Montag, 31. Juli 2017
Was heißt hier eigentlich autonom - Mal ein Paar Dinge zum Selbstverständnis
Von der politisch-theoretischen Selbsteinordnung bin ich seit so dreißig Jahren sattelfest und sehe keine Gründe, das grundsätzlich zu ändern. Das ist bei mir so eine Verbindung aus Postoperaismus, Kritischer Theorie und bestimmten Anwendungen des französischen Poststrukturalismus, um das an Zeitschriften und Autoren festzumachen: Materialien für einen Neuen Antiimperialismus, Adorno, ganz bestimmte Ansätze von Foucault und seinem Antipoden Baudrillard sowie Bourdieu.


Wenn ich Postoperaismus schreibe meine ich damit nicht den Operaismus in der Tradition der italienischen Autonomen der 1960er und 70er Jahre, sondern einen Theorie- und Diskussionsstrang rund um die Zeitschriften bzw. Publikationsreihen "Autonomie Neue Folge. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft", "Materialien für einen Neuen Antiimperialismus", "Wildcat" und "Zirkular". In einem weiteren Sinne zählen auch noch die "Arranca!" und "Subversion" dazu. Inhaltlich bedeutet dies eine sehr unmittelbare, nicht durch den Arbeiterbewegungsmarxismus, Leninismus, Revisionismus, Histomat oder Diamat vermittelte Anwendung der Kritik der politischen Ökonomie auf aktuelle politische Prozesse und soziale Auseinandersetzungen in Verbindung mit einer sehr weit gefassten Anwendung der Dependenztheorie. Sehr weit gefasst heißt dass es hier nicht nur um gesellschaftliche Prozesse in lateinamerikanischen oder allgemeiner trikontinentalen Gesellschaften und deren Eingebundenheit in globale Machtstrukturen geht sondern dass die Dependenztheorie zur Matrix wurde mit der auch ganz andere gesellschaftliche Prozesse analysiert werden.

So sieht ein postoperaistischer Ansatz etwa Geschlechterverhältnisse aus dem spezifischen Blickwinkel des Neuen Antiimperialismus. Die sexuelle Revolution der 1960er/70er war demzufolge ein subversives Aufbrechen repressiver Gesellschaftsstrukturen und Beginn eines kollektiven Emanzipationsprozesses, die erotische Aufladung von Werbung und Illustriertentitelbildern mit nackten Frauenkörpern und zeitgleiche Entstehung einer Sex- und Pornoindustrie der Gegenschlag des Systems: Die Kolonisierung erwachter erotischer Bedürfnisse durch die Inwertsetzungsmechanismen kapitalistischer Produktivität. Demzufolge wurden dann auch Antipornokampagnen und Aktionen wie z.B. Entglasungen von Aktfotoausstellungen oder Brandanschläge auf Sexshops als eine besondere Form von antikolonialen Befreiungskämpfen angesehen (Nein, genau so würde das niemand formulieren. Ich schematisiere hier bewusst nach dem Motto "Vereinfachungen und Übertreibungen machen anschaulich"). Und genau an dieser Stelle hört mein Verständnis auf. Aus teilweise brillianten Analysen wurde entweder keine Praxis abgeleitet oder rein destruktive Mini-Aufstände oder aber die Begründung von Mitmachen in Neuen Sozialen Bewegungen, das auch ohne den Neuen Antiimperialismus als Begründungszusammenhang auskommen würde.


So sehr ich den Neuen Antiimperialismus in der Theorie also vertrete - es gingen ja auch respektable Ansätze in der Geschichtswissenschaft daraus hervor - eine politische Praxis folgt für mich nicht daraus. Bzw. die politische Praxis der Autonomen, etwa aus dem Materialien-Ansatz eine grundsätzliche Antihaltung gegen jedwede kapitalistische Inwertsetzung abzuleiten und das dann so umzusetzen, dass gegen Gentrifizierung die Erhaltung der Ghettos mit allen Eigenschaften der Ghettoisierung - die Erhaltung von SO36, Schanze oder den Kiezen von Neukölln mit allen dortigen Armutsproblemen - zu verteidigen wäre, weil die urbane Armut Substrat für politischen Widerstand wäre halte ich für verfehlt bis absurd. Bollemärkte plündern und brandschatzen ist kein Angriff auf den Kapitalismus an sich. "Leben als Sabotage" reflektiert eine Widerstandsperspektive, die es so heute nicht mehr gibt. In der theoretischen Erfassung des globalen Kapitalismus finde ich den postoperaistischen (oder postautonomen) Ansatz weiterhin sehr richtig. Als politische Zielbestimmung taugt er nichts mehr. Und es müsste dringend ein Denken her, das der Linken wieder eine Handlungsperspektive aufzeigt.

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"halte ich für verfehlt bis absurd. Bollemärkte plündern und brandschatzen ist kein Angriff auf den Kapitalismus an sich. "Leben als Sabotage" reflektiert eine Widerstandsperspektive, die es so heute nicht mehr gibt."

So ist es. Und wenn Emily Laquer erklärt, es bringe nichts, an der Alster "we shall overcome" zu singen, antworte ich: Stimmt schon, liebe Emily - aber Twingos abfackeln bringt eben auch nichts (außer BILD-Schlagzeilen).

Die Reaktionen - bis hinein ins linksliberale Bildungsbürgertum - auf G20 waren so unterirdisch, dass ich der IL und Laquer natürlich die Stange halte...das hindert mich aber nicht, absurd dann absurd zu nennen. Wir haben derzeit, vereinfacht gesagt, nun mal keine sog. "revolutionäre Situation", und zwar deswegen, weil diejenigen, auf die es ankommt, nämlich die Mittelständler in den westlichen Ländern, alles in allem immer noch einverstanden sind und ihre Privilegien, um es mit Heinrich Böll zu sagen, mit rattenhafter Wut verteidigen werden.

Derzeit gibt es nur eines: Analyse, Darstellung, Dokumentation...Gegenöffentlichkeit auf allen Kanälen.

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@"weil diejenigen, auf die es ankommt, nämlich die Mittelständler in den westlichen Ländern, alles in allem immer noch einverstanden sind und ihre Privilegien, um es mit Heinrich Böll zu sagen, mit rattenhafter Wut verteidigen werden." ---- Das ist genau der Punkt und ist es wieder nicht. Wir haben ein sich international ständig neu zusammensetzendes Proletariat das sich nicht als solches begreift und keinen Klassenstandpunkt hat. Die outgesourcten Fristvertragsjobber, die Scheinselbstständigen, die Call-Center-Agenten, die Systemadmins die von Rumänien aus den Support für deutsche Versicherungen machen, sie alle haben nicht das Bewusstsein dass sie alle zur selben Klasse gehören. Die VW-Arbeiter mit Eigenheim und zweitem Einfamilienhaus als Renditeobjekt sind kein Proletariat mehr. Da liegt der Hund begraben.

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Yep, und diese von den SJWs geforderte permanente Privilegien-Checkerei hilft auch nicht, zu begreifen, dass letztlich wir alle zu den Gearschten des Systems zählen, sofern wir nicht den 0,1 oder 0,01 Prozent angehören, zu deren Gunsten massiv umverteilt wird. Man kritisiert den Finanzmarkt-Kapitalimus und muss aufpassen, nicht gleich eins eins mit der strukturellen Antisemitismuskeule draufzukriegen. Irgendein weißer alter Sack, der nicht viel zu kamellen hat, soll sich als privilegiert begreifen, weil in Afrika N*g*rkinder hungern oder Frauen 7 Prozent weniger verdienen? Sorry, das ist doch Augenwischerei, ich halte diese ganze Privilegien-Fixierung für völlig kontraproduktiv, man könnte fast sagen, das ist ein schönes Ablenkungsmanöver, das die kritischen Geister wirksam davon abhält, die Systemfrage mal ganz grundsätzlich zu stellen.

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Die Systemfrage wurde ganz grundsätzlich gestellt, als hohe Herren von Großkonzernen und Kapitalistenverbänden in Kofferräumen gefunden worden. Sie wurde auch ganz grundsätzlich gestellt, als bundesweit über Tausend leerstehende Häuser gleichzeitig besetzt und dies als unmittelbarer Angriff auf den Privatbesitz von Großmieteigentum begriffen wurde. Ich möchte jetzt weder dem Terrorismus das Wort reden noch autonome Aktionen auf Kiezebene zu revolutionären Aktionen hochreden - aber das waren, wenn auch fragwürdige, doch zumindest Ansätze, die das System wirklich in Frage stellten. Davon gab es zu wenig und nicht zu viel.

Ich lach mich scheckig wenn heute priveliencheckerische FrauInnen für sich selber mit moralischem Impetus Dozentinnenstellen, gar Lehrstühle einfordern und die Gesellschaft dafür booen, dass ihnen dies nicht gewährt wird. Eine Feministin wie Ingrid Strobl ist für ihre Überzeugungen in den Knast gegangen. Ich werde für meine Frauen-wehrt-Euch-Position als Viktimblamerin gebasht.

Man könnte nicht fast sagen dass das ein Ablenkungsmanöver ist, es ist eins. Voll und ganz.

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Wer auch sehr überzeugend die Systemfrage stellt, ist der Dschihad. :-) Ernsthaft, ich denke, ein Großteil der Bemutterungsreflexe und Sympathien fortschrittlichster Denkexperten gegenüber religiösen Fanatikern ausgesuchter Couleur sind dadurch erklärt.

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Nebelkerzen in die Neumondnacht geworfen
Abgesehen davon dass die Djihadisten nicht die Systemfrage stellen sondern sich auf einer reinen Überbauebene bewegen sehe ich nirgendwo Bemutterungsreflexe oder Sympathien für diese Leute.

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Was sind SJWs?

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social justice warriors, wobei durchaus Schnittmengen zu snowflakes bestehen.

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"social justice warrior", allerdings gerne auch mal abschätzig vom teaparty-milieu benutzt, um alle zu verunglimpfen, die überhaupt irgendwelche gesellschaftlichen veränderungen einfordern. ich tu mich schwer mit dem begriff, kann aber auch verstehen, was damit hier gemeint ist...

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@vert: Mir scheint, der Begriff SJW ist noch nicht so sehr von rechts gekapert und pejorativ wie sagenwirmal Gutmensch oder snowflake. Damit habe ich auch so meine Schwierigkeiten.

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Gibt es denn das "System" wirklich? ich meine im Sinne einer irgendwie planenden, dominierenden Struktur des Kapitalismus? Sehe dafür eigentlich wenig Evidenz.

Natürlich kooperieren die Menschen, auch die Mächtigen und Reichen, wenn es ihren Interessen nutzt, aber ich sehe eigentlich keinen Hinweis darauf, dass da mehr als individuelle Entscheidungen ausschlaggebend sind.

Ansonsten klingt die Rede vom System für mich doch sehr nach verschwörungstheorei bzw. nach einem Echo über Marx vermittleter hegelscher Philosophie.

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Der Begriff System bedeutet ja nur, dass es nach inneren Gesetzmäßigkeiten und objektiven Grundlagen funktioniert, nicht, dass es da einen großen Plan gäbe. Die Biologie, die Geologie, die Physik beinhalten auch Systeme.

Btw. und Marx hat das kapitalistische System schon ziemlich gut analysiert.

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@Mark: In meinem Umfeld heißen solche Leute Moralinspacken oder PC-Freaks.

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