-Jahres-Daten einer Kohorte von mehr als 10 Millionen jungen Erwachsenen im US-Militärdienst vorgelegt. Demnach ist das MS-Risiko nach EBV-Infektion um das 32-fache erhöht.

Methodisch robuste Ergebnisse
?So ein hohes Risiko kennt man zum Beispiel für Rauchen und Lungenkrebs?, so Prof. Dr. Henri-Jacques Delecluse. Der Leiter der Arbeitsgruppe Pathogenese infektionsbedingter Tumoren, Deutsches Krebsforschungszentrum, Heidelberg, hält die Untersuchung für ?die bis jetzt überzeugendste Studie auf dem Gebiet?.

Auch Prof. Dr. Wolfgang Hammerschmidt, den Leiter der Gruppe Genvektoren, Helmholtz Zentrum München ? Deutsches Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, München, und Mitglied des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF), überzeugt die Qualität der Studie: ?Meiner Einschätzung nach ist das eine epidemiologische Studie mit idealer Kohorte, sehr guter Datenlage der Studienteilnehmer und bester Methodik. Die Zahl der Studienteilnehmer ist extrem hoch, was die statistischen Aussagen stützt und sehr robust macht.?

Über 10 Millionen Rekruten eingeschlossen
Um die Daten zum EBV-Status zu gewinnen, machten sich die Forscher zunutze, dass das US-Militär jeden zu Beginn des aktiven Dienstes auf HIV screent, und dass auch Serum-Proben, die im Verlauf entnommen werden, aufbewahrt werden. Das ermöglichte nachträgliche Analysen.

Die meisten der über 10 Millionen Teilnehmer waren bei der ersten Blutentnahme jünger als 20 Jahre. Insgesamt entwickelten 955 der zwischen 1993 und 2013 aktiven Rekruten in dieser Zeit eine MS ? im Median 10 Jahre nach der ersten Blutentnahme.


Bei jedem Teilnehmer mit MS wurden bis zu drei Blutproben herangezogen: die älteste vorhandene, die letzte vor Beginn der MS und eine dazwischen.

Die Befunde wurden mit denen von jeweils 2 Kontroll-Teilnehmern mit ähnlichen Charakteristika verglichen. Berücksichtigt wurden Alter, Geschlecht, Ethnizität, Beschäftigungszweig im Militärdienst und Zeitpunkt der Blutabnahme. Ausreichend Proben für den Vergleich hatte man für 801 an MS Erkrankte und 1566 Kontrollen.

MS-Manifestation im Median 7,5 Jahre nach EBV-Serokonversion
Zu Studienbeginn waren 35 der späteren MS-Patienten und 107 Kontrollen noch EBV-negativ. Bis auf einen einzigen der 35 anfangs seronegativen MS-Patienten infizierten sich im Verlauf alle, und alle Infizierten serokonvertierten vor Beginn der MS.

Menschen, die später eine MS entwickelten, hatten mit 97% im Vergleich zu 57% eine deutlich höhere Serokonversionsrate als die, die keine MS bekamen. Nach dem ersten positiven EBV-Test vergingen bis zu 10, im Median 5 Jahre, bis zur Manifestation der MS. Der Zeitpunkt der Serokonversion wurde geschätzt, als Zeitpunkt in der Mitte zwischen dem letzten negativen und ersten positiven Test. So vergingen 2 bis 15 und im Median 7,5 Jahre zwischen Serokonversion und Manifestation der MS.

Biomarker für Nervenschaden steigt erst nach Serokonversion
?Eine interessante neue Erkenntnis der Studie ist, dass die Blutspiegel des Neurofilament-light-chain-Proteins, einem Biomarker für neuroaxonalen Schaden, bei Personen, die im Anschluss an eine EBV-Infektion eine MS entwickeln, vor dem ersten klinischem Ausbruch der MS steigen?, sagt Prof. Dr. Klemens Ruprecht, Oberarzt, Leiter der Multiple Sklerose Ambulanz, Neurologie, Charité-Universitätsmedizin Berlin.

Dabei stiegen die Neurofilament-Leichtketten, deren Nachweis im Serum einer MS um bis zu 6 Jahre vorausgehen kann, erst nach der EBV-Serokonversion an. Bis dahin unterschieden sich die Werte bei später an MS-Erkrankten nicht von gesunden Kontrollen.

Laut Ruprecht ?bedeuten diese neuen Befunde, dass eine EBV-Infektion nicht nur dem klinischen Ausbruch, sondern auch den ersten pathologischen Veränderungen einer sich entwickelnden MS vorangeht.?

Kausalzusammenhang gesichert?
Das EB-Virus galt schon länger als Top-Verdächtiger unter möglichen MS-Triggern. Ein erhöhtes MS-Risiko nach infektiöser Mononukleose war bekannt. Auch wurden bei MS-Patienten erhöhte Antikörper gegen EBV-Kernantigene (EBNA) nachgewiesen und mitunter EBV in Demyelinisierungsherden.

Die aktuelle Arbeit liefert weitere überzeugende Argumente dafür, dass der Zusammenhang zwischen EBV und MS tatsächlich kausal ist. Prof. Dr. Klemens Ruprecht
?Die aktuelle Arbeit liefert weitere überzeugende Argumente dafür, dass der Zusammenhang zwischen EBV und MS tatsächlich kausal ist, das heißt, dass eine MS praktisch nie ohne eine vorherige EBV-Infektion entsteht?, so Ruprecht. Die Infektion erscheint gewissermaßen als notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer MS.

Doch bekommt längst nicht jeder EBV-Infizierte eine MS: Während die EBV-Durchseuchung bei Erwachsenen bei etwa 95% liegt, ist MS eher selten. Hammerschmid verweist darauf, dass die Studie auf EBV-Serokonversion beruhe, aber nicht zwischen klinisch stummer Infektion und manifestem Pfeiffer´schen Drüsenfieber unterscheide. ?Es ist bekannt, dass eine infektiöse Mononukleose das Risiko, an MS zu erkranken, weiter erhöht.?

Zusammenspiel multipler Risikofaktoren
Prof. Dr. Roland Martin, Gruppenleiter Neuroimmunologie und Multiple Sklerose, Universitätsspital Zürich, Schweiz, geht die Schlussfolgerung, EBV als Hauptursache für MS anzusehen, ?etwas zu weit?. Er verweist auf die komplexe genetische Prädisposition, an der außer einem HLA-DR15-Haplotyp über 230 andere Gene beteiligt sein könnten, sowie auf weitere Umweltfaktoren wie niedriges Vitamin D, Rauchen, Fettleibigkeit im späten Kindes- beziehungsweise frühen Erwachsenenalter, Schichtarbeit beziehungsweise ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus in diesem Alter sowie bestimmte Darmbakterien. ?Ob nun das EBV der wichtigste Umweltfaktor ist oder einer unter mehreren, kann die Studie meines Erachtens nicht abschließend klären.?

klären. Prof. Dr. Roland Martint
?Diese Ergebnisse können nicht durch irgendeinen bekannten MS-Risikofaktor erklärt werden?, schreiben hingegen die Autoren. ?Um ein um das 32-fache erhöhtes MS-Risiko zu erklären, müsste jeglicher Störfaktor ein über 60-fach erhöhtes Risiko einer EBV-Serokonversion und ein über 60-fach erhöhtes MS-Risiko mit sich bringen. Keiner der bekannten oder verdächtigten MS-Risikofaktoren hat solch starke Assoziationen.?

Diese Ergebnisse können nicht durch irgendeinen bekannten MS-Risikofaktor erklärt werden. Dr. Kjetil Bjornevik und Kollegen
Selbst ein homozygotes HLA-DR15-Allel ? der sonst stärkste bekannte MS-Risikofaktor ? erhöhe das MS-Risiko nur 3-fach. Und mit dem Nachweis von Antikörpern gegen EBV ist er nicht assoziiert.

MS-Prophylaxe durch Vermeidung von EBV-Infektionen?
?Die Studie zeigt, dass sich ohne EBV MS fast nicht entwickeln kann?, so Delecluse. ?Wenn es gelänge, einer EBV-Infektion komplett vorzubeugen, sollte entsprechend die Frequenz von MS fallen.?

Wäre also etwa eine Impfung gegen EBV die Lösung? Entsprechende zugelassene Vakzine gibt es bisher nicht. Viele Wissenschaftler, auch Hammerschmidt, halten es derzeit für unwahrscheinlich, einen ?EBV-Impfstoff mit solchen überragenden Eigenschaften? zu entwickeln. ?Realistisch ist es, einen Impfstoff mit der Indikation ?infektiöse Mononukleose? zu entwickeln, der das zusätzliche Risiko einer infektiösen Mononukleose-Erkrankung bei der Entstehung von MS ausschaltet.?

Entscheidend wäre der Impf-Zeitpunkt. ?Eine Impfung gegen EBV im frühen Kindesalter oder auch später, das heißt solange man EBV negativ ist, wäre sehr sinnvoll, solange sie die Infektion wirksam verhindert?, so Martin.

Ist man erst infiziert, persistiert das Virus lebenslang latent in B-Lymphozyten. ?Interessanterweise haben sich Behandlungen, welche die Anzahl von B-Zellen im Blut verringern, als sehr wirksame Therapien bei der MS erwiesen?, bemerkt Ruprecht. ?Es ist also denkbar, dass die Wirksamkeit dieser Therapien mit der Tatsache in Verbindung steht, dass EBV spezifisch B-Zellen infiziert.?

Die zentrale Frage lautet somit nicht ob, sondern wie EBV an der Entwicklung einer MS beteiligt ist. Prof. Dr. Klemens Ruprecht
Delecluse spricht sich dafür aus, zu erforschen, ob man solche Antikörpertherapien womöglich so modifizieren könnte, dass nicht alle, sondern nur EBV-infizierte B-Zellen beseitigt werden.

Ruprecht sieht jetzt vor allem Forschungsbedarf im Hinblick auf die genauen Pathomechanismen: ?Die zentrale Frage lautet somit nicht ob, sondern wie EBV an der Entwicklung einer MS beteiligt ist.?

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