Dienstag, 6. Dezember 2022
35 Organisationen warnen vor Abkehr vom Flüchtlingsschutz in Europa: Bundesregierung muss sich gegen Instrumentalisierungsverordnung stellen!
che2001, 11:29h
Am Donnerstag, 8. Dezember, stimmen die EU-Innenminister*innen im Rat der Europäischen Union (EU) über einen Gesetzesvorschlag ab, der schwerwiegende Folgen haben würde: Flüchtlingsschutz und Menschenrechte sollen durch die sogenannte Instrumentalisierungsverordnung an den Außengrenzen ausgehebelt werden. Im Vorfeld der Abstimmung verweisen 35 Organisationen auf den Koalitionsvertrag und fordern die Bundesregierung in einem gemeinsamen Statement eindringlich auf, gegen den Entwurf zu stimmen.
Moment der Wahrheit für die Bundesregierung: Steht sie ein für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit?
"Die Bundesregierung muss sich entscheiden: Steht sie auf der Seite von Ländern wie Polen, die schutzsuchende Menschen an ihren Grenzen misshandeln, oder auf der Seite von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit? Seit Jahren beobachten wir, dass grundlegende Rechte an den Außengrenzen verletzt werden. Mit der Instrumentalisierungsverordnung kommen die EU-Innenminister*innen den Ländern entgegen, die das Fundament der EU untergraben", kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, "die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden". An diese Aussage erinnern die 35 bundesweiten Organisationen in ihrem gemeinsamen Statement.
Sie stellen zudem fest: "Die Instrumentalisierungsverordnung droht, an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Europäisches Recht muss wieder angewendet werden – die vorgelegte Verordnung verbiegt aber das Recht und gibt so denen, die es derzeit an den Außengrenzen brechen, recht."
Toxisches Narrativ der Instrumentalisierung soll Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen
"Wenn es nach Aktivierung der Instrumentalisierungsverordnung überhaupt Menschen schaffen, einen Asylantrag zu stellen, dann werden alle Schutzsuchenden für ihr Asylverfahren bis zu fünf Monate inhaftiert – selbst Kinder und kranke Menschen. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Flucht ist kein Verbrechen. Aber diese Abschottungsverordnung bestraft die Menschen dafür, dass sie eine Chance nutzen und vor Krieg oder Verfolgung in ihrem Heimatland Schutz in Europa suchen", sagt Judith. "Der Vorschlag ist ein Tiefpunkt dessen, was in Brüssel ernsthaft in der Flüchtlingspolitik diskutiert wird. Die Bundesregierung muss sich auf ihren Koalitionsvertrag besinnen, eine rote Linie ziehen und die Verordnung ablehnen."
Schon jetzt verweigern Länder wie zum Beispiel Polen Schutzsuchenden an der Grenze zu Belarus das Recht, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Sie begründen dieses rechtswidrige Vorgehen damit, dass Belarus die Schutzsuchenden gegen die EU "instrumentalisiere". Dieses toxische Narrativ, dass Rechtverletzungen an Schutzsuchenden rechtfertigen soll, wird eins zu eins in der entsprechend benannten Verordnung übernommen. Auffällig ist auch: Die Maßnahmen in der Verordnung richten sich nur gegen die Menschen, nicht gegen die angeblich instrumentalisierenden Politiker*innen. Künftig könnten auch noch in anderen Situationen die "Instrumentalisierungs-Karte" gezogen werden, etwa durch die neo-faschistische Regierung in Italien gegenüber Seenotrettungsorganisationen. Denn auch nicht-staatliche Akteur*innen und Seenotrettung sollen als auslösende Momente zählen können, wenn ihnen vorgeworfen wird, die EU destabilisieren zu wollen.
Hintergrund zur Instrumentalisierungsverordnung
Den Vorschlag zur Instrumentalisierungsverordnung hat die Europäische Kommission im Dezember 2021 gemacht. Ein ähnlicher Vorschlag für ein Sonderrecht durch Ratsbeschluss für Polen, Litauen und Lettland war damals gescheitert. Die tschechische Ratspräsidentschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahres 2022 eine Einigung im Rat über eine Verhandlungsposition zu erreichen. Hierfür müsste am 8. Dezember eine Mehrheit im Rat hinter einem Kompromisstext stehen (von statewatch geleakter Kompromisstext vom 4. November 2022). Bereits im September protestierte ein breites europäisches Bündnis gegen den Vorschlag.
Die Instrumentalisierungsverordnung würde den Rechtsverstößen an den Außengrenzen kein Ende setzen, sondern:
Rechtswidrigen Pushbacks Vorschub leisten, da u.a. asylsuchende Menschen für bis zu vier Wochen nicht registriert werden müssen und verstärke Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen durch den Schengener Grenzkodex aktiviert werden.
Dafür sorgen, dass alle Menschen, die einen Asylantrag stellen, für bis zu fünf Monate an den Außengrenzen inhaftiert werden – auch Traumatisierte, Menschen mit Behinderungen, Familien und allein fliehende Kinder.
Die humanitäre Krise an den Außengrenzen verschärfen, indem Unterbringungs- und Aufnahmestandards unter das erträgliche Minimum gesenkt werden. Notwendige unabhängige rechtliche Beratung oder ärztliche und psychologische Unterstützung werden absehbar nicht möglich sein.
Die Definition einer Instrumentalisierung ist zudem sehr vage und wurde bereits mit der Einigung über die Reform des Schengener Grenzkodex beschlossen. Auf Antrag des vermeintlich betroffenen Mitgliedstaats soll nach Empfehlung der Kommission der Rat mit Mehrheitsbeschluss über die Anwendung der Verordnung entscheiden.
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Moment der Wahrheit für die Bundesregierung: Steht sie ein für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit?
"Die Bundesregierung muss sich entscheiden: Steht sie auf der Seite von Ländern wie Polen, die schutzsuchende Menschen an ihren Grenzen misshandeln, oder auf der Seite von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit? Seit Jahren beobachten wir, dass grundlegende Rechte an den Außengrenzen verletzt werden. Mit der Instrumentalisierungsverordnung kommen die EU-Innenminister*innen den Ländern entgegen, die das Fundament der EU untergraben", kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, "die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden". An diese Aussage erinnern die 35 bundesweiten Organisationen in ihrem gemeinsamen Statement.
Sie stellen zudem fest: "Die Instrumentalisierungsverordnung droht, an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Europäisches Recht muss wieder angewendet werden – die vorgelegte Verordnung verbiegt aber das Recht und gibt so denen, die es derzeit an den Außengrenzen brechen, recht."
Toxisches Narrativ der Instrumentalisierung soll Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen
"Wenn es nach Aktivierung der Instrumentalisierungsverordnung überhaupt Menschen schaffen, einen Asylantrag zu stellen, dann werden alle Schutzsuchenden für ihr Asylverfahren bis zu fünf Monate inhaftiert – selbst Kinder und kranke Menschen. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Flucht ist kein Verbrechen. Aber diese Abschottungsverordnung bestraft die Menschen dafür, dass sie eine Chance nutzen und vor Krieg oder Verfolgung in ihrem Heimatland Schutz in Europa suchen", sagt Judith. "Der Vorschlag ist ein Tiefpunkt dessen, was in Brüssel ernsthaft in der Flüchtlingspolitik diskutiert wird. Die Bundesregierung muss sich auf ihren Koalitionsvertrag besinnen, eine rote Linie ziehen und die Verordnung ablehnen."
Schon jetzt verweigern Länder wie zum Beispiel Polen Schutzsuchenden an der Grenze zu Belarus das Recht, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Sie begründen dieses rechtswidrige Vorgehen damit, dass Belarus die Schutzsuchenden gegen die EU "instrumentalisiere". Dieses toxische Narrativ, dass Rechtverletzungen an Schutzsuchenden rechtfertigen soll, wird eins zu eins in der entsprechend benannten Verordnung übernommen. Auffällig ist auch: Die Maßnahmen in der Verordnung richten sich nur gegen die Menschen, nicht gegen die angeblich instrumentalisierenden Politiker*innen. Künftig könnten auch noch in anderen Situationen die "Instrumentalisierungs-Karte" gezogen werden, etwa durch die neo-faschistische Regierung in Italien gegenüber Seenotrettungsorganisationen. Denn auch nicht-staatliche Akteur*innen und Seenotrettung sollen als auslösende Momente zählen können, wenn ihnen vorgeworfen wird, die EU destabilisieren zu wollen.
Hintergrund zur Instrumentalisierungsverordnung
Den Vorschlag zur Instrumentalisierungsverordnung hat die Europäische Kommission im Dezember 2021 gemacht. Ein ähnlicher Vorschlag für ein Sonderrecht durch Ratsbeschluss für Polen, Litauen und Lettland war damals gescheitert. Die tschechische Ratspräsidentschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahres 2022 eine Einigung im Rat über eine Verhandlungsposition zu erreichen. Hierfür müsste am 8. Dezember eine Mehrheit im Rat hinter einem Kompromisstext stehen (von statewatch geleakter Kompromisstext vom 4. November 2022). Bereits im September protestierte ein breites europäisches Bündnis gegen den Vorschlag.
Die Instrumentalisierungsverordnung würde den Rechtsverstößen an den Außengrenzen kein Ende setzen, sondern:
Rechtswidrigen Pushbacks Vorschub leisten, da u.a. asylsuchende Menschen für bis zu vier Wochen nicht registriert werden müssen und verstärke Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen durch den Schengener Grenzkodex aktiviert werden.
Dafür sorgen, dass alle Menschen, die einen Asylantrag stellen, für bis zu fünf Monate an den Außengrenzen inhaftiert werden – auch Traumatisierte, Menschen mit Behinderungen, Familien und allein fliehende Kinder.
Die humanitäre Krise an den Außengrenzen verschärfen, indem Unterbringungs- und Aufnahmestandards unter das erträgliche Minimum gesenkt werden. Notwendige unabhängige rechtliche Beratung oder ärztliche und psychologische Unterstützung werden absehbar nicht möglich sein.
Die Definition einer Instrumentalisierung ist zudem sehr vage und wurde bereits mit der Einigung über die Reform des Schengener Grenzkodex beschlossen. Auf Antrag des vermeintlich betroffenen Mitgliedstaats soll nach Empfehlung der Kommission der Rat mit Mehrheitsbeschluss über die Anwendung der Verordnung entscheiden.
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