Mittwoch, 29. Juli 2009
Euckens enger Blickwinkel
Es steht ja noch aus, hier einige Positionen des Nationalökonomen Walter Eucken zu kommentieren. Nicht, weil die Standpunkte dieses Theoretikers und Vordenkers der Sozialen Marktwirtschaft heute noch sehr aktuell wären (tatsächlich müssten sie eher vor dem Vergessen bewahrt werden), sondern, weil sich an ihnen viele Denkfehler des deutschen Linksliberalismus festmachen lassen (ich sage bewusst, des deutschen, denn einen Rorty oder Russell müsste man an einem ganz anderen Leisten messen). Es ist diese Selbstbeschränktheit, diese mangelnde Bereitschaft zu tiefergehender Analyse, die dem deutschen Linksliberalismus geradezu wesenseigen zu sein scheint und ihn daher bezüglich politischer Handlungsmöglichkeiten und soziökonomischer Entwicklungsperspektiven dem Illusionären verhaftet bleiben lässt.


Also, medias in res:

"1. Was heißt Markt? Markt ist eine universale, menschliche Lebensform. Auf ihm werden Leistungen und Produkte zwischen Menschen getauscht. Märkte sind nicht etwa eine Erscheinung des so genannten "Kapitalismus", es hat sie, wie die Geschichte lehrt, zu allen Zeiten gegeben, und sogar in den Ländern zentralverwaltungswirtschaftlicher Lenkung setzen sie sich bis zu einem gewissen Grade immer wieder durch, und sei es in der Form des Schwarzmarktes. (...) Gleichwohl bestehen zwischen Sachgütern und Arbeitsmärkten Unterschiede, die zu beachten sind. Arbeit ist keine Ware. (...) Die Frage ist nicht: Arbeitsmärkte oder keine Arbeitsmärkte, sondern: Welches ist ihre richtige Form? Worum es geht, das ist, den Arbeitsmarkt menschenwürdig zu gestalten." ----- Im Kapitalismus, in dem das Gesetz der Kapitalverwertung das Grundprinzip jeder wirtschaftlichen Bewegung und Entwicklung darstellt, sind Märkte zwangsläufig anders organisiert und unterliegen anderen Gesetzmäßigkeiten als Märkte in anderen historischen Epochen. Zur "universalen, menschlichenLebensform", die Märkte darstellen könnten ansonsten auch antike Sklavenmärkte gerechnet werden. Abzustreiten, dass Arbeit eine Ware ist klingt mir wie ein Schönreden nicht so schöner Verhältnisse, als sei das verbale Betonen der Tatsache, dass die lohnabhängig Beschäftigten eine Menschenwürde und Interessen haben schon ihre Befreiung, genauer: als seien sie schon frei, weil sie gar nicht dem Diktat, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen zu müssen unterliegen würden.

"2. Die Frage nach dem Wesen der Wirtschaft oder des "Kapitalismus" oder der "Krise des Kapitalismus" darf nicht am Anfang [ökonomischer Analyse der Verhältnisse] stehen. Damit gerät die Wissenschaft in Tiefsinn und Spekulation hinein und verliert (...) die wirkliche Wirtschaft aus dem Auge.

Die Flucht in den personifizierten Allgemeinbegriff "Kapitalismus" ersetzt die echte Untersuchung der Wirklichkeit. Beispiel: Jemand stellt die Frage, warum die Vernichtung von Weizen, Kaffee und anderen Lebensmitteln, die in Kanada, Brasilien und anderen Ländern vorgenommen wurde, geschah. Er erklärt, so handle eben der "Kapitalismus" und meint, damit sei die Frage beantwortet. Das ist sehr bequem; aber in Wahrheit ist überhaupt nichts geklärt.



3. Man glaubt mit solchen Schilderungen von den Taten des "Kapitalismus" modern zu sein und ist in Wahrheit in magisches Denken zurückgefallen. Es ist der alte Fehler des extremen Begriffsrealismus, der uns hier wiederum begegnet. - Nach zwei Seiten hin hat der Gebrauch des Begriffs "Kapitalismus" außerdem Schaden angerichtet:

Er erschwert geschichtliches Verstehen oder macht es unmöglich. (...) Der Kapitalismus führt in den den Augen dieser Betrachter nach seiner Geburt seine eigenen Existenz. Dass stets und in jedem Augenblick das wirtschaftliche Leben - und damit auch die Industrialisierung - ein Teil des geschichtlichen Gesamthergangs ist, mit dem es in fortwährender Wechselwirkung steht, und dass und wie es mit allen übrigen Lebensäußerungen der [Gesellschaften] dauernd Berührung hat, wird nicht gesehen. Die Figur des Kapitalismus mit ihrer Entwicklung vom Früh- zum Spätkapitalismus wird zum deus ex machina (...). Offen zutage liegende, wesentliche, geschichtliche Zusammenhänge werden [so] übersehen: (...) die französische Revolution, die außenpolitischen Umwälzungen und die innere Umformung der Staaten, die ihr folgten, auch die Wirtschafsstruktur Europas veränderten, dass der Krieg 1914-18, die folgenden Friedensschlüsse und Revolutionen und der Krieg 1939-45 das wirtschaftliche Leben auch der nächsten Zeit entscheidend bestimmten. War aber im Kapitalismus (...) das wirtschaftliche Geschehen auf das Verhalten dieses Wesens zurückführt, ist solchen gesamtgeschichtlichen Zusammenhängen gegenüber blind (...)

4. Auch weil der Begriff des Kapitalismus über das Ordnungsgefüge der Wirtschaft nichts Bestimmtes aussagt, eignet er sich nicht zur Bezeichnung wirtschaftlicher Wirklichkeit. Jeder legt in ihn Ordnungsvorstellungen herein, die ihm persönlich passen: Anarchie aller Produktion oder Wettbewerbswirtschaft oder Laissez faire oder Beherrschung des wirtschaftlichen Lebens durch einen von anonymen Kräften beherrschten Wirtschaftsstaat.

5. Wirtschaftliche Machtballungen sind keine Besonderheiten der Neuzeit oder des "Kapitalismus". Sie gab es vielmehr im Mittelalter und auch sonst in aller Geschichte. Verstehen wirtschaftlicher Wirklichkeit in aller Vergangenheit und in der Gegenwart und wahrscheinlich in aller Zukunft erfordert daher Verstehen wirtschaftlicher Macht und zugleich Durchschauen der auffallend gleichförmigen Kampfmethoden wirtschaftlicher Machtgruppen."


------ Jeder Versuch, die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus mit wissenschaftlicher Methodik zu durchdringen und verstehen zu wollen wird hiermit eher desavouiert als befördert. Die geschilderten historischen Prozesse werden von der Geschichtswissenschaft ja tatsächlich als Faktoren verfolt und mit der Entwicklung des Kapitalismus in Zusammenhang gebracht, zu Lebzeiten Euckens allerdings nun gerade nicht von der deutschen Historiographie. Darauf zu verweisen, dass wirtschaftliche Macht auch in anderen historischen Epochen und Eigentumsordnungen als dem Kapitalismus stattgefunden hat ist eine Binsenweisheit, die zu nichts führt. Die Frage der Macht könnte sich natürlich auch völlig anders, z.B. mit Foucault stellen lassen,das wäre allerdings eine heutige, damals noch nicht denkbare Sichweise. Eucken aber meinte damit seinerzeit ein voluntaristisches, an unmittelbar handelnden Fraktionen orientiertes Verständnis, das ohne historisch-ökonomische Gesetzmäßigkeiten auskommt. Dies ist nicht nur ein Rückfall sowohl hinter Marx als auch Max Weber, sondern selbst hinter Ricardo.

"6. Die Prognosen von Marx haben sich gerade in wesentlichen Zügen nicht als richtig erweisen. Die Verelendung der Massen, die er kommen sah, ist nicht eingetreten. Vielmehr hat sich in der Zeit der Industrialisierung das Realeinkommen der breiten Schichten stärker gehoben als je zuvor. Und auch der Konzentrationsprozess ist anders vor sich gegangen, als Marx dachte." ------

Diese Passage ist ebenso ärgerlich wie dumm. Erstens sprach Marx weniger von einer Verelendung der Massen an sich, sondern vielmehr von einer Polarisation des Klassenwiderspruchs. Diese kann sich entlang der Achse Reiche werden reicher - Arme werden ärmer abspielen, muss es aber nicht zwangsläufig. Entscheidend für die Entwicklung des Kapitalismus seit Marx war die immer weiterreichende Durchkapitalisierung sozialer Reproduktionsbereiche, die zur Zeit der Industrialisierung noch nicht kapitalistisch und somit wertschöpferisch organisiert waren, zumindest nicht konsequent. Kulturindustrie, Gesundheitswesen, Altenpflege, die allgemeine enorme Ausweitung des Dienstleistungssektors bis hin zur Pornoindustrie wären hier zu erwähnen: Bereiche, die bis dato eine relative Autonomie von den Verwertungsmechanismen kapitalistischer Märkte hatten und teilweise noch über Subsistenz- und Familienstrukturen geregelt wurden, wurden erst in Wert gesetzt und dann kräftig effizienzgesteigert. Damit wurden umfangreiche Sektoren des menschlichen Lebens, die zu Marxens Zeiten noch nicht der Kapitalsphäre angehörten von dieser kolonisiert - ein schlagendes Beispiel für die Polarisation des Klasssenwiderspruchs. Die Macht der herrschenden Klasse wurde hiermit nicht nur multipliziert, sondern potenziert, zugleich schuf sie die Voraussetzungen für eine Individuation, die Klassenlage zunehmend nicht mehr fühlbar werden lässt.

Dann: Die Armut ist ja nicht weniger geworden, sie wurde ausgelagert. Mit der Vernutzung der trikontinentalen Armut, die mit jeder ausgelagerten Billigproduktion, jedem Bezug billiger Rohstoffe aus Ländern, die außer Rohstoffen nichts anzubieten haben einhergeht, vor allem aber auch der Entwicklungspolitik in den armen Ländern, die dort enorme Vermögenswerte schuf, zugleich aber hunderte Millionen Menschen entwurzelte und ins existenzielle Elend stürzte wurde der Wohlstand der Arbeiterklasse in den Metropolen subventioniert. Wir profitieren von dieser Welt(un)ordnung jedes Mal, wenn wir Baumwollkleidung tragen, Kaffee trinken oder Gummi benutzen. Jeder bettelnde Obdachlose vor dem Lidl-Markt ist noch Profiteur des durch kapitalistische Entwicklung geschaffenen Welthungers.

btw. übrigens hatte Marx auch nicht exklusiv verkündet, dass die finale Krise des Kapitalismus bzw. die Intransigenz des Klassenwiderspruchs nun exklusiv bis zu Euckens Lebzeiten eintreten müsste.



Insgesamt betrachtet, erscheinen mir die Ausführungen Euckens wie ein Schönreden historisch gegebener Verhältnisse, um ohne Selbstzweifel innerhalb des Systems weiterwursteln zu können. Wobei ein angstfreies Weiterwursteln hinsichtlich menschlich korrekter Verhaltensweisen und sozialer Halbwegs-Gerechtigkeit bei aller historischen Inkonsistenz und Selbstwidersprüchlichkeit vielleicht nicht einmal das Schlechteste ist. [Einschub: Das etwa würde auch den Sozialstaat der 70er und 80er Jahre gegenüber Kapitalismuskritik einerseits und den zunehmend marktenthemmten Verhältnissen heute andererseits kennzeichnen. Dazu passt ja, dass Eucken einer der Vordenker dieses Sozialstaats war]

Aber es kann den Blick über den Tellerrand und die Systemkritik nicht ersetzen, und eine Fixierung auf die Perspektive des Weiterwurstelns blockiert den Blick fürs Wesentliche sogar ganz.

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Verelendungstheorie
Sofern die hier vorgestellten Zitate repräsentativ sind, erstaunt mich zunächst mal, wie naiv Eucken kapitalistische Spezifika in vorkapitalistische Zeiten überträgt. Kein Wunder, dass er dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Natürlich hat es z.B. Märkte nicht zu allen Zeiten gegeben, nicht jeder Austausch ist ja gleich ein Markt. Aber selbst wenn: Kennzeichnend für den Kaptalismus ist ja nicht einfach die Existenz von Märkten, sondern ihre allumfassende Stellung als Distributionssystem für Güter und Dienstleistungen - die hatten sie nämlich in vorkapitalistischen Gesellschaften nicht.

Zur Verelendungstheorie: Die hat sich m.E. tatsächlich als falsch erwiesen und lässt sich in Reinform auch nicht retten, obwohl ihre Grundgedanken nicht falsch sind - es blieben nur wichtige Fatoren unberücksichtigt, von denen Marx aber größtenteils nichts wissen konnte. Was Eucken dazu sagt, ist aber erst recht oberflächlicher Unfug.

Der Arbeiterwohlstand in den Industrienationen verdankt sich IMHO zum einen dem Erfolg der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, zum anderen der mit dieser verzahnten revolutionären Arbeiterbewegung, die spätestens seit 1917 zur realen Gefahr für die kapitalistischen Staaten wurde und eine Integration der Arbeiterklasse auch von staatlicher Seite als wünschenswert erscheinen ließ. Dass Marx in seinen Grundthesen trotzdem richtig lag, zeigt sich immer dort, wo es keine starke Arbeiterorganisation gibt: Dort verelenden die Arbeiter dann tatsächlich.

Mit der These von der Auslagerung der Armut auf den Trikont hab ich auch meine Schwierigkeiten. In mancher Hinsicht stimmt das zwar, etwa dort, wo die Produktion ausgelagert wird, um den durch Arbeitskampf und Sozialstaat verursachten hohen Arbeitskosten zu entgehen. Aber ein wesentlicher Teil des Trikont-Elends ist ja dadurch verursacht, dass die Menschen eben nicht ausgebeutet werden, weil dafür halt kein Bedarf besteht, sie aber dem Weltmarkt trotzdem ausgeliefert sind. Ihre bisherige Ökonomie wird durch Formen ursprünglicher Akkumulation zerstört (s. http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,638435,00.html), aber ob sie später als Proletariat Verwendung finden, ist mehr als fraglich.

Wenn Eucken aber schreibt: "Vielmehr hat sich in der Zeit der Industrialisierung das Realeinkommen der breiten Schichten stärker gehoben als je zuvor", ist das gleich doppelter Unfug. Einmal, weil es vor dem Kapitalismus ein irgendwie messbares Realeinkommen bei der Masse der Bevölkerung gar nicht gab, von Hebung also keine Rede sein kann, und zum zweiten, weil der Eindruck erweckt wird, als wäre diese Hebung ein automatischer Effekt der Industrialisierung.

Puh, klingt jetzt alles viel gewichtiger und überzeugter, als es eigentlich ist. Eigentlich sind's nur meine beiden Kleinmünzen, mehr nicht.

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PS: Hat Eucken seine aus meiner Sicht abstruse These, Arbeit(skraft) sei im Kapitalismus keine Ware, mal irgendwie begründet? Immerhin hat die Arbeitskraft doch alle Kennzeichen einer Ware: Sie wird frei gehandelt, hat einen Wert, einen Gebrauchswert und einen Preis.

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@ Earendil
Wenn ich meine Eucken-Lektüre richtig rekapituliere, hat Eucken dafür einen für ihn vorrangigen Grund genannt: Die Verpflichtung zur Organisation eines humanen Miteinanders. Der Markt (und auch der Arbeitsmarkt) war für Eucken mitnichten die Erscheinung eines naturgesetzlichen, und mit einfachen Axiomen zu erklärenden Wirkungszusammenhangs im Sinne Hayek/Mises, sondern unabhängig von den Kräften von Nachfrage/Angebot ein Ergebnis staatlicher Rahmensetzung. Es stand für Eucken völlig außer Frage, dass diese Rahmensetzung sich an humanitären Zielen zu orientieren hat, zumal im Bereich Arbeitsmarktes. Eucken, war stark christlich orientiert und von personalistischen Ideen geprägt - für ihn waren Fragestellungen des Arbeitsmarktes vorrangig eine Frage der Menschenwürde - und insofern gab es für Eucken hier eine vorrangige Begründung dafür, warum der Staat in die Arbeitsmärkte einzugreifen hat.

Rüstow sprach in diesem Zusammenhang von "Vitalpolitik" (also: einer Wirtschaftspolitik, die sich den vitalen Interessen der Menschen zu verschreiben hat). Für Eucken war es ganz einfach eine Frage der Ethik. Kein Mensch ist nur ein Mittel.

Ein weiterer Grund, den Eucken anführte, lag in bestimmten Besonderheiten von Arbeitsmärkten.

Im Gegensatz zum Apfel, dem es als Wirtschaftsgut wohl völlig wumpe ist, wenn sein Preis unterhalb seiner Reproduktionsbedingungen fällt, reagieren Not leidende Menschen auf fallende Löhne oft paradox: Sie bieten mehr Arbeit an.

Eucken verwies zudem auf weitere Besonderheiten von Arbeitsmärkten, die für ihn eine Sonderstellung einnahmen.

Meine Meinung dazu: Anhand des Kinderglaubens, dass alle Märkte weitgehend "gleich" funtionieren würden, erkennt man mit Leichtigkeit die Dummköpfe und einseitigen Ideologen unter den Netzliberalen.

Die Vorstellung, Arbeitsmärkte seien "Märkte wie alle anderen auch", ist ein gefährlicher Irrglaube.

Es ist ein Irrglaube, der auch dazu führt bzw. dazu beiträgt, dass politische und wirtschaftliche Entscheider in unsinnigster Verkennung tatsächlich wirkender "Anreize" dem Mitmenschen mit marktwirtschaftlich lackierter Sozialtechnologie entgegen treten - und zwar oft auf eine dehumanisierende Weise.

@ Che
(...)Jeder Versuch, die Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus mit wissenschaftlicher Methodik zu durchdringen und verstehen zu wollen wird hiermit eher desavouiert als befördert.
Che, ich denke, du verkennst, wogegegen genau sich Eucken gerichtet hat. Es stimmt zwar, dass er schon das Wort vom Kapitalismus nicht mochte - das bedeutete aber längst noch nicht (im Gegenteil sogar...), dass er keine kritischen Fragestellungen zu einem marktmäßig organisierten Wirtschaftssystem zulassen wollte.

Das Gegenteil ist richtiger.

Es ging Eucken also nicht darum, Kritik abzulehnen, sondern daran, die Zuschreibung von "wesenhaften Zügen" - und überhaupt die Vorstellung von "dem" Kapitalismus als ein konsistent handelndes und agierendes "Wesen" zu hinterfragen.

Das hat nicht zuletzt damit zu tun, Che, dass für Eucken (der mit seinen geistigen Genossen umfangreiche Kritik an Laissez Faire geübt hat!) eben bestreitet, dass es ein Wesen, eine bestimmte Erscheinungsform von "Kapitalismus" gibt.

Ihn interessiert vielmehr, welche Marktformen realisiert sind, welche Ordnungsformen und Rahmenbedingungen vorhanden sind, welche historischen Voraussetzungen gegeben sind, ob es Vermachtungserscheinungen gibt (z.B. Monopole), und wie sich diese jeweils äußern, wie die Rechtsordnung beschaffen ist...

... und dann erst kann nach Auffassung von Eucken (so allmählich...) eine sinnvolle Analyse und Kritik von marktmäßig verfassten Wirtschaften erfolgen.

Es gibt nicht "einen" Kapitalismus. Eucken rotiert gewiss kotzend im Grab, wenn er sehen würde, wie sich heute Leute auf ihn berufen, die tatsächlich nur Widergänger seiner ideologischen Feinde sind:

Apologeten des Laissez Faire. Sie hat Eucken gehasst - nicht zuletzt deshalb, weil er wusste, welches Leid Laissez Faire-Kapitalismus verursacht, und auch - dafür gibt es allerdings nur Andeutungen in seinen Briefen - weil er meint, dass Vermachtung, Autoritarismus und sogar Faschismus die Folge von Laissez-Faire-Kapitalismus sind.

(man könnte an diesem nicht eben unzentralen Punkt eine überraschende Parallele zwischen Eucken und Adorno feststellen, wenn man mag)

Hier ist also jemand nicht von der antikommunistisch angetriebenen Schreckensvision eines zunächst sozialdemokratischen, dann sozialistischen, und zuletzt brutal totalitären Staates geleitet (wie z. B. der Mises-Trottel), sondern vielmehr zählt zu Euckens Schreckensbild genau das, was Leute wie bei der INSM oder bei den verbissenen "Liberalen" anpreisen: Eine asozial strukturierte Wolfsgesellschaft, bei der die Mehrzahl der Menschen wenigen wirtschaftlich Wohlhabenden zu dienen haben, und ein Wirtschaftssystem, das einseitig auf die Interessen weniger großer Eigentümer gerichtet ist.

Genau davor warnte Eucken.

Er warnt aber auch genauso auch vor den Vermachtungserscheinungen in Zentralplanwirtschaften - genau genommen, warnte er davor stärker. Was man aber, ich denke das ist eine akzeptable Sichtweise, auch als Ergebnis der damaligen historschen Lage und Blockdifferenzen deuten kann.

Oder aber auch als "antibolschewistischen" Rest einer Denkweise, die durchaus einzelne Berührungspunkte zur Wirtschaftsideologie der Nationalsozialisten hat.

(genau genommen ist dies ein ziemlich verwirrendes, und für die Ordoliberalen auch schmerzhaftes Kapitel, der Umstand, dass auch sie nicht nur Widerständler gegen das Dritte Reich reinsten Wassers waren, sondern - zu Teilen - ideologisch mit den Nazis sogar mitgeschwommen sind, und schlimmer noch, als ein akademischer Teilflügel des faschistischen Systems betrachtet werden könnten - wie Ptak in seiner furiosen Schrift belegt)

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Wenn ich meine Eucken-Lektüre richtig rekapituliere, hat Eucken dafür einen für ihn vorrangigen Grund genannt: Die Verpflichtung zur Organisation eines humanen Miteinanders. ... Es stand für Eucken völlig außer Frage, dass diese Rahmensetzung sich an humanitären Zielen zu orientieren hat, zumal im Bereich Arbeitsmarktes.
D.h. wenn Eucken schreibt, die Arbeit sei keine Ware, meint er eigentlich, sie soll keine Ware sein (jedenfalls nicht so richtig). Demnach hat Che recht, wenn er das unter "Schönreden nicht so schöner Verhältnisse" verbucht.

Dass Arbeitsmärkte gewisse Besonderheiten aufweisen, also keine Märkte wie alle anderen sind, ist ja richtig, aber das dürfte Marx auch nicht anders gesehen haben.

Lustig auch, dass Eucken, obwohl er den Warencharakter der Arbeit(skraft) bestreitet, kein Problem mit dem Begriff "Arbeitsmarkt" hat. Was aber handelt man auf Märkten? Waren.
Es ging Eucken also nicht darum, Kritik abzulehnen, sondern daran, die Zuschreibung von "wesenhaften Zügen" - und überhaupt die Vorstellung von "dem" Kapitalismus als ein konsistent handelndes und agierendes "Wesen" zu hinterfragen.
Wer hat denn jemals so eine animistische Kapitalismusvorstellung gepflegt? Das sieht doch eher wie ein Pappkamerad aus...

Scheint mir schon so, dass Eucken da nichts vom Kapitalismus wissen will und mit seinem Blick auf das Einzelne, die "wirkliche Wirtschaft", die großen Linien nicht mehr wahrnimmt. Das meinte ich damit, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Dass der Kapitalismus historisch-geografisch ganz in verschiedenen Formen aufgetreten ist, bestreitet doch niemand. Aber es gibt ja trotzdem gewichtige Gemeinsamkeiten, die die übergeordnete Kategorie sinnvoll machen und den Kapitalismus gleich welcher Form von allen vorkapitalistischen Gesellschaftsformen (oder auch vom Realsozialismus) unterscheiden.

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Ab Wiege bis zur Bahre, die Arbeitskraft bleibt Ware!
Den physiokratischen Ideologietrompeten des Feudalismus war das Grundeigentum die universale, menschliche Lebensform. Dass später der Bürger meint, der „Markt ist eine universale, menschliche Lebensform“ (Eucken), verwundert nicht. Sollte es einmal eine Gesellschaft geben, in der Herrschaft auf dem Besitz von Häkeldeckchen beruht, dann wären Häkeldeckchen „die universale menschliche Lebensform“.
Die Frage, welche der ahistorische Hypostator Eucken nicht stellt: Wenn der Markt die universale, menschliche Lebensform ist, warum stellen die Menschen dies erst jetzt fest, nachdem die universale, menschliche Lebensform schon Jahrtausende existiert? Waren die vorher alle blöd, dass ihnen ihre eigene universale, menschliche Lebensform nicht aufgefallen ist?

Eine eigenständige Theorie der Verelendung gibt es nicht bei Marx. Es gibt allerdings die Analyse, dass der Kapitalismus wachsenden Reichtum und wachsende Armut simultan produziert. Ein gelegentlicher Blick in „Tagesthemen“ oder „Auslandsjournal“ zeigt die empirische Verifikation dieser Hypothese. „Die Armut ist ja nicht weniger geworden, sie wurde ausgelagert“, stellt Che fest. Mittlerweile wird sie wieder eingelagert, ohne von dort zu verschwinden, wohin sie ausgelagert wurde. In den USA wachsen die Pappkartonsiedlungen von aus den Häusern Rausgeflogenen; Hartz 4 ist „die Verelendung der Armen“ (W. Pohrt), denn der Gesetzgeber kennt das Existenzminimum: Die Pfändungsgrenze liegt derzeit bei 990 Euro, H4 liegt fast 300 € darunter.
Wieviel soziopathische Empathiedefizite muß man aufbringen, um Verelendung nicht gelten zu lassen, solange man auf dem Gehsteig nicht über Hungerleichen stolpert?

Die Arbeitskraft muß Ware bleiben – im Kapitalismus

Gewiß, auch ich würde, vor die Wahl gestellt, lieber in Euckens als in Lichtschlags Kapitalismus leben. Ich will Eucken auch gerne zugestehen, dass er ein Paladin der Menschenwürde, ein Titan des Humanitären und der Jesus Christus der Wirtschaftswissenschaft war, aber darauf kommt es nicht an.

Dean schreibt:
„Ein weiterer Grund, den Eucken anführte, lag in bestimmten Besonderheiten von Arbeitsmärkten. Im Gegensatz zum Apfel, dem es als Wirtschaftsgut wohl völlig wumpe ist, wenn sein Preis unterhalb seiner Reproduktionsbedingungen fällt, reagieren Not leidende Menschen auf fallende Löhne oft paradox: Sie bieten mehr Arbeit an.“

Sorry Dean, alles falsch.
Vergleiche sind eine Relation, und bei Relationen müssen die Relata stimmen. Dem Eigentümer des Wirtschaftsgutes Apfel ist die Preisentwicklung seiner Ware genauso wenig egal, wie dem Eigentümer des Wirtschaftsgutes Arbeitskraft. Und auch der Apfelmann kann mit Anbieten von mehr Äpfeln reagieren, um mit der Erhöhung der Verkaufsmenge einen Minderpreis auszugleichen.
Diesen Effekt gab es in den 80ern bei Tropenholz. Nachdem Deutschland, bis dato größter Abnehmer, es verboten hatte, um den Raubbau einzudämmern, fand aber gesteigerter Raubbau statt, da die Anbieter nun zu Tiefstpreisen sich neue internationale Abnehmer erschlossen.

Wir sehen: Markt ist Markt, egal ob da Arbeitskraft oder was auch immer vertickt wird. An dieser Einsicht erkennt man Realisten, wohingegen man „die Dummköpfe und einseitigen Ideologen unter den Netzliberalen“ an dem Glauben erkennt, der Markt erzeuge stets das Gute für alle, wenn man ihn nur lässt.

Dean schreibt: „Die Vorstellung, Arbeitsmärkte seien ‚Märkte wie alle anderen auch’, ist ein gefährlicher Irrglaube.“ Nö, die Tatsache, dass sie es sind, ist bloß Scheiße für die Eigentümer der Ware Arbeitskraft, weil sie nur diese eine Ware besitzen. Und dass die Vorstellung, Arbeitsmärkte seien Märkte wie alle anderen auch, überhaupt ein Irrtum ist – dafür Dean, bleibst Du jeden Beleg schuldig. Dem Arbeitsmarkt fehlt kein Marktmerkmal, und er besitzt kein Merkmal, das andere Märkte nicht hätten. Das ist bloß Moralgedöns; das hat der frühe Marx manchmal auch gemacht, sich dann aber weiterentwickelt.

„’D.h. wenn Eucken schreibt, die Arbeit sei keine Ware, meint er eigentlich, sie soll keine Ware sein.’ Exakt!“
Der Einfall, dass ausgerechnet die intensiv getauschte und verhandelte Arbeitskraft nicht Ware sein soll, bzw. Nicht-Ware sein können soll, müsste als bloße Skurrilität gelten, käme dieser Einfall nicht seinerseits aus der Warenform selbst: Weil Warentausch nur stattfindet, wenn die Ware Gebrauchswert für den Nichtbesitzer und Nichtgebrauchswert für den Besitzer hat, muß dem Besitzer daran gelegen sein, den besonderen Gebrauchswert seiner Ware – der ihm selber am Arsch vorbeigeht! – herauszustreichen. Das Waschmittel, das nicht sauber sondern rein wäscht; die Milch, welche das Glück der Kühe mental auf den Kunden überträgt; die Luft-Luft-Rakete, die – „Fire and forget!“ – manchen Innenlooping ersparen hilft; schließlich der brave Arbeitsmann, dessen Arbeitskraft das alles herstellt – sie alle möchten den Gebrauchswert ihrer Ware ins rechte Licht gerückt sehen, um deren Verkaufbarkeit, das heißt, gerade deren Bewährung als Ware sicherzustellen. Dergleichen uns als Strebung hin zu einer Nicht-Warenhaftigkeit anzubieten, also bitte.

Marx spießt im 1. Band die Reformvorstellungen Owens auf, der das Geld abschaffen wollte unter Beibehaltung der marktvermittelten Distribution, des Warentauschs. Owen sah nicht, dass das Geld eine Konsequenz der Warenform selbst ist, sondern glaubte, die Probleme von Geldverkehr und Finanzwirtschaft isoliert loswerden zu können. Dem Quidproquo des Warenfetischs sitzt auch Eucken auf, indem er meint, der Tausch sei abtrennbar von dem, was in ihm sich bewegt: der Ware.
Ewas anderes wäre es, wenn Eucken zur Kritik der Warenform überginge (die er aber nicht begreift), und forderte, dass überhaupt nichts Ware sein soll.

Was Eucken mit seiner Ent-Warung der Ware meint, sind doch bloß die Konditionen, zu denen die Ware Arbeitskraft verkauft wird. Ob ich beim Stromberger „Lidl“-Brötchenbäcker unter Bedingungen maloche, die die Aufmerksamkeit Wallraffs erregen, oder ob ich, wie gerade eine Freundin von mir, zum 25. Betriebszugehörigkeitsjubiläum sechs Wochen bezahlten Zusatzurlaub bekomme, ist ein Unterschied, aber nicht in der Frage, ob meine Arbeitskraft Ware ist.

Der Äquivalententausch und die gegenseitige Anerkennung der Warenbesitzer als gleiche Rechtssubjekte können gefordert werden. Die moralischen Ansprüche, die Formulierung von „Vitalinteressen“ sind keinen Deut mehr, als genau das. Wer das für die Klimax der Kritik hält, bittesehr. Aber für „Ware“ und sowas sind dann intellektuell andere zuständig.

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!!!

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Danke, und zu 99%: WORD! Und dazu mal wieder ein Kompliment für die Eloquenz.

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Nanu, wo ist denn der ganze Rest geblieben, der hier mal stand?

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Da scheint sich ein Mitdiskutant selbst gelöscht zu haben, damit verschwinden immer auch die direkten Antworten.

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