Sonntag, 13. August 2017
Damals war´s oder Erinnerungen beim Kundenbesuch
Ich war die Tage bei einem Kunden im Harz und kam bei der Anreise an einem Vivo-Markt vorbei. Dass es so etwas noch gibt! Sogleich kamen bei mir nostalgische Erinnerungen hoch.


Als ich ein Kind war gab es in Deutschland noch wenige Supermärkte, jedenfalls nicht in Form von flächendeckenden Ketten, mit der Ausnahme Aldi, damals der absolute Billigdiscounter mit einem sehr eingschränkten Angebot. Die beiden Giganten Real und Allkauf dominierten das hochwertige Segment, die normalen täglichen Besorgungen machten die meisten Leute aber noch in Tante-Emma-Läden bzw. bei den Kleindiscountern Vivo, Konsum, Coop und EDEKA, wobei die ersten drei Verbrauchergenossenschaften mit DGB-Beteiligung und Raiffeisen-Anteil waren. Ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Shoppingwelt war in Händen der organisierten Arbeiterbewegung.

Meine Mutter indes kaufte nur in Einzelläden, also Getränke und Tee beim EDEKA 50 m von unserem Haus entfernt, Obst und Gemüse beim Tante-Emma-Laden 50m weiter, Brot und Kuchen beim Bäcker 200 m weiter, Fleisch beim Schlachter, Garn und Bindfäden beim Kurzwarenhändler usw., alles separate Besorgungen bei separaten Geschäften. Die Welt der Supermärkte wurde als eine feindliche Welt, als eine brave new world wahrgenommen, die die Welt der gewachsenen Beziehungen und der persönlichen Kontakte zu den vielen LadenbesitzerInnen bedrohte.

Ähnlich regional zugeschnitten war etwa auch die Getränkeauswahl. Cola, Sprite und Fanta kannte ich nur aus dem Urlaub. Zuhause bekam ich Malzbier von unserer lokalen Brauerei zu trinken (das schmeckte wie Guinness Stout ohne Alkohol, nicht vergleichbar mit der süßen Vitamalz-Plürre) und Limonaden die Orvetta und Silvetta hießen, Harzer Mineralbrunnen mit Orangen- oder Zitronenaroma. Das Angebot an Limonaden in den kleinen Läden stammte immer von Lieferanten aus der Region, kein Betrieb der Getränkeindustrie war weiter als 100 Km von den Abnehmern entfernt. Entsprechend war der Beruf "Getränkeingenieur" ("Getränkemechaniker", wie meine Schwester sagte) weit verbreitet und bot eine gute Einkommensquelle. Was für ein Idyll war diese Welt verglichen mit heute...

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Deine Erinnerung ist da wohl nicht so ganz präzise. Der Aldi hieß nämlich noch Albrecht, als wir klein waren. real gab es bei uns im Süden noch nicht, dafür aber massa und esbella-Märkte. Hier machte meine Mutter immer den Großeinkauf (bei vier Söhnen mit gutem Appetit bot sich das an), manchmal hatte sie auch einen Ausweis für den Großmarkt Fegro oder Metro. Sonstigen Kleinkram holte man im kleinen Edeka-Laden oder im Coop. Das waren damals also auch schon Ketten, von den Tante-Emma-Läden war in den 80er schon so gut wie nichts mehr übrig, bis auf einen kleinen Kiosk mit winzigem Fenster, wo man klingeln musste, damit die alte Besitzerin angeschlurft kam. Dort holte ich manchmal Bier für meinen Vater und Süßigkeiten für mich.

Malzbier war bei uns lustigerweise auch Standardgetränk, wobei ich nicht sicher bin, ob Karamalz damals schon in der Mannheimer Eichbaum-Brauerei gebraut wurde oder ob das damals noch von Henninger Frankfurt ins Delta importiert wurde. Was euer Harzbrunnen war, war unsere Odenwald-Quelle aus Heppenheim, Mineralwasser und Limonade, später sogar mit Blutorangen-Geschmack, die ich erst dann nicht mehr kaufte, als nur noch in Plastikflaschen geliefert wurde (heute trinke ich neben viel Bitter Lemon vor allem Gerolsteiner, weil es das noch in der traditionellen Sprudelflasche gibt). Cola oder Fanta gab es bei uns nur an hohen kirchlichen Feiertagen oder wenn wir auswärts essen waren.

Zu Super- und Großmärkten hatten meine Eltern eine recht pragmatische Einstellung. In unserem Gartenstadt-Vorort war mit Fachgeschäften eh nicht viel los. Ich merke, dass mich beispielsweie auch das klassische Kaufhaus in der Stadt nicht zu knapp geprägt hat. Meine Mutter kannte sowohl bei Karstadt als auch bei Hertie Leute im Verkauf, da wurde manchmal auf den Mitarbeiterrabatt der betreffenden Bekannten gekauft. Der Mannheimer Kaufhof hieß noch Anker, als ich klein war, und im Untergeschoss gab es ein großes Aquarium. Ist auch heute noch so, dass für vieles der Kaufhof oder Karstadt meine erste Anlaufstelle ist, und erst wenn ich da nicht fündig werde, geht es in die kleineren Läden.

Ich habe übrigens noch nie was bei amazon bestellt...

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Was ich beschreibe müsste vielleicht auch zeitlich eingegrenzt werden: Erste Hälfte Siebziger.

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OK, da war die Kettenbildung im LEH tatsächlich noch nicht so weit fortgeschritten. Wobei der Co op-Markt in den 70ern schon eher dem heutigen Supermarkt entsprach als der alteingesessene Edeka bei uns, der noch mehr so das Tante-Emma-Flair hatte.

Den Albrecht/Aldi fand ich mit seinen aufgerissenen Kartons ziemlich grauenhaft, aber da waren meine geliebten Gummibärchen am günstigsten. Irgendwo zu Besuch in einer anderen Stadt hat es mich mal in einen Norma verschlagen, den fand ich nicht ganz so ramschig wie Aldi. Mit Penny oder Lidl kam ich erst später in Berühung...

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Lidl gab es bei uns erst Ende der Neunziger. Den ersten Lidl-Markt lernte ich 1993 in Freiburg kennen. Der Niedergang der gewerkschaftsnahen Märkte erfolgte im Kontext des Zusammenbruchs der gemeinwirtschaftlichen Strukturen seit etwa 1980, vgl. Neue-Heimat-Affäre und die damit unmittelbar zusammenhängende Hochzeit der Hausbesetzungen. Die Deligimitation der Gemeinbewirtschaftung des Wohnungsbaus und das Aufkommen der Autonomen hängen ganz unmittelbar miteinander zusammen, ganz heißes Eisen, und nicht umsonst hat von der Leyen, oder war es Kristina Schröder, genau weiß ich das nicht mehr versucht, das Buch "Autonome in Bewegung", das sich damit befasste zu verbieten.

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Anfang der 90er, als ich in die Neckarstadt zog, gab es da noch einen co op-Markt, aber da war in der Zwischenzeit alles mögliche drin, vom Drogeriemarkt bis zur Groß-Videothek.

Der Zusammenhang zwischen der unrühmlichen NH-Geschichte und dem Aufkommen der Autonomen war mir gar nicht so bewusst, aber wenn man drüber nachdenkt, ergibt das durchaus Sinn.

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Das ist ein eigenes Posting wert, wenn ich Zeit habe schreibe ich das noch. Zum Hintrgrund ist das hier interessant:

https://de.wikipedia.org/wiki/Co_op_AG

Dass jedenfalls so um 1980 Linke Aufwind bekamen, die mit dem DGB und der alten Arbeiterbewegung gebrochen hatten und ihrerseits eine Alternativ/Gegenökonomie außerhalb der alten Genossenschaften aufzubauen bemüht waren ist kein Zufall.

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Dem kann ich nur zustimmen, ist auch mein Zeithorizont. Und auch mein Fokus geht immer mehr auf diesen Nahbereich - gerade beim Bier sehr wichtig und beim Wein nicht minder, im Grunde bei den meisten Produkten. (Wie mit der Limonade, und ich erinnere mich ebenfalls an die beiden Sorten Zitrone und Orange.) Coop natürlich, die teuren Spar-Läden. Als Supermärkte in unseren Augen zwar groß, wenn nicht riesig waren, aber im Verhältnis doch überschaubar.

Malzbier mochte ich üb-ber-haupt nicht und Cola nur bedingt. Gab es bei uns auch nicht. Ich glaube, ich war damals schon ein Rieslingtrinker. (Im Hegelschen Sinne des Ansichseins gleichsam.)

Aldi hieß in der Tat Albrecht. Grob könnte man sagen, die einzige Verbesserung, die der Kapitalismus uns brachte, waren ab den 90er und 00er Jahren besser sortierte Aldi-Märkte mit einem feineren Sortiment. Dafür gab es aber im Gegenzug die Exzesse linker Moralapostologie und die darin sich aufspreizenden Tugendwächterräte der brummdeutschen Verbotskultur: Das sagt man und das sagt man nicht. Und bloß keine Dreadlocks tragen! Und auf keinen Fall den Mädels auf die Dödeln schielen. War mir aber egal. Machte ich trotzdem. Schließlich sind Körper eine feine Sache.

In der Tat war diese Welt damals, trotz aller Probleme, ein Idyll. Auch deshalb, weil es noch sozial wirksame Protestformen gab und nicht das Gewäsch bürgerlich-akademischer Linksprivilegierter, die ständig andere und meist aus den innerlinken Zirkeln auffordern ihre Privilegen zu checken. (Ich tat das auch immer, checke und gerate dabei über die eigenen Privilegien regelmäßig in große Freude. Insofern erzeugt dieses Zwanghafte der Zwangscharaktere bei mir einen gewissen jubilatorischen Narzißmus.)

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Wein aus der Region ist hier am Niederrhein schwer zu bekommen, am ehesten böte sich da noch das Ahrtal an, aber da bevorzuge ich als geborener Süddeutscher dann doch den Rheinhessen, Pfälzer und Kaiserstühler (daran merke ich, dass mein innerer Kompass immer noch mehr auf den Oberrhein als auf den Niederrhein eingenordet ist). Bier trinke ich so gut wie keins, da könnte man mir viel unterjubeln, ohne dass ich einen wesentlichen Unterschied merken würde, aber ich kriege natürlich mit, dass da ein hohes Identifiktionspotenzial dran hängt.

Das mit dem damaligen Idyll sehe ich eher ambivlent, es war auch noch die Zeit von Schwulen- und Kuppel-Paragraphen, als (nicht immer artiges) Kind lebte man im permanenten Risiko, auch von fremden Erwachsenen die Ohren gezwirbelt oder eine geschallert zu kriegen. Auf der anderen Seite hatten wir Freiräume, von denen die überbemutterten Kids heute nicht mal mehr träumen können...

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Das ist richtig, die Repressionen der 70er waren, was Lesben und Schwule betrifft, immer noch erheblich. Erziehung war so lala, in Schule und Kindergarten sehr liberal bis links. Aber das war sicherlich nicht überall so, andererseits kamen eben viele der sogenannten "68er" inzwischen in den Kindergärten und Schulen als Erzieher und Lehrer an. Und das zeitigte Wirkung.

Schläge von Fremden waren bei uns nicht mehr üblich, das hätte eine Anzeige gegeben. Zumindest von meinen Eltern - egal was ich getan hätte.

Wein muß ich als in Berlin Lebender natürlich importieren: Von den Winzern und Händlern meines Vertrauens. Wer in der Region Pfalz, Hessen Baden, Mainfranken Mosel und Nahe lebt, hat es da sicherlich leichter.

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Was die Freiräume betrifft: es war großartig.

Und um diese Zeit der (schon mittleren) 70er Jahre in HH zu vergegenwärtigen: Unbedingt "Nordsee ist Mordsee" von Hark Bohm gucken! Herrndorfs Roman "Tschick" ist nach diesem Vorbild gestrickt.

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Und "Das Ende des Regenbogens", "Die letzten Jahre der Kindheit" und "Dannys Traum."

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Von Hark Bohm kenne ich nur den legendären "Moritz, lieber Moritz". Muss ich mal anchecken.

Es stimmt, es war eine Zeit des Umbruchs, meine Eltern und etliche Lehrer waren noch eher oldschool-autoritär unterwegs, aber die überverständnisvollen Sozpäds gab es da und dort auch schon - und Experimente, erst mal mit Mengenlehre anzufangen statt mit Rechnen.

Aber auf dem städtischen Gymnasium gab es neben den unvermeidlichen 68ern noch genügend Lehrer, die ihre Erlebnisse im Afrika-Corps oder an der Ostfront bei allen passenden und und unpassenden Gelegenheiten zum besten gaben, und mein ältester Bruder (geboren 1960) hatte in der Grundschule anfangs noch einen alten Pauker mit Rohrstock.

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Bei uns gab es politische Noten bzw. politisch begründetes Sitzenbleiben, von dem SchülerInnen betroffen waren die bei Stammheim nicht an einen Selbstmord glaubten oder beim Thema Sexualaufklärung zu weit gingen (Schülerzeitungsleute die eine Lehrerin zu ihren sexuellen Praktiken interviewten). Und einen Lehrer, der bei jedem Starfighter-Absturz die Notwendigkeit dieses Flugzeugs betonte.

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Dass es politische Noten bei uns gar nicht gegeben hätte, kann ich nicht sagen. Aber wenn, dann nicht so platt und offensichtlich. Wir hatten in der SMV und in der Schülerzeitungsredaktion viele von Moskau Ferngesteuerte aus der SDAJ und linientreue Kommunisten, von denen haben etliche ein Einser-Abi hingelegt.

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Solche Leute gab es bei uns überhaupt nicht, dafür RAF-Sympies.

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