Montag, 2. Mai 2022
Keine gesundheitliche Absolution: Welche Fallstricke bei vegetarischer und veganer Ernährung lauern
Dr. Thomas Kron

Vegetarische oder sogar vegane Ernährung soll unter Mädchen und jungen Frauen besonders beliebt sein. Doch anders als manche Menschen glauben, ist vor allem vegane Kost nicht automatisch gesund. Sie kann als Folge der eingeschränkten Lebensmittelauswahl zu Nährstoffdefiziten führen, die klinisch relevante Symptome verursachen können, wenn sie nicht ausgeglichen werden sollten.

Zu achten ist unter anderem auf die ausreichende Versorgung mit Vitamin B12 und B6 sowie Vitamin D, erläutert die Diplom-Oecotrophologin Dr. Bettina Dörr aus München.

Vom Ovolactovegetarier über Puddingvegetarier bis zu Orthorektikern
Bei den vegetarischen Ernährungsformen werden nach Angaben von Dörr folgende Hauptgruppen unterschieden:

Ovolactovegetarier: Verzicht auf Fleisch und Fisch

Ovovegetarier: Verzicht auf Fleisch, Fisch und Milch

Lactovegetarier: Verzicht Fleisch, Fisch und Eier

Veganer: Verzicht auf Fleisch, Fisch, Eier, Milch, (Honig)

Vegane Rohköstler: Verzicht auf Fleisch, Fisch, Eier, Milch, (Honig) sowie erhitzte Nahrung

Außerdem gebe es mehrere kleinere Gruppierungen:

Frutarier: Sie wollen sich ausschließlich mit pflanzlichen Produkten ernähren, die nicht die Beschädigung der Pflanze selbst zur Folge haben (Äpfel und Nüsse etwa, aber nicht Karotten oder Kartoffeln).

Pescetarier: Sie verzichten auf Fleisch, essen jedoch Fisch oder Meeresfrüchte.

Puddingvegetarier: Sie meiden zwar Fleisch und Fisch, achten laut Dörr jedoch nicht besonders auf ihre Ernährung und essen zum Beispiel übermäßig viel Fertigprodukte und Süßigkeiten.

Flexitarier: Sie legen Wert auf eine ausgewogene Ernährung, essen Fleisch oder Fisch allerdings nur in Maßen und auch nicht besonders oft.

Orthorektiker: Sie zwingen sich zu einer gesunden Ernährung und haben Angst, durch ungesunde Ernährung krank zu werden. Wie die Ernährungswissenschaftlerin weiter erklärt, definieren Orthorektiker selbst, was für sie als gesund gilt: Während einige auf einzelne Lebensmittel (z. B. kein Haushaltszucker) verzichten, streichen andere ganze Lebensmittelgruppen und essen nur noch Rohkost. Ebenso könnten bestimmte Zubereitungsarten oder fixe Zeitpläne für dieMahlzeiten das zwanghafte Verhalten prägen. Unter den Orthorektikern befänden sich überwiegend jüngere Frauen. Eine Studie an der Universität Göttingen belege, dass vor allem sportlich aktive Frauen ? insbesondere Intensivsportlerinnen ? ein orthorektisches Verhalten zeigten. Mittlerweile gebe es auch Kinder, die von Orthorexie betroffen seien, wenn sich ihre Eltern entsprechend ernährten.

Kritische Nährstoffe bei veganer Ernährung
Wer sich vegan ernährt, kann laut Dörr durchaus genügend kritische Nährstoffe auch mit pflanzlichen Lebensmitteln aufnehmen. Voraussetzung sei ein gutes Wissen zu Lebensmitteln und Nährstoffen. Allerdings komme es immer häufiger vor, dass Lebensmittel ?einfach weggelassen? würden, ohne sich mit den Folgen auseinanderzusetzen, ein Aspekt, der bei der ärztlichen Beratung berücksichtigt werden sollte.


Zu den wichtigen Nährstoffen in diesem Zusammenhang zählen Proteine, Vitamine B6 und B12 sowie Vitamin D.

Proteine

Mädchen brauchen pro Kg Körpergewicht täglich 0,9 g Proteine, bei einem Körpergewicht von 60 kg sind dies demnach 54 g. Beispiele dafür, wie der tägliche Proteinbedarf bei einem Körpergewicht von 60 kg durch vegane Lebensmittel gedeckt werden könnte: 54 g Protein sind laut Dörr enthalten in

300 g Tofu

350 g gekochten Sojabohnen

350 g Haselnüssen

750 g Vollkornbrot (15 Scheiben à 50 g)

750 g gekochte Linsen und

1 kg weiße Bohnen

Vitamin B6

Vitamin B6 (Pyridoxin) hat, wie Dörr erläutert, mehrere Funktionen im Stoffwechsel, vor allem sei es bei der Verstoffwechselung von Aminosäuren und in neurologischer Hinsicht von Bedeutung. Bei Mädchen sei zudem die Bedeutung im Hormonstoffwechsel zu beachten. Es gebe Daten, nach denen etwa 14% der Mädchen im Alter von 14?18 Jahren weniger Vitamin B6 aufnehmen als empfohlen.

Bei Veganern komme es zu einem hoher Prozentsatz zu einer unzureichenden Versorgung, da das Vitamin B6 in einer schlecht verfügbaren Form in pflanzlichen Lebensmitteln vorkomme.

Hinzu komme bei Mädchen der Faktor ?Einnahme oraler Kontrazeptiva?. So gebe es Anhaltspunkte, dass Verwenderinnen östrogenhaltiger oraler Kontrazeptiva niedrige Werte an PLP (Pyridoxal-5-Phosphat, Marker für Vitamin B6) hätten. Da PLP- abhängige Enzyme auch für die Synthese von Hormonen wie Serotonin essenziell seien, könnten Symptome wie depressive Verstimmungen, erhöhte Reizbarkeit, Nervosität und Libidoverlust auch auf eine Unterversorgung mit Vitamin B6 hindeuten.

Der tägliche Bedarf von Mädchen liege bei 1,4 mg und könne beispielsweise folgendermaßen gedeckt werden:

200 g Haselnüsse

200 g Walnüsse

400 g Bananen (2?3 Stück, je nach Gewicht)

700 g gekochte grüne Bohnen

1 kg gekochte Kartoffeln und

1,4 kg Haferflocken.

Vitamin B12

Da in pflanzlichen Lebensmitteln kein Vitamin B12 enthalten ist, kommt es bei lang andauernder veganer Ernährung ohne Supplementierung zu Mangelerscheinungen. Bei den verschiedenen Produkten, die zur Nahrungsergänzung angeboten werden, sollte berücksichtigt werden, dass die Verwertung von Vitamin B12 aus pflanzlichen Quellen wie Algen oder Pilzen nicht unbedingt gegeben ist. Eine sorgfältige Auswahl und eine regelmäßige Überwachung des B12-Status sind empfehlenswert.

Vitamin D

In den letzten Jahren hat laut Dörr die Evidenz dafür zugenommen, dass Vitamin D nicht nur für den Knochen, sondern auch für zahlreiche andere Stoffwechselvorgänge von entscheidender Bedeutung ist. Fakt sei, dass Lebensmittel kaum in der Lage seien, bei der Einhaltung verzehrsüblicher Mengen, den Vitamin-D-Bedarf zu decken.

Vegane Lebensmittel könnten keinen Beitrag zur Vitamin-D-Zufuhr leisten, da nennenswerte Mengen lediglich in tierischen Lebensmitteln enthalten seien. Die Entscheidung zur Supplementierung bzw. zur notwendigen Höhe sollte in Abhängigkeit vom Status fallen.

Mineralstoffe

Zu den Mineralstoffen, die bei rein pflanzlicher Ernährung schnell in nicht ausreichender Menge zur Verfügung stehen, zählen Kalzium, Jod, Eisen, Selen und Zink. Dies hänge damit zusammen, dass pflanzliche Lebensmittel in der Regel geringere Mengen enthielten als tierische Lebensmittel und zudem die Mineralstoffe aus pflanzlichen Quellen schlechter bioverfügbar seien.

Derzeit mehren sich laut Dörr die Hinweise, dass eine vegane Ernährung negative Auswirkungen auf die Knochengesundheit haben kann. Dies zeige unter anderen eine aktuelle Querschnittsstudie, in der Ultraschallmessungen am Fersenbein vorgenommen sowie Biomarker in Blut und Urin bestimmt wurden. Hauptergebnis: Menschen, die sich vegan ernährten, hatten im Vergleich zu Mischköstlern durchschnittlich niedrigere Ultraschallwerte.

Darüber hinaus habe die Auswertung der DPIC (European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition-)Studie aus Großbritannien mit knapp 55.000 Personen ergeben, dass Veganer im Vergleich zu Fleischessern ein um 43% höheres Risiko für Frakturen hatten.

Ein wichtiger Nährstoff, insbesondere für die Zellentwicklung, ist auch Cholin, der, wie Dörr erklärt, hauptsächlich über Eier, Fisch, Fleisch und Milch aufgenommen werden kann. Es gebe zunehmend Hinweise darauf, dass eine vegane Ernährung keine ausreichenden Mengen an Cholin liefern könne, insbesondere wenn der Bedarf steige, beispielsweise in Schwangerschaft und Stillzeit.

Es verstärkten sich Hinweise, dass Frauen mit Kinderwunsch zur Vorbeugung von Neuralrohrdefekten und zur günstigen Entwicklung des Feten nicht nur von einer ausreichenden Folatzufuhr profitierten, sondern auch von ausreichende Mengen an Cholin (Empfehlung für Schwangere: 480 mg pro Tag).

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de .

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