Dienstag, 10. September 2013
Rafik Schami zur Lage in Syrien
Der Freiheit würdig sein
Es ist mir ein Bedürfnis und es ist meine Pflicht gegenüber meinen Leserinnen und Lesern mein Verstummen zu erklären. Ich lehne jedes Gespräch mit der Presse über Syrien ab, denn das ist meine einzige Möglichkeit mit Trauer und Enttäuschung umzugehen. Es ist mein Recht aus Protest gegen den Journalismus in diesem Land, mich nicht an diesem Verdummungsspiel zu beteiligen.
Nicht erst seit dem Tag, an dem Präsident Obama beschlossen hat, das Assadregime anzugreifen, regnete es Einladungen zu Talkshows, Interviews, Podiumsdiskussionen und Vorträgen.
Ein kleines, lebendiges hochkultiviertes Volk wird seit zweieinhalb Jahren vor den Augen der Welt bekriegt und vernichtet. Hilfe zu erwarten von unseren europäischen Nachbarn wäre utopisch, Neutralität wäre realistisch, aber die westlichen Regierungen beteiligen sich alle bis heute an diesem Verbrechen. Deren marktgenormten Herrschern sind Waffenexporte wichtiger sind als das Leben Unschuldiger. Ist das Moral? Nein, es handelt sich hier um den Verrat an Freiheit und Demokratie. Es ist die Entwürdigung der Menschen in der westlichen Welt, die gezwungen werden ungerührt zuzusehen, wie friedliche Menschen umgebracht werden. Ein jüdischer Intellektueller hat den Vergleich dieser Stupidität mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Ermordung von sechs Millionen Juden mitten in Europa angestellt.
Das syrische Volk wollte nur frei atmen, nur ohne Angst leben. Vierzig Jahre hat der Assadclan das Land geknechtet und ausgeraubt. Der Westen schaute nicht nur zu, sondern half mit technischen und militärischen Mitteln, damit das Regime so blieb wie es war. Giftgas, Internettechnik, Horchgeräte, Raketen und modernste Waffen wären ohne Russland, China und den Westen niemals in die Hände des Regimes gekommen.
Seit dem ersten Schuss auf Demonstranten sind zweieinhalb Jahr vergangen. Inzwischen ist die Revolution in einen Bürgerkrieg übergegangen. Revolutionen kommen plötzlich zur Welt aber sie sterben langsam. Erst rebellierten die Menschen sechs Monate lang friedlich, dann spalteten sich Soldaten von der syrischen Armee ab und beschützten die Demonstranten, dann strömten verschiedene Gruppen von Islamisten hinzu, um den Gunst des Augenblicks auszunutzen, die größte Gruppe hat das Regime selbst dazu beigesteuert. Gefangene Islamisten wurden freigelassen und über den Geheimdienst bewaffnet, damit sie zu Verwirrung, Spaltung und zu Chaos führen. Im Chaos ist die Diktatur die bestorganisierte Kraft. Der Westen, und nicht nur Deutschland, unterhielt bis zum letzten Tag beste Beziehungen zum Regime. Obama, Merkel, Hollande sind keinen Deut besser als Putin. Öffentlich haben sie ihre Litanei bis zum Erbrechen wiederholt „Assad solle doch bitte abtreten“ und hofierten ihn durch die Hintertür mit Waffen und Elektronik. Sie sprachen von der „roten Linie“, die jetzt übertreten sei und übersahen das rote Blut von über 100.000 unschuldigen Menschen, die schon zuvor vom Regime ermordet wurden, sie sprachen von Freiheit und fragten nicht einmal nach dem Schicksal der über 250.000 Gefangenen. Und bis zum letzten Augenblick, bis zum Einsatz des Giftgases gewährten sie dem Regime Zugang zu ihren Waffen und Informationen, teils heimlich, teils offen, wie der Besuch des deutschen Geheimdienstchefs Schindler zeigte, der den mörderischen syrischen Geheimdienst aufwertet als „Partner im Kampf gegen den Terrorismus“, als ob es einen größeren Terror gibt als die eigene Städte mit Scud-Raketen zu beschießen, Frauen zu vergewaltigen und Kinder zu ermorden. Nicht einen einzigen Tag hätten Russland und der Iran dem Regime beistehen können, wenn der Westen es entschieden nicht gewollt hätte.
Das verlogene Argument war, man wolle den Revolutionären nicht helfen, nicht einmal mit Lebensmitteln und Medikamenten, damit die Islamisten nicht noch stärker würden. Ja die Amerikaner erpressten sogar alle Länder der Gegend, damit diese jedwede Hilfe stoppten. Dieselbe westliche Welt arbeitet jedoch mit dem schlimmsten Islamisten in Saudi-Arabien Hand in Hand. Dabei wurden diese Fundamentalisten von den engsten Verbündeten des Westens, nämlich Katar und Saudi-Arabien mit reichlichen Waffen, Lebensmitteln und Dollars beschenkt.
Und wo waren die Journalisten? Wie haben die Medien ihre Aufgabe und Pflicht wahrgenommen, die Menschen in diesem Land aufzuklären?
Die Presse sollte nach dem Verständnis von Freiheit und Demokratie die vierte Macht im Staat sein. Sie soll in deren Sinne kontrollieren und aufklären. Unser Journalismus wirft ein schlechtes Licht auf unseren Staat. Er ist, abgesehen von einzelnen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die viel zu wenig beachtet werden, zu einem Schatten der Macht geworden. Nicht nur bei der Aufklärung der Umstände des NSU- und NSA-Verbrechen ist er gescheitert, sondern das großes Scheitern heißt Syrien.
Nun seitdem Obama öffentlich erklärt hat, er wolle Assad angreifen, regnete es hier an Anfragen. Und alle sind inzwischen überzeugt, dass es Zeit wäre Assad zu stürzen.
Ich war, bin und werde immer gegen jeden Militärschlag von außen sein. Ich nehme es aber keinem Syrer übel und verstehe gut, wenn viele leidende Syrer dafür sind. Ich bin dagegen, weil damit die Revolution zu Grabe getragen wird. Syrien sollte nach dem amerikanischen Plan ein zweites Afghanistan werden, diesmal sollten die Iraner und ihr Handlanger Hisbollah auf syrischem Boden geschwächt werden.
Assad wird stürzen, aber ersetzt werden durch einen Militärrat, der vom CIA und anderen westlichen Geheimdiensten installiert wird und der dafür sorgt, dass Syrien ein zweiter Irak wird.
Mein Protest gegen diese Verdummung wird hoffentlich eine Diskussion anstoßen über die schlechte Rolle, in die der Journalismus hier spielt. Wir haben wirklich einen besseren verdient. „Wie können wir Euch helfen?“ fragte ein Europäer einen Syrer, „Indem ihr bei euch das macht, was wir hier machen, für Freiheit und Demokratie stehen.“

Rafik Schami
September 2013

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Der Mann lässt völlig ausser Acht, dass es für den Westen ziemlich schwierig ist, die demokratischen Kräfte zu unterstützen, wenn die so wenig koalitionsfähig sind. Aus meiner Sicht ist das in Problem in Syrien, Ägypten und Tunesien.

Im Cono Sur basierte die erfolgreiche Re-Demokratisierung im Zeitraum 1983 bis 1999 zunächst auf breiten, "bürgerlich" dominierten Regierungen. Für die Linke kann dies ein äusserst schmerzhafter Weg sein, da es in dieser Konstellation oft gewisse Marginalisierungs-Tendenzen gegen sie gibt.

In einer konsolidierten Demokratie entstehen ihnen aber in einer durch ungerechte Verteilung der Einkommen geprägten Gesellschaft dann auch Chancen.

Die herausgehobene Stellung Nord-Amerikas/West-Europas nimmt ökonomisch und politisch aus meiner Sicht gottseidank sowieso immer mehr ab. So schwer es auch ist, die müssen ihre Probleme weitgehend selber lösen. Unausweichlich ein schwerer, kein triumphaler Prozess voller Irrtümer, Opfer und Selbstbeweihräucherung.

Sozusagen eine bürgerliche Form von "El pueblo unido, jamás será vencido", tatsächlich der überwiegende Ruf bei Demonstrationen vor dem Putsch vor 40 Jahren in einem süd-andinischen Land.

Ohne breite demokratische und pluralistische Koalitionen unter den Politikern im Mittleren Osten wird das nie was geben.

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Tja die Südamerikaner haben den Vorteil, dass es dort keine religiösen Fundamentalisten gibt, zumindest keine, die in die Politik drängen.

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"Der Mann lässt völlig ausser Acht, dass es für den Westen ziemlich schwierig ist, die demokratischen Kräfte zu unterstützen, wenn die so wenig koalitionsfähig sind."

Nicht wirklich. In Syrien war es ja gerade das Problem, dass der Westen die sekuläre, inner-syrische Opposition nicht mal als Verhandlungsparter anerkannte. Die war nämlich nicht nur gegen die Diktatur der Baath-Partei, sondern auch gegen die vom Westen geschätzten neoliberalen "Reformen" seit 2005. Durch diese wurden Baath-Kader sehr schnell sehr reich, während die Bevölkerung auf Diät gesetzt wurde. SO eine Opposition war dem Westen unheimlich. Ganz ähnlich wie im Iran übrigens, wo die Unterdrückung der Gewerkschaften und die Verfolgung ihrer Mitglieder im Westen nicht einmal zur Kenntnis genommen werden.
Die inner-syrische Opposition wusste übrigens ganz genau, was für Gefahren eine Eskalation der Gewalt bedeuten würde.

Der Westen setzte derweil auf die syrische Auslandsopposition, für welche es keine friedliche Veränderung geben durfte, da sie anstelle der Baath-Partei zukünftig die dicken Pfründe einfahren wollte. Die wollte den Krieg und die totale Machtübernahme. Nichte mehr, nicht weniger.

Und dann kamen die Petrodollars aus Katar und Saudi-Land. Die Söldner, die Dschihadisten … der Rest ist bekannt.

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Ganz generell, Rafik Shami spricht das ja an, wird von demokratischen Oppositionellen in der arabischen Welt beklagt, dass Demokratie im westlichen Sinne in den arabischen Ländern in der EU und den USa kein Thema ist bzw. vor und während des arabischen Frühlings nicht unterstützt wurde. Finde da alte antiimperialistische Positionen bestätigt, die amerikanisch-westeuropäische Demokratie als imperialistische Demokratien ohne Partizipation im Trikont ansahen, so eine Apartheid im Weltmaßstab (Südafrika nicht als Diktatur, sondern als Demokratie nur für Weiße, Arabien als nicht demokratisch sein sollender Hinterhof des Westens)

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Gutes Beispiel bleibt der Iran. Nimm den Busfahrerstreik vor ein paar Jahren. Hat hierzulande keine Sau interessiert. War für Journalisten und Politikern unangenhem, weil es eben um die soziale Frage ging.
Als dann später die Studenten, also die Kinder der Privilegierten, auf die Straße gingen um für Freiheit zu demonstrieren, fand das im Westen großen Widerhall, weil man meinte, die Stimmung pro-westlich drehen zu können und so einen Umsturz herbeiführen zu können.
Dasselbe Muster findest Du in allen diversen Ländern von Nigeria bis China und Russland.

Der westliche Journalismus spielt dabei eine Schlüsselrolle. Staatliche Medien und die Anzeigenprodukte der Medienkonzerne gleichermaßen.
Ich glaube noch nicht einmal, dass da eine große Stratege hintersteckt. Es ist einfach so, dass teheranische Gewerkschaftler und indische Bauern der Journaille einfach unheimlich sind. Hierzulande werden Menschen, die körperlich arbeiten ja auch verachtet.
Standesdünkel eben …

PS: Wobei es natürlich, das will ich nicht kleinreden, schon ein gewaltiges Problem ist, dass die Leitartikler der großen Zeitungen und die Meinungsmacher der Fernsehanstalten Mitglieder in pro-westlichen Think-Tanks sind.
Aber wer da mitmacht, hat eben vorher auch schon ne gewisse Haltung …

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"Als dann später die Studenten, also die Kinder der Privilegierten,..."

Na, na, na! Da machst du es dir aber ordentlich einfach. Im Iran studieren sehr viele junge Menschen. Es wäre ja ganz wunderbar, wenn man sie alle, inklusive ihrer Familien, zu den "Privilegierten" rechnen könnte - und auch die zahlreichen Teheraner (darunter sehr viele Azeri) aus den nördlichen, westlichen und östlichen Stadtteilen von Theheran.

Das alles als "Privilegiertenaufstand" niederzumachen, verkennt zudem auch, und zwar ganz massiv, wer im Iran privilegiert ist. Da gibt es nämlich durchaus einige Gruppen, die sich erhebliche Teile der iranischen (Rest-)Wirtschaft unter den Nagel gerissen haben.

Unter den protestierenden Studenten und Iranern (die es übrigens damals in jeder Großstadt gab - und auch fern jeglicher Universität - und zwar in ganz beachtlichen 100.000er Versammlungen quer durchs Land) findet sich diese Privilegierten nicht.

Ganz ehrlich, tuc, in Sachen Iran hast du dir da ganz schön eine Brille aufgesetzt. Aber: Diese tönt zu stark...- du siehst doch fast nichts mehr.

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Naja, liest sich vielleicht schärfer als gemeint. Als "Privilegiertenaufstand" würde ich die grüne Bewegung (die ich auch klasse fand) auch nicht bezeichnen.
Aber was gemeint ist, wird doch wohl deutlich.

Grob gesagt:
Arbeiter demonstriert für soziale Verbesserung = interessiert keine Sau.
Student demonstriert für gesellschaftliche Öffnung = alle applaudieren.
Ist doch klar, warum.

Nur weil der Student vom Westen instrumentalisiert wird, würde ich ihm aber natürlich nicht die Solidarität versagen – ich heiße ja nicht Jürgen Elsässer!
Zumal die Leute in Iran, in Syrien oder im Libanon ja auch durchaus selber mitbekommen, was für ein Spielchen hier im Westen läuft.

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Nochmal: Es gab nirgendwo im "Schwarzen Frühling" der arabischen Welt eine Struktur von sekulären, demokratischen Repräsentanten von sozialen Gruppen, die sich um Einigkeit bemühte.
Der Westen kann sich nicht in Arbeitskonflikte innerhalb iranischer Busunternehmen einmischen.

@che
Theorien sind für mich Modelle zur Erklärung der Realität. Die komplexe Realität befindet sich im steten Fluss. Gestrige Theorien können als Steinbruch für neue Theorien benutzt werden. Als ganze besitzen sie aber eine gewisse Halbwertszeit. Deine Theoriewelt der 60er/70er mit ihren Ideen der Autarkie, der Importsubstitution und des Wirtschafts-Strukturalismus ist in den 80ern/frühen 90ern gegen eine Wand an Realitäten gefahren, erfährt aber in Teilen wieder eine gewisse Zuwendung, weil diese neoliberale Zeit des übermässigen Vertrauens in die Privatwirtschaft und des exportgetriebenen Wachstums ebenfalls gegen eine Wand an Realitäten gefahren ist.

Wir leben heute in einer Welt, in der
- weite Teile des "Trikonts" makroökonomisch an Wirtschaftskraft gewinnt, oft dank eines sehr fragwürdigen neoliberalen Trends IN DIESEN LÄNDERN und nicht imperial oktroyiert. Siehe etwa auch Assad der II. und seine zunächst im Westen als Hoffnungsträgerin geltende Gattin aus der Londoner Banken-Szene (LOL ROTFL)
- Bildung und Wissen geographisch immer weiter gestreut ist
- die Politik die Zeit der Pax Americana zunehmend einer Multipolarität mit regionalen Machtkernen weicht, d.h. wirklich die Hosen an in Syrien hat nicht die USA sondern Iran und Saudi Arabien

Auch auf Portalen des unfreiwilligen politischen Witzes finden sich manchmal Schätze. Bis auf einige Details und einer gewissen Tendenz der Überspitzung, in Teilen, beschreibt dies hier den Bankrott des Neoliberalismus in Chile sehr gut: http://amerika21.de/analyse/87789/chile-putsch-und-depression
Und ich könnte mir vorstellen, dass es hier Parallelen zu Syrien unter Assad II gibt.
- Spielchen, in denen immer die selbe Gruppe gewinnt.
- Streben nach ökonomischer Effizienz, ohne dass dies dem überwiegenden Teil des Volks zugute kommt
- Deregulierungen, die die Wirtschaft zwar dynaminisieren, deren positive Auswirkungen aber nur einer kleinen Gruppe zufliessen

Bei all dem sind wir der Westen nur Zaungäste und keine Akteure.
Der Neoliberalismus war nie wirklich europäisch/nordamerikanisch. Wichtige Beiträge stammten von Beginn an von Trikont-Personen wie etwa Jagdish Bhagwati oder auch Lateinamerikanern wie Hernando de Soto. Aber er hat dort stärker transformiert.

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"Der Westen kann sich nicht in Arbeitskonflikte innerhalb iranischer Busunternehmen einmischen."

Nein. Aber totschweigen, wenn hunderte Menschen verschleppt und gefoltert werden (darum gehts hier, nicht um ganz normale Arbeitskämpfe) ist auch keine Alternative.
Es wäre recht und billig, freie Gewerkschaften zu fordern. Aber Arbeiter und Busfahrer sind eben nicht nicht die Zielgruppe westlicher Politik. Gut, wenn sie ihre Titten zeigen könnten wie Femen, dann könnte man als deutscher Redakteur (Titten in Teheran = sogar Boulevard-tauglich) mal einen angegeilten Blick riskieren, aber so …

"Und ich könnte mir vorstellen, dass es hier Parallelen zu Syrien unter Assad II gibt.
- Spielchen, in denen immer die selbe Gruppe gewinnt.
- Streben nach ökonomischer Effizienz, ohne dass dies dem überwiegenden Teil des Volks zugute kommt
- Deregulierungen, die die Wirtschaft zwar dynaminisieren, deren positive Auswirkungen aber nur einer kleinen Gruppe zufliessen"

Exakt. Die Baath-Kader machten einen guten Reibach seit 2005. Daran entzündete sich ja die ganze Revolte erst.
Irgendwo im Netz gibt es sicher noch das Interview, das Karin Leukefeld mit den syrischen Oppositionellen der ersten Stunde geführt hat.
Würde mich interessieren, ob die überhaupt noch leben.

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@"Theorien sind für mich Modelle zur Erklärung der Realität. Die komplexe Realität befindet sich im steten Fluss. Gestrige Theorien können als Steinbruch für neue Theorien benutzt werden. Als ganze besitzen sie aber eine gewisse Halbwertszeit. Deine Theoriewelt der 60er/70er mit ihren Ideen der Autarkie, der Importsubstitution und des Wirtschafts-Strukturalismus ist in den 80ern/frühen 90ern gegen eine Wand an Realitäten gefahren, erfährt aber in Teilen wieder eine gewisse Zuwendung, weil diese neoliberale Zeit des übermässigen Vertrauens in die Privatwirtschaft und des exportgetriebenen Wachstums ebenfalls gegen eine Wand an Realitäten gefahren ist." --------


Meine Theoriewelt ist überhaupt erst in den 80ern entstanden, Schlüsseltext "Antiimperialismus in den Achtziger Jahren". In einer Zeit, in der linke Theorie nicht mehr medienwirksam war war das von außerhalb linker Zusammenhänge nicht mehr wahrnehmbar, während neoliberales Denken in die Hörsäle vordrang. Ich habe es in den Achtzigern und Neunzigern noch erlebt, dass sich angelegentlich von Uni-Streiks gelackte WiWi-Yuppies mit punkigen SoWi und Hist Phil-Freaks prügelten. Ich würde diese Theoriewelt auch nicht durch "Ideen der Autarkie, der Importsubstitution und des Wirtschafts-Strukturalismus" beschrieben sehen. Das waren Strukturbedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern, die durch das Regime des IWF gebrochen wurden, also empirische Realitäten und keine Ideen. Die Ideenwelt, in der Leute wie ich sich damals bewegten und heute z.t. immer noch bewegen war aus diesem Konflikt abgeleitete Anwendung der Ideen von Karl Marx, Max Weber, Nicos Poulantzas und Pierre Bourdieus sowie auch feministischer und poststrukturalistischer Modernisierungs- und Technikkritik (nicht umsonst lautet der Titel eines der Hartmann-Bände "Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt").


Und das alles halte ich für zeitgemäßer denn je. Es ist das Problem, dass die Theorie die Massen nicht ergreift, nicht, dass die Theorie an sich falsch ist. It´s no mystery making history, it´s the mystery to get the victory.

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Mitunter ist es eben doch ein Problem, wenn die Theorie nicht taugt. Die "Sprachwende" war zugleich eine Akademisierung der "linken" Theorie - und eine Abwendung von den konkreten Fragen. Poststrukkis und Postmodernisten sorgten sich - idealerweise kultur"wissenschafttlich" - um die Deutung der Wirklichkeit, und diese Theoriewende (so nenne ich das mal) war dann in Wirklichkeit eher eine Begleiterscheinung des Neoliberalismus, ein Sich einrichten in einem postmodern geschmückten Zimmer - in einem neoliberalen Haus. Es war imho kein Zufall, dass eine beachtliche Vielzahl von Poststrukkis/Postmodernisten wenig Probleme hatten, auf die Seite von Neoliberalen zu wechseln - oder in Zusammenhang mit der protofaschistischen Kriegspolitik des Bushregimes auf die Seite sogar von kriegstreiberischen Neokonservativen.

Mein Kommentar dazu: Wenn das primäre Handwerkszeug die Sprache wird, dann sind Erscheinungsformen des Sophismus nur natürlich.

Die Gewerkschaften, als quasi realweltlicher Flügel wurden in den 80ern ff von den Poststrukkis und Postmodernisten als hoffnungslos veraltet und irrelevant verlacht, was vor dem Hintergrund der vulgärkeynsianischen Wirtschaftsideologie der Gewerkschaften kaum sonderlich schwer fiel.

Es bildete sich aber in Wahrheit auch keine schlagkräftige, auf die Umgestaltung der Wirklichkeit gerichtete theoretische Bewegung - im Gegenteil sogar - der Anspruch wurde massiv verkürzt und zugespitzt lässt sich das sagen, oft auf eine möglichst radikale Umgestaltung der Sprache reduziert. Das zeigte sich sogar vielfach in linken Basisgruppen, wo Kämpfe um einelne Formulierungen zu den zentralen Fragen auswucherten.

Als ob man mit "Sprache" den entscheidenden Schlüssel zur Umgestaltung der Gegenwart und Zukunft gefunden hätte. Diese wurden dann tatsächlich umgestaltet, von einem schlagkräftigen und sogar weit in die Linke eingesickerten Neoliberalismus. So waren noch Mitte 2005 die Grünen eiserne neoliberale Statthalter innerhalb der Schröder-Regierung.

Was für eine Entwicklung!

(zumal, wenn man wie ich und viele andere hier die Anfänge der Grünen und Alternativen Bewegung als Kind und Jugendlicher noch direkt miterlebt hat, teils sogar in "vorderster Front", auf Kongressen, Tagungen usw.)

Die Folgen dieser Theoriewende innerhalb der Linken sehen wir heute. Aus der historischen Perspektive ist manches von dieser "Theoriewende" gut verständlich - und teils auch als Reaktion auf die Grabenkämpfe der K-Gruppen der 70er Jahre zu verstehen.

Trotzdem eine Sackgasse - und oft genug auch eine Abwendung von der sozialen Frage. Immerhin habe ich den Eindruck, dass "die" Linken inzwischen wieder besser in der Lage sind, internationale Konflikte und Bürgerkriege zu deuten - wie z.B. in Syrien (was ja eine Mischung aus Bürgerkrieg und internationaler Konflikt darstellt).

Es ist also nicht nur Rückschritt und Sackgasse. Aber Grund zum Jubel besteht vor dem Hintergrund des "Theoriesetups der Linken" nicht unbedingt.

Ganz im Gegenteil, die Leerstellen sind riesengroß - und auch schlichte Kapitalismuskritik hat schon bessere Zeiten gesehen - obwohl es doch kaum eine bessere Zeit wie die heutige dafür geben sollte...

(spannend finde ich allerdings eine gewisse Gegenbewegung - nämlich die zunehmende Anzahl von ehemals neoliberalen Intellektuellen, welche sich vom Neoliberalismus erschrocken und teils sogar schuldbewusst abwenden - beispielsweise entwickelt sich die FAZ, einst ein Hort von Neoliberalismus und Konservatismus beinahe schon wieder zu einer "Vossischen Zeitung", wozu auch nicht wenig beiträgt, dass Schirrmacher und anderere FAZ-Herausgeber eben vom Neoliberalismus gründlich abgefallen sind - und mit Begeisterung dezidiert linksliberale Autoren und Redakteure um sich versammeln die sie vor 10 Jahren noch aus dem Haus geprügelt hätten - auch der SPIEGEl hat seinen Neoliberalismus und Neokonservatismus inzwischen weitgehend abgeschüttelt)

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auch der SPIEGEl hat seinen Neoliberalismus und Neokonservatismus inzwischen weitgehend abgeschüttelt)

Ist dem so? Das gedruckte Magazin lese ich seit Jahren nur noch sporadisch - und Online dominiert immer mehr der Boulevard. Bei der FAZ sehe ich auch weniger eine generelle Abkehr von einstigen Denkmustern, es ist nur so, dass dank Schirrmacher die Gegenstimmen vor allem aus dem Feuilleton heute mehr Gehör finden. Aber das Wirtschaftsressort ist nach wie vor eine Domäne der Ferenghi-Fraktion...

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Che, ich hab ja einen dieser Texte von Detlev Hartmann gelesen. Für mich ist das eine praktisch interessante Perspektive, die meine gesunde Skepsis in meinem berufliches Leben in einer ganz gut verdienenden aber machtlosen Ecke Konzern-Machtstrukturen bestärkt hat.

Aber es ist eine Perspektive, um top down Machstrukturen zu erkennen, keine Basis für wirtschaftliche Entwicklung. Beim IWF klopft man sowieso nur an, wenn das Kind schon aus dem Brunnen schreit. 30 Jahre später beschweren sich ja die damaligen Schuldner, dass heute ein viel zu hoher Anteil der auch von ihnen bereitgestellten IWF Gelder in den Süden Europas fliesst.

Die Befreiung der Märkte hat in den Meeren des Südens gewaltige Kräfte entfesselt, die sie als Nationen ohne Zweifel gestärkt haben. Kein Zufall, dass heute etwa die zentrale Integrations-Institution Lateinamerikas nicht mehr die OAS unter US-Führung sondern der am Rio Grande endende Unasur bildet. Auch die dramatische Zunahme der transpazifischen Wirtschaftsverflechtungen. Die Kurse der Börse in Santiago de Chile reagiert heute hauptsächlich auf Wirtschaftsnachrichten aus China.
Im Mittleren Osten auch der wachsende Einfluss der Regionalmächte wie Iran, Saudi Arabien und Emirate.

Nur hat dieser entfesselte Markt kein einziges der Versprechen zur Angleichung der Lebensverhältnisse innerhalb dieser Länder eingelöst. Und die waren gerade in der Frühphase des Lateinamerikanischen Neoliberalismus bei Hernando de Soto und noch früher den "Chicago Boys" sowie deren jungen politischen Umsetzern in der Diktatur Pin8 sehr präsent. Eigentlich standen sie sogar im Zentrum der Argumentation.

Oh, neuer Gedanke:
Die typische Drogenkarriere des Neoliberalen Gedankengutes vollzieht sich in 2 Makro-Phasen.
I. Zunächst wird von der entfesselnden Wirkung des Wegfalls von Marktbarrieren GERADE für die ja in kreativen Überlebensstrategien und Entbehrung gestählten Armen.
II. Bestimmte makroökonomische Daten entwickeln sich sehr positiv: Vor allem Wirtschaftswachstum, Schuldenreduktion, Inflation und Außenhandel. Nach einer gewissen Phase der Anpassung sinkt auch der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt und die Armutsschwellwerte sind typischerweise sehr niedrig eingestellt.
Für die Politiker wirken diese scheinbar sensationellen Rückmeldungen als positiver Verstärker.
Sie werden zunehmend blind für Werte wie Diversifizierung der Wirtschaft oder Einkommensverteilung, weil bei deren Betrachtung schlechte Laune aufkommen würde.

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@" keine Basis für wirtschaftliche Entwicklung" ---- soll es ja auch gar nicht sein, sondern ist gedacht als Basis für die soziale Revolution.

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Hartmanns Sabotage hatte früher (fast) jede Zecke im Bücherschrank. Selbst diejenigen, die lieber Belletristik oder Comics lasen als linke Theorie. Also Typen wie ich.
Ein echter Szene-Bestseller!

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Und war das ein Bestseller, so war Autonomie 14 "Klassengeschichte - soziale Revolution?" ein Klassiker, um den sich ein Großteil der Theoriedebatten der 80er und 90er drehten.

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"diese Theoriewende (so nenne ich das mal) war dann in Wirklichkeit eher eine Begleiterscheinung des Neoliberalismus, ein Sich einrichten in einem postmodern geschmückten Zimmer - in einem neoliberalen Haus."

Dean, könnte nicht mehr zustimmen. Poststrukturalismus, Diskurstheorien, Sozialkosntruktivismus usw. sind zutiefst Neoliberalismus-affin. Daraus ergibt sich dann das, was W.B. Miachaels "Linken neoliberalismus" nennt:

"The differentiation between left and right neoliberalism doesn’t really undermine the way by which it is deeply unified in its commitment to competitive markets and to the state’s role in maintaining competitive markets. For me the distinction is that “left neoliberals” are people who don’t understand themselves as neoliberals. They think that their commitments to anti-racism, to anti-sexism, to anti-homophobia constitute a critique of neoliberalism. But if you look at the history of the idea of neoliberalism you can see fairly quickly that neoliberalism arises as a kind of commitment precisely to those things."

http://jacobinmag.com/2011/01/let-them-eat-diversity/

Und damit geht einher die Abwendung der Linken von Aufklärung und Wissenschaft. Hatte Marx noch gesagt: „Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir als naturwissenschaftliche Unterlage des geschichtlichen Klassenkampfes.“ (MEW 30, S. 131), so firmiert Darwin bei der heutigen Linken nur noch unter dem Schlagwort "Biologismus".

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"@" keine Basis für wirtschaftliche Entwicklung" ---- soll es ja auch gar nicht sein, sondern ist gedacht als Basis für die soziale Revolution."

Soziale Revolution ohne ökonomische Basis: Das ist am Ende bestensfalls Kuba. Auf Dauer also nur unter Repression aufrecht zu erhalten - und jede Menge grau in grau...

Eine von vielen Linken übersehene "Revolution" war ja die wirtschaftliche Entwicklung von Mitte der 50er Jahre bis Ende der 60er Jahre. Nicht nur, dass es hier "Wachstum" gab - es gab zugleich eine massive Umverteilung, und zwar eine, die indirekt (!) und vorwiegend über das Steuersystem realisiert wurde.

Bis zum Ende der 60er Jahre führte wirtschaftliches Wachstum gerade in den unteren Einkommensgruppen (aber auch quer über alle Einkommensgruppen) zu massiven Wohlstandsgewinnen. Mehr noch: Zugleich sank (!) in fast allen westlichen Staaten der relative Wohlstand der obersten zwei Prozent der Gesellschaft.

Im Schnitt wurde dieser halbiert!!! Zugleich wuchs die Durchlässigkeit der Gesellschaft auf zuvor ungeahnte Weise - und übrigens sogar deutlich oberhalb dessen, was heutzutage erreicht ist.

Wenn das keine erfolgreiche soziale Revolution war: Was war es dann?

P.S.
Ich wünsche mir mitunter das Einkommenssteuersystem von Adenauer zurück. Ernsthaft. Wenn im Gegenzug Butler von den prominenten Plätzen auf der Literaturliste der Linken gestrichen würde, wären diese beide Maßnahmen zusammen schon ziemlich "Wow".

Echter Fortschritt.

(wobei ich mit keinen Wort den gesellschaftlichen Mief der 50er Jahre gelobt haben möchte - gemessen daran ist mir noch eine J. Butler mit ihren Wirrsinnsschriften eine wahre Freude)

@ Willy

Vor allem war es ein Abwenden von der sozialen Frage und ein Abwenden von sozialen Kämpfen. Genauer gesagt: Eine Formalisierung der sozialen Frage. Gekämpft wurde folglich nicht mehr um reale Verhältnisse, sondern um Formulierungen.

Die "revolutionäre Kunst" war in der Folge nicht mehr die revolutionäre Aktion, misstraut wurde in Folge auch jeder an der Basis (theoriefremd) stattfindender politischer Aktivismus, im Grunde genommen überhaupt jeder politisch wirksamen Aktion. Nein, die nunmehr angestrebte "revolutionäre Kunst" bestand fortan in einer Meta-Kommunikation.

In einem ständigen (gleichermaßen folgenlosen wie arroganten) Sich-Verbreiten über andere linke Gruppierungen, linke Diskurse, Begrifflichkeiten - die schon bei geringster Abweichung vom eigenen begrifflichen Instrumentarium vollständig verworfen wurden.

Bei Occupy mitmachen? Igitt!
In einer Gewerkschaft aktiv sein? Igitt!
In einer Partei wirklich etwas bewirken? Igitt!
Mit theoriefernen Durchschnittsbürgern gemeinsam etwas Positives bewegen? Bloß das nicht!

Worauf es stattdessen ankommt? Worte. Nichts als Worte. Und gelegentlich eine coole Party unter seinesgleichen.

Darauf lief es hinaus. Und genauso "Igitt" sind diesen Poststrukkis/Postmodernisten auch Autonome - deren politische Erscheinungsformen sind schlicht zu handfest - und deren Theoriestand nicht einmal erörterungswürdig, aber gewisslich "völlig veraltet".

Generell herrscht hier eine massiv entsolidarisierende (!) Haltung gegenüber anderen Linken vor. In dieser Entsolidarisierung suhlen sich diese Meister*innen der Meta-Kommunikation sogar mit kaum steigerbarer Begeisterung. Kaum einen anderen Aspekt widmen sie sich mit mehr Hingabe - vielleicht mit Ausnahme vom Abfeiern der eigenen Säulenheiligen, sowie dem Ersinnen neuer, vorwiegend auf Sprache und Diskursverhinderung gerichteter Regelsysteme sowie idiotisch-vernagelter "101"sen.

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Willy, ein chinesisches Sprichwort sagt "Auch das perfekte Chaos trägt in sich die absolute Vollkommenheit, und so ähnlich ist es auch bei Dir: dieses Ausmaß an Uninformiertheit, Nichtwissen und danebenliegen beeindruckt durch einen einsamen Gigantismus. Umso ärgerlicher, als Dir hier ja seit Jahren ständig Bildungsangebote gemacht werden. Das Marx-Zitat entstand zu einer Zeit, die der Okkupation des Darwinismus durch den reaktionärsten Flügel der Bourgeoisie noch nicht stattgefunden hatte. Der aus diesem Bündnis hervorgehende Sozialdarwinismus sollte noch im Kaiserreich zu allerlei rassistischen Sondergesetzen und Zwangssterilisierungen in den Kolonien führen, theoretisch weiterentwickelt zur Rassenhygiene lieferte er die Blaupause zum Völkermordprogramm der Nazis. Angesichts einer solchen Entwicklung kann man nicht heute einfach von einer Interessengemeinschaft des Darwinismus und von prgressivem politischen Denken sprechen.


Auf der anderen Seite gab es natürlich den Sozialdarwinismus der Arbeiterbewegung und auch "progressives", linksliberal verortetes Denken mit Vorstellungen von Eugenik als Menschheitsverbesserung, zum Beispiel bei Haldane, einer Art Bright von dunnemals. Zu solchen Vorstellungen hat Aldous Huxley in Brave New World das Passende geschrieben. Auch der Begründer der Rassenhygiene, Ploetz, war ursprünglich SPD-Anhänger gewesen, noch sein "Ring der Norda" verstand sich als sozialistischer Geheimbund, bevor es dann aber ganz gewaltig wagnerte und volkstümelte.

Auch der von Vornherein rechte Mainstream-Sozialdarwinismus war aus der Angst der Bourgeoisie entstanden, der Darwinismus nütze der Sozialdemokratie, wie das Heinrich Ernst Ziegler in "Die Naturwissenschaft und die sozialdemokratische Theorie" konterkarierte, einem Werk, in dem begründet wurde, dass die natürliche Zuchtwahl zwangsläufig auf Klassengesellschaft und Patriarchat hinausliefe. Am anderen Extrem schrieb der russische Anarchist Peter Kropotkin sein dämliches "Gegenseitige Hilfe im Tier- und Menschenreich".


Am scharfsinnigsten hat Friedrich Engels dem ganzen Mumpitz widersprochen, der mit "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats" eine materialistische Geschichtsdeutung geliefert hatte, die im Grunde die Wurzeln des Strukturalismus und Poststrukturalismus legte. Im Gegensatz zum fortschrittsenthusiasmierten Denken der evolutionistischen arbeiterbewegten Sozis, die davon ausgingen, das die Zukunft aus naturnotwendigen Gesetzen heraus besser werden muss als die Vergangenheit sah der revolutionäre Engels auch schon die erste große Menschheitskatastrophe, den Ersten Weltkrieg voraus. Das Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, welches Fortschreiten von Gesellschaften mit der Evolution in der Natur verglich (einschließlich dem Unterliegen von "Völkern" oder "Rassen" als naturnotwendige Ausmerze des Schwächeren in der rechten und der zwangsläufigen Entwicklung hin zum Sozialismus in der linken Variante) mündete in Zwei Weltkriegen und einer industriell betriebenen Massenvernichtung von Millionen Menschen. Der erste Versuch, diese Fehlentwicklung, dieses monströse Scheitern aller etablierten Annahmen, wohin der Fortschritt führen würde wurde zum ersten Mal von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung zu erklären versucht, und dieses Werk stellt in der Tat einen Quantensprung dar, hinter den keine spätere Debatte mehr zurück kann. Die Kritische Theorie beginnt aber nicht erst mit Horkdorno und dem Freudomarxismus, sie hört damit auch nicht auf.

Im Grunde sind die MEW schon ihr Anfang, und in Kernbereichen sind Strukturalismus und Poststrukturalismus ebenso wie der Neue Antiimperialismus die folgerichtige Fortsetzung. Sie haben nur mit Problemen zu tun, die zu Marxens Zeiten noch gar nicht bekannt waren.

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@Dean: "Eine von vielen Linken übersehene "Revolution" war ja die wirtschaftliche Entwicklung von Mitte der 50er Jahre bis Ende der 60er Jahre. Nicht nur, dass es hier "Wachstum" gab - es gab zugleich eine massive Umverteilung, und zwar eine, die indirekt (!) und vorwiegend über das Steuersystem realisiert wurde.

Bis zum Ende der 60er Jahre führte wirtschaftliches Wachstum gerade in den unteren Einkommensgruppen (aber auch quer über alle Einkommensgruppen) zu massiven Wohlstandsgewinnen. Mehr noch: Zugleich sank (!) in fast allen westlichen Staaten der relative Wohlstand der obersten zwei Prozent der Gesellschaft.

Im Schnitt wurde dieser halbiert!!! Zugleich wuchs die Durchlässigkeit der Gesellschaft auf zuvor ungeahnte Weise - und übrigens sogar deutlich oberhalb dessen, was heutzutage erreicht ist.

Wenn das keine erfolgreiche soziale Revolution war: Was war es dann?" ----- Ein motorisiertes Biedermeier, eine Art zweite Ära Metternich. Klar, hinsichtlich der Verteilungsökonomie wurden Fortschritte erreicht, die auch heute wieder als fortschrittlich erscheinen würden, es wurden gewaltige Einkommen geschaffen und Einkommensunterschiede eingeebnet. Die Faktoren Schichtung und Mobilität bekamen in dieser Zeit eine gewaltige Dynamik, es gab in der Nachkriegszeit Möglichkeiten zu sozialem Aufstieg wie es sie nie davor und nie danach gegeben hatte. Das war hauptsächlich auf den Faktor Schöpferische Zerstörung zurückzuführen: Ein zerbombtes Land wurde wieder aufgebaut, ein zweiter großer Krieg, nämlich der in Korea, lieferte dann die Grundlage für einen allgemeinen Boom der westlichen Industrien. Aber politisch und soziokulturell bis hinein in die Körperlichkeit der Menschen, insbesondere Sexualität, war die Ära Adenauer ein Rückfall hinter die 20er. Ich mache mal an ein paar Schmankerln deutlich, was typisch war für diese Zeit.

Als im Ruhrgebiet ArbeiterInnen gegen die Wiederbewaffnung demonstrierten schoss die Polizei mit scharfer Munition in die Menge, wobei der Lehrling Philipp Müller getötet wurde. Die sog. Halbstarkenkrawalle kamen dadurch zustande, dass sich Jugendliche einfach so nur zum Spaß zu größeren Menschenmengen versammelten, was die Polizei zu hemmungslosen Knüppelorgien veranlasste. Zwei schöne Affären aus Niedersachsen zeugen vom Geist dieser Zeit, die Affäre Schmalz und die Affäre Kopf. Bei der einen Geschichte ging es darum, dass sich ein Richter, ein Polizeichef und ein CDU-Bürgermeister verabredeten Beweismittel zu fälschen, um den Göttinger DGB-Vorsitzenden ins Gefängnis zu bekommen - mit Erfolg.


Noch schöner ist die Affäre Kopf. Der erste niedersächsische Ministerpräsident, Hinrich Wilhelm Kopf (SPD), hatte einen Sohn, und dieser Sohn hatte ein Problem. Er hatte eine Frau vergewaltigt, und um den Sohn vor dem Gefängnis und sein Amt vor einem Skandal zu bewahren brauchte Kopf eine Lösung. Diese bestand in einem Gefälligkeitsgutachten, das den Sohn für geisteskrank und nicht schuldfähig erklärte. Dieses Gutachten kam von dem Psychiater Gerhard Kloos, ehemaliger Leiter des LKH Stadtroda und Chef einer "Kinderfachabteilung" zur Tötung "Asozialer Tuberkulöser" im persönlichen Auftrag des Führers. Als Dankeschön für dieses Gutachten wurde Kloos vom damaligen niedersächsischen Sozialminister, dem später von der SPD als Lichtgestalt gefeierten Pastor Heinrich Albertz zum Leiter des LKH Göttingen und zum Sondergutachter für Wiedergutmachungsangelegenheiten ernannt.

Tja Dean, so war Sie, Deine so geschätzte Ära Adenauer. Auf der Makro-Ebene parlamentarische Demokratie, hinsichtlich Polizeigewalt oder lokal/regionalpolitischen Mauschelns aber dem Mubarak-Ägypten gar nicht unähnlich. Die Studierenden 1967 hatten schließlich jede Menge Gründe für ihr Drängen nach Veränderung, und ihre Gewaltdebatten damals begannen mit der inneren Hemmung, den Fuß auf eine verbotene Rasenfläche zu setzen (so verdruckst war die damalige Mentalität).


Und damit wird auch dieser Satz hier zu völligem Unsinn: "Eine von vielen Linken übersehene "Revolution" war ja die wirtschaftliche Entwicklung von Mitte der 50er Jahre bis Ende der 60er Jahre". Die damalige Linke sah diese Entwicklung, sie sah sie weltweit, und die daraus abgeleitete Forderung war "We don´t want just one cake, we want the whole fucking bakery!". Grundlage der weltweiten 67er- Revolte war die Erkenntnis, dass der gesellschaftliche Fortschritt mit dem ökonomischen nicht Schritt gehalten hatte, sondern im Gegenteil alle politischen und sozialen Strukturen erstarrt waren, eingefroren auf einem längst obsolet gewordenen Status. Und die Grundannahme, dass der erwirtschaftete Wohlstand der westlichen Gesellschaften Grundlage für einen Sozialismus sein könnte, der nicht uniformiertes Elend sondern Luxus für alle bedeuten würde, wenn nur die Produktionsmittel vergesellschaftet würden.


Endlich @""@" keine Basis für wirtschaftliche Entwicklung" ---- soll es ja auch gar nicht sein, sondern ist gedacht als Basis für die soziale Revolution."

Soziale Revolution ohne ökonomische Basis: Das ist am Ende bestensfalls Kuba. Auf Dauer also nur unter Repression aufrecht zu erhalten - und jede Menge grau in grau." ------ In den politischen Kreisen in die ich so gehöre wird es allgemein abgelehnt, exakte Modelle, Beschreibungen einer nachrevolutionären Gesellschaft zu malen, weil das als Hybris und als der Beginn von Sozialengineering und Machtmenschentum angesehen wird. Die revolutionären Massen sollen selbst bestimmen wohin die Entwicklung geht, auf sich gestellt, kollektiv und basisdemokratisch, ohne ein vorgegebenes Ziel. Freilich auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel und einer direkten Demokratie.

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Am scharfsinnigsten hat Friedrich Engels dem ganzen Mumpitz widersprochen, der mit "Der Ursprung der Familie, des Privatzeigentums und des Staats" eine materialistische Geschichtsdeutung geliefert hatte, die im Grunde die Wurzeln des Strukturalismus und Poststrukturalismus legte. Im Gegensatz zum fortschrittsenthusiasmierten Denken der evolutionistischen arbeiterbewegten Sozis, die davon ausgingen, das die Zukunft aus natunotwendigen Gesetzen heraus besser werden muss als die Vergangenheit sah der revolutionäre Engels auch schon die erste große Menschheitskatastrophe, den Ersten Weltkrieg voraus. Das Fortschrittsdenken des 19. Jahrhunderts, welches Fortschreiten von Gesellschaften mit der Evolution in der Natur verglich (einschließlich dem Unterliegen von "Völkern" oder "Rassen" als naturnotwendige Ausmerze des Schwächeren in der rechten und der zwangsläufigen Entwicklung hin zum Sozialismus in der linken Variante) mündete in Zwei Weltkriegen und einer industriell betriebenen Massenvernichtung von Millionen Menschen.
Ich glaube, Du mißverstehst die Marxisten ein wenig. Karl Marx widmete sein Hauptwerk "Das Kapital" Charles Darwin. Marx war begeisterter Anhänger von Darwins Evolutionstheorie, nicht zuletzt deshalb, weil sie seine philosophische Haltung stützte. Andere Naturwissenschaftler hielt er, Karl Marx und seine Mitstreiter Friedrich Engels und Lenin, deren "Metaphysik" vor, weil diese Wissenschaftler zwar einerseits objektiv dialektisch praktizierten aber subjektiv nicht dialektisch dachten. Diese Naturwissenschaftler waren für Friedrich Engels und Lenin auf ihren jeweiligen Fachgebieten genial aber andererseits auch schlechte Philosophen, weil sie einer starren, mechanistischen Wahrheitsauffassung anhingen, wohingegen man von einer Entwicklung der Erkenntnis von niederen zu höheren Formen ausgehen muß, genau wie Charles Darwin lehrt, daß die Lebensformen sich von einfachen zu immer komplexeren Formen entwickeln. Marxismus ist also an und für sich unbedingter Fortschrittsglauben. Engels und Lenin hätten wahrscheinlich den Poststrukturalisten und ganz besonders den Feministinnen unter ihnen eine Encyclica heruntergereicht, so etwas in der Art vom "Anti-Dühring" oder "Materialismus und Empiriokritizismus", die sich gewaschen hat, falls Foucault, Lacan und all ihre Anhänger damals schon gelebt hätten.

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Die Namen Marx, Engels und Lenin würde ich nicht in einem Atemzug nennen. Lenin, dem Detlef Hartmann nachsagte, er wäre der erste Postmoderne gewesen, da das Organisationssystem der Deutschen Reichspost die Blaupause für die Sowjetbürokratie geliefert hätte ist mit dem Versuch, eine sozialistische Gesellschaft aus der Adlerperspektive, vom Reißbrett zu entwicjkeln Lichtjahre weit entfernt vom Freien Sprung über den Abgrund, der Marx und Engels vorschwebte und der vorzustellen wäre als von einem sich kollektiv und basisdemokratisch organisierende Proletariat getragen. "Die Pariser Kommune, das war die Diktatur des Proletariats", diese Äußerung Engels macht den ganzen Unterschied klar. Übrigens waren noch Horkheimer und Adorno sehr sattelfeste Marxisten, die aus dem Scheitern des unbedingten Fortschrittsglauben dann etwas Neues, durch die Verbindung aus Marxismus und Psychoanalyse geprägtes entwickelten, um das Scheitern des Fortschritts in der Geschichte das empirisch gerade statgefunden hatte zu erklären. Und das ist ein Faden, der in unterschiedlicher Weise von Strukturalisten und Poststrukturalisten weitergesponnen wurde. Lyotard z.B. startete mal als Maoist. Rosa Luxemburg war Feministin, im Übrigen, und sie stand in heftigem Widerspruch zu Lenin.

@" Marxismus ist also an und für sich unbedingter Fortschrittsglauben." --- Ja, und Marx war kein Marxist. Und nachdem der Fortschritt an den geglaubt wurde grandios gescheitert war mit dutzenden Millionen Toten stellten sich viele Fragen sehr anders, als sie noch im 19. Jahrhundert hätten beantwortet werden können.

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Ich bin jetzt zu faul, meinen Bücherschrank zu konsultieren. Ich bin sowieso nicht gut im Zitieren. Ich erinnere mich immer an die Eskapaden der Marxisten, wie sie Gift und Galle speien, wenn sie den Namen Freuds hören. Erzreaktionäres Pack, Ausgeburt der bürgerlichen Reaktion, Biologist und überhaupt ein wenig meschugge sei der gewesen.

Adorno hat keinen vernünftigen Einwand gegen den Fortschritt erhoben. Moral ist nicht vernünftig und Auschwitz und Sozialdarwinismus weder Marxismus noch Wissenschaft noch gar Aufklärung sondern einfach reaktionäre Scheiße, gegen die Marxisten immer und überall, so scheiße sie auch manchmal selbst sein mögen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gekämpft haben. Übrigens bedauert auch Engels, daß der Fortschritt nicht immer für jeden Menschen Vorteile bringt. Gerade in der Broschüre "Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" bedauert er, daß die Frauen die Leidtragenden der Entwicklung zum Patriarchat gewesen sind. Die Entwicklung zum Patriarchat aber ist gesellschaftlicher Fortschritt.

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Stichwort: ökonomische Ent-Feudalisierung
"Machtmenschentum"
Zu sagen, was man sich vorstellt und herbei wünscht, das ist "Machtmenschentum"? Sorry, da ist das Gegenteil doch richtiger: Wer nicht sagt, was er für Absichten hegt, ist ein Machtmensch.

Das älteste und am konstantesten benutzte Machtmittel überhaupt ist die Verbergung der eigenen Absichten und Vorstellungen. Im Übrigen ist es komplett naiv, es ließe sich eine vom Ergebnis sinnvolle "Revolution" veranstalten, die das sozioökonomische Zusammenwirken einer Gesellschaft sogar vollständig ändern solle: ohne sich genaue Gedanken im Voraus darüber zu machen.

Zumal solche Fragen wie z.B. "Funktioniert der Weg, den wir uns denken?" und "Von welchen Dingen hängt es ab, dass es funktioniert?" nicht gerade unwesentlich sind. Revolutionäre, die sich diese beiden Fragen nicht stellen, denen mangelt es an jeglicher Ernsthaftigkeit.

Aber vielleicht ist das auch ganz gut so...

(vermutlich ist das sogar garnicht gut, wenn es dann mal doch so weit kommt: Zum Beispiel die Idee in Kuba, den Militärtaktiker Che zum Wirtschaftsminister zu ernennen, hatte schreckliche Folgen - und wirkt bis in die hässliche kubanische Wirklichkeit heute hinein)

Ich persönlich glaube aber, dass maximale Ernsthaftigkeit und Seriösität nicht schaden - weder bei einer Kritik von Problemen im Kapitalismus, noch sogar noch weniger beim Vorschlagen von Verbesserungen und Alternativen zum Bestehenden. Je gründlicher die Veränderungen sind, die mensch sich wünscht, umso gründlicher muss darüber nachgedacht werden.

Das mag mühselig sein. Ich halte es für notwendig.
"Die revolutionären Massen sollen selbst bestimmen wohin die Entwicklung geht, auf sich gestellt, kollektiv und basisdemokratisch, ohne ein vorgegebenes Ziel. Freilich auf der Basis vergesellschafteter Produktionsmittel und einer direkten Demokratie."
Ganz so "freilich" ist das also garnicht.

Tjanun: Was aber, wenn die "revolutionären Massen" sich für eine parlamentarische Demokratie entscheiden - und auch dafür, dass es auch privates Eigentum bzw. Verfügen über Produktionsmittel geben soll?

Ich halte das Dogma, dass es keinerlei privates Produktionsmitteleigentum geben dürfe, für ziemlich borniert - pardon. Es lassen sich ganz wunderbar linke politische Ziele verwirklichen, ohne dieses Dogma.

Allerdings - müssen diese alternativen linken Politiken dann mit fast der gleichen Energie durchgesetzt werden wie eine gesamtgesellschaftliche Enteignung aller Unternehmer, AGs, GmbHs usw. usf.

(das wird von den allermeisten SPDlern - auch jenen, die sich als links einschätzen - erschreckend gründlich verkannt)

@ Ära Adenauer

Die ökonomischen Umverteilungen (und zwar: von oben nach unten!) und die gesteigerte gesellschaftliche und ökonomische Durchlässigkeit waren ja - interessanter Weise - ein Phänomen nicht nur bei Adenauer und seinen Nachfolgern, sondern auch in vielen anderen westlichen Staaten.

Im Übrigen hob ich auf die Phase zwischen 1955 bis ca. 1970 ab. Das wirtschaftliche "Vorkriegesniveau" wurde vielfach schon Mitte der 50er Jahre erreicht. Die weitere Entwicklung des zweiten Teils der 50er Jahre kann mensch vielleicht noch einer Art "Aufbaukonjunktur" zuschreiben (es lässt sich darüber allerdings bereits gut streiten!).

Spannend ist aber, dass die ökonomische Dynamik - und auch die sozioökonomische Dynamik (also ein überproportionaler Wohlstandsgewinn für die Durchschnittsbevölkerung - und ein relativer Wohlstandsverlust für die oberen 2 Prozent) auch weit über Mitte der 50er Jahre hinaus reichte!

Und zwar: In praktisch allen (!) westlichen Staaten.

Vom besonderen Mief der Adenauer-Ära hatte ich mich wohl schon hinreichend distanziert - und generell sollte ich da in dieser Beziehung eher unverdächtig sein, oder?

:D

Eine gewisse "Ent-Miefung" fand bereits ab Mitte der 60er Jahre statt - also vor den Studentenunruhen. Das wird gerne vergessen.

Vor allem würde ich die These einflechten, dass die Studentenunruhen (und auch der positive gesellschaftliche Wandel, der sich darauf anschloss) in ganz erheblichen Maß auf die positive (ich wiederhole: positive) soziowirtschaftliche Entwicklung und quasi "Demokratisierung" der ökonomischen Grundlagen zurück zu führen war.

Als Linker würde ich den Schluss daraus ziehen: Eine "Ent-Feudalisierung" der wirtschaftlichen Entwicklung erzeugt positive gesellschaftliche Dynamiken in anderen Politikfeldern.

(das lässt sich übrigens auch als These auch ganz wunderbar aufrecht erhalten, wenn mensch die skandinavischen Staataen mit GB oder D-Schland vergleicht)

Spannend finde ich nicht zuletzt, dass diese ökonomische Umverteilung im Wesentlichen (!) mit Instrumenten gelang, die eben nicht verteilungspolitischer Natur waren! Offenkundig gibt es weitaus effektivere Möglichkeiten ald diejenigen, an die wir im Moment bevorzugt denken.

Auch daraus sollten Linke - so ganz allgemeine gesprochen - ihre Schlüsse ziehen, finde ich.

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Wirtschaftliche Umverteilung in 50er/60er:
Angebot und Nachfrage nach Arbeit und Kapital ändern sich in der Geschichte.
In jener Zeit war der technologische Fortschritt sehr komplementär zum Produktionsfaktor Arbeit. Die damaligen Maschinen benötigten noch eine Menge möglichst starker, entschlossener und konzentrierter Männer, die sie bedienten. Der heutige technologische Fortschritt ist so, dass er in einem stärkeren Maß Arbeit substituiert. Für heutige Arbeit benötigt man oft eine recht lange Phase des Lernens, holistisches Denken, Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen Menschen, etc.
Ausserdem gibts heute für Industrie und komplexe Dienstleistungen eine wesentlich geringere geographische Exklusion. Mexiko hat nur etwas mehr Einwohner als Deutschland, besitzt ein Median-Einkommen von ca. 30% zu Deutschland (BIP war gestern) und trotzdem erlangen dort mehr Menschen ein Ingeniörs-Diplom. Diese dramatisch gestiegene Inwertsetzbarkeit der Menschen für die heutige Industrie bewirkt, dass Rohstoffpreise in Verhältnis zu Fertigprodukten seit 2002 stark gestiegen sind und wohl für einige Zeit auf diesen hohen Niveaus verharren werden.
Wir erzeugten unsere soziale Kohäsion nach dem WK II u.a. auch dadurch, dass wir im Landwirtschaftssektor hohe Handelsbarrieren errichteten. Ohne dies wäre etwa die Geschichte Argentiniens und Uruguays zwischen 1955 und 1980 völlig anders verlaufen. China agiert da heute anders.

"soziale Revolution"
In der Evolutionsforschung gibt es ernstzunehmende Studien, die zu den Schluss gelangen, dass die Häufigkeit von Mutationen umweltbedingt sind. Sie steigt in Krisenzeiten - wie etwa nach dem Einschlag eines großen Meteors - stark an.
Vermutlich gibt es hier Parallelen zu politischer Wahrnehmung und Handeln von Personen in Gesellschaften.
Die SPD August Bebels gründete auf Millionen von Personen, die für eine soziale Revolution kämpften. Sie setzten diese im Ganzen nicht durch, aber deren Energie bewirkte vermutlich einen nachhaltigen Wandel der Mentalität des politischen Denkens in Deutschland.
In vergleichsweise gut an die Umwelt angepassten Gemeinwesen gewinnt die Kompromissfindung in der Mitte an Gewicht. Die Gesellschaft gewöhnt sich daran, die Ränder nicht mehr als kreative Impulsgeber sondern als Bedrohung anzusehen. Occupy Wall Street konnte im Westen ihr Bein nicht auf den Boden bekommen.
In wirklichen Krisen-Zeiten gewinnen aber die Kämpfer für eine Soziale Revolution eine wirkliche Empathie weit in die Bevölkerung. Marktbedingungen bewirken, dass die Massenmedien diesem Diskurs Raum geben. Wir erlebten dies zuletzt mit den 68ern und später mit den Grünen. Ähnliches seh ich im chilenischen Fernsehen hauptsächlich über youtube als Reaktion auf die Studenten-Proteste seit 2011. Mir ist vorher eigentlich gar nicht so bewusst gewesen, was dort in den z.T. schon immer recht guten Polit-Sendungen alles nicht diskutiert wurde. Ich meine hier nicht Fakten sondern die Präsentation von Analysen. Es gibt nicht mehr diese riesigen 200.000 Personen Demos in der 6 Mio Stadt Santiago, aber was da im letzten Jahr so alles im Fernsehen präsentiert wurde...
Zunehmend dann in Straßen-Interviews und Publikums-Reaktionen in Studios nicht mehr Ärger oder Zustimmung zu den Apologeten des Modells sondern eine Mischung aus Genervtsein, Unglauben und Lachen darüber, dass die offenbar immer noch nicht verstanden haben, dass wir wissen, dass dies Verarsche ist. Und hier ein "wir" mit dem ich vorsichtig umgehe, weil ich mich in diesen Leuten spiegele.
Die in einem und vermutlich zwei Wahlgängen gewählte Regierung der Bachelet-Regierung wird Abgeordnete der Sozialen Bewegungen in sich tragen. Es gibt aus meiner Sicht Grund zur Hoffnung, dass diese Leute sich weiterhin ihren Ursprüngen verpflichtet fühlen und sich nicht in den nun sowieso wirklich nicht mehr funktionierenden Post-Pinochetistischen Politik-Betrieb aufsaugen lassen. Das wird sehr spannend.
Die Vuvuzelas in der WM von Südafrika haben mich voll genervt. Falls es in der WM 2014 zu massiven Spielverzögerungen durch Proteste kommt, werde ich mich 2 Wochen in Brasilien in den Dienst dieser Proteste stellen und mich 2 Wochen in Deutschland darüber freuen.

Ich halte Soziale Revolutionen für absolut notwendig. Ich bin kein Linker, weil ich 2 Sachen nicht kapiere:
- Nach der Übernahme der Macht gibt es eine nur rudimentär ungebrochene Tradition des Verächtlichmachens anderer Meinungen und eines unerträglichen Triumphalismus. Auch eine hohe Bereitschaft faktische Lügen der Revolutionäre ungeprüft zu glauben (Venezuela) oder auch nur die Bereitschaft eine hoffnungslos und im Ansatz korrumpierten Revolution als positives "Symbol" zu verbuchen. Kritik muss immer respektiert werden, auch wenn sie von aussen kommt.
- Die Mehrheit der Menschen wünschen keine permanente Versammlung zum Management der Bäckerei, sondern innerhalb von halbwegs gerechten ökonomischen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen ihren Beitrag zum Backen des Brots leisten zu können.

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Winzige Detailbemerkung hierzu: @"Mexiko hat nur etwas mehr Einwohner als Deutschland, besitzt ein Median-Einkommen von ca. 30% zu Deutschland (BIP war gestern) und trotzdem erlangen dort mehr Menschen ein Ingeniörs-Diplom." ------ Ein ägyptischer Freund, der in Ägypten Elektroingenieur mit Nebenfach Informatik ist gab uns seine Zeugnisse in Kopie mit, um zu sehen, ob er in Deutschland einen Job als Projektleiter oder an der Uni bekommen könnte. Die Entscheider lachten sich kaputt und meinten, ein Diplom als Elektroingenieur der Kairoer Ain-Shams-Universität entspräche etwa einem deutschen Gesellenstück als Elektriker, und seine Nebenfachqualifikation Informatik sei bei uns Schülerwissen. Insofern ist über die Qualität eines mexikanischen Diploms noch nicht sehr viel ausgesagt.

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Was Ägypter anbelangt, kann ich von gegenteiligen Erfahrungen berichten, allerdings auch aus zweiter Hand. In meiner Firma jedenfalls dürfte die Bewerbung Deines ägyptischen Freundes durchaus Erfolg haben.

Außerdem habe ich das deutsche Bildungssystem hautnah erlebt. Man sollte dessen Leistungen nicht überschätzen. Ich weiß, daß bessere Bildungssysteme möglich sind, denn ich bin in der DDR zur Schule gegangen.

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@" In meiner Firma jedenfalls dürfte die Bewerbung Deines ägyptischen Freundes durchaus Erfolg haben." --- Wenn das ein Angebot sein soll danke, aber die Frage stellt sich nicht mehr.

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Ich schätze, in der Reaktion des Chefs spiegelte sich auch jede Menge Erstweltüberheblichkeit. Ich sehe es jedenfalls als ein klassisches quo errat demonstrator. Es sollte nicht schwierig sein, in den Ländern der Levante gut ausgebildete, arbeitswillige Ingenieure zu finden. Auch in Tunesien gibt es zahlreiche, tatsächlich gut ausgebildete Ingenieure.

Nur halt nichts zu tun für diese. Ich hatte ja die Hoffnung, dass sich das im Laufe der "Revolution" (eigentlich war es ja sogar eine) noch ändert. Scheinbar gibt es auch so etwas wie "folgenlose Revolutionen".

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Deine Entscheider könnten zuviel Zeitung gelsen haben, worin man zum Beispiel lesen kann, daß man außer Juden, Armenier und Isländer alle anderen Leute vergessen kann. Das ist von Henryk M. Broder. ... und so frauenfolternde, antisemitische, koptenverfolgende, islamistenwählende, also politisch unreife und nicht für voll zu nehmende Ägypter erst... Denen muß man ja erst Kultur beibringen... Die brauchen ja einen Elektriker, um eine Glühlampe auszuwechseln. Darauf sind deren Elektriker spezialisiert. Mehr können die auch nicht. ...glauben Entscheider wohl. Man müßte mal so einem Entscheider stecken, daß der Nahe Osten auch wirtschaftlich aufstrebende Zonen enthält, in denen man Produkte verkaufen könnte, die zuvor aber korrekt lokalisiert werden müssen. Deren Schrift ist nämlich von Linkshändern entworfen worden, und es gibt auch sonst einige Besonderheiten.

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Ein Freund von mir hat als Geschäftspartner eine Source-Code-Schmiede in Ramallah, die arbeiten hervorragend. Ägypten mag in der Hinsicht aber sehr speziell sein. Ein zuckerkranker ägyptischer Freund gab uns ein Spritzenset von Dräger mit mit der Frage, ob wir ihm in Deutschland ein neues kaufen könnten, und als wir damit in die Apotheke gingen sagte man uns "Das bekommen Sie im Museum.". Noch in den 90ern hatten ägyptische Computer Datasetten-Laufwerke und sahen wie Tapedecks mit Monitor aus.

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