Donnerstag, 12. September 2024
Deutschland im Notstand? Veirrungen und Verwirrungen in der Asyldebatte
che2001, 00:02h
https://www.nds-fluerat.org/60340/aktuelles/selektive-ueberforderung/
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fordern demokratische Parteien die Ausrufung eines übergesetzlichen, „nationalen Notstands“, um sich über eine bestehende Rechtslage und verbindliche Gerichtsurteile hinwegzusetzen. Es sind dramatische Worte, mit denen die Vorsitzenden der CDU/CSU und der FDP einen „nationalen Notstand“ beim Asylrecht beschwören: Die hohe Zahl der Menschen, die derzeit nach Deutschland gelangt, überfordere unser Gemeinwesen. Der Anteil der Kinder ohne deutsche Muttersprache sei „so hoch, dass der Bildungserfolg ganzer Schulklassen gefährdet ist“, so Friedrich Merz (Newsletter vom 31.08.2024). “ „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland“, assistiert Christian Lindner (Tagesschau vom 05.09.2024). Auch Markus Söder beklagt: „Wir sind mit den Folgen und der Integration überfordert – und zwar nicht nur, was Kitas betrifft und Schulen und Wohnungen. Sondern wir sind auch zum Teil kulturell überfordert. (…) Und die Wahrheit ist einfach: Es ist uns über den Kopf gewachsen.“ (Tagesschau vom 08.09.2024)
Die Beschreibungen geben Anlass, sich diese „Überforderung“ einmal näher anzusehen: Vernachlässigen wir an dieser Stelle den strukturellen Rassismus eines Söder, der mit der Feststellung einer „kulturellen Überforderung“ noch ein qualitatives „Argument“ in die Diskussion bringt, und widmen uns allein den Zahlen: Wie stellt sich das Migrationsgeschehen in Deutschland in den vergangenen Jahren und aktuell dar? Ein Blick auf die Wanderungsbewegungen aus und nach Deutschland macht klar, dass Deutschland ganz offensichtlich in starkem Maße von Migration geprägt und abhängig ist:
Im Jahr 2023 sind 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen. Die Anzahl der Auswander*innen aus Deutschland betrug im selben Jahr rund 1,3 Millionen. Der Wanderungssaldo, also der Saldo zwischen Zuzügen und Fortzügen, betrug demnach plus 600.000. Die Nettozuwanderung lag damit um 55 % niedriger als im Jahr 2022, als eine Rekordzahl von 2,67 Mio Menschen nach Deutschland zuwanderten. Dieser hohe Wert ist im Wesentlichen auf die Aufnahme von 1,1 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine zurückzuführen. 1,2 Millionen Menschen verließen die Bundesrepublik. Im Saldo lässt sich für das Jahr 2022 eine Zzuwanderung von 1,46 Mio Menschen feststellen. 2021 wurden 1.32 Mio Zuzüge und 990.000 Fortzüge erfasst. Die Nettomigration lag bei rund 330.000 Personen. Im Jahr 2020 wurden insgesamt 1.19 Mio Zuzüge und 970.000 Fortzüge erfasst. Resultat dieser Entwicklungen ist ein Wanderungssaldo von +220.000 Personen, ein deutlich geringerer Wert als im Jahr 2019 (+330.000 Personen).
Gemessen an diesen Zahlen erscheint die Zahl der erfassten Asylsuchenden pro Jahr vergleichsweise klein: Bis zur Jahresmitte 2024 wurden gerade mal 120.000 Asylerstanträge registriert.
Im Jahr 2023 entfielen mit 329.000 Asylerstanträgen rund 17% aller Zuwanderungen auf Asyl. Im Jahr 2022 wurden 218.000 Asylerstanträge gestellt. Gemessen an der Gesamtzuwanderung des Jahres 2022 waren das gerade mal 8 %. Auch in den Vorjahren bewegte sich der Anteil der Asylsuchenden an der Gesamtzuwanderung in dieser Größenordnung (2019: 9%; 2020: 8%; 2021: 16%). Selbst 2015 und 2016, als die Bundesrepublik Rekordzahlen für Asylsuchende verzeichnete, machten Geflüchtete unter den Zugewanderten weniger als ein Viertel aus (2015: 23%; 2016: 17%, siehe Fachkräftemonitor 2023, S. 23).
Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Zwischen 77% und 92% aller Zugewanderten haben in den vergangenen zehn Jahren keinen Asylantrag gestellt. Wenn wir die Sondersituation des Jahres 2022 außer acht lassen, als ukrainische Schutzsuchende mit über einer Million Menschen die größte Zuwanderungsgruppe darstellten, fällt die überwiegende Zuwanderung auf Menschen aus EU-Staaten: Die EU-Binnenmigration liegt traditionell zwischen 30% und 50% aller Zuwanderungen. 2022 war ein Ausnahmejahr, da betrug der Anteil der EU-Zuwanderungen mit über 600.000 Menschen „nur“ 20% – die Zahl ist aber immer noch knapp dreimal höher als die Zahl der Asylsuchenden im gleichen Jahr. 217.000 Menschen kamen allein aus Rumänien nach Deutschland – das waren fast ebenso viele, wie aus allen Ländern der Welt über Asyl nach Deutschland kamen. 100.000 wanderten aus Polen ein, 77.000 aus Bulgarien. 180.000 zogen als „deutsche Staatsangehörige“ nach Deutschland. 90.000 kamen im Rahmen des Familiennachzugs, 70.000 zu Erwerbszwecken, 60.000 im Rahmen eines Bildungsangebotes.
Für 2023 liegen noch nicht alle Zahlen vor, aber erneut ist die Gruppe der EU_Bürger*innen mit rund 466.500 Menschen die größte Zuwanderungsgruppe. Die meisten EU-Einwanderer*innen kamen 2023 aus Rumänien (rund 152.300), Polen (79.000) und Bulgarien (51.700). Aus der Ukraine kamen 2023 insgesamt 276 000 Personen.
Fazit:
Für Deutschland lässt sich ein bemerkenswert hohes und über die Jahre tendenziell ansteigendes Migrationsgeschehen feststellen. Angesichts der hohen Zuwanderungszahlen vergrößern sich die bereits seit Jahren aufgelaufenen Probleme im Wohnungs- und Bildungsbereich. Die Aufnahme von Schutzsuchenden über das Asylrecht macht in dem Gesamtgeschehen allerdings nur einen kleinen Teil aus. Für die langfristigen Versäumnisse im Bildungsbereich und beim sozialen Wohnungsbau sind Asylsuchende weder verantwortlich, noch lassen sich die Probleme auf ihrem Rücken lösen. Dennoch wird eine „Lösung“ allein beim Thema Asyl verortet.
Die vor allem von der CDU/CSU, aber auch von der FDP vorgenommene Zuspitzung der Diskussion auf Fragen der Asylgewährung ist sachlich unbegründet: Auch andere Zuwanderungsgruppen benötigen Wohnraum, Schul- und Kindergartenplätze. Die Ausrufung eines „nationalen Notstands“ aufgrund des aktuellen Asylgeschehens ist offenkundig nicht gerechtfertigt und drückt eher den Unwillen als das Unvermögen der beteiligten Politiker*innen aus, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu sorgen. Nicht die Kontrolle über das Asylgeschehen ist verloren gegangen, sondern die Debatte darüber ist völlig außer Kontrolle, weil besonnene und mäßigende Stimmen fehlen. Leider setzen auch die Parteispitzen von SPD und Grünen dem Notstandsgerede bislang nichts Substanzielles entgegen und suchen den Schulterschluss mit der Opposition. Von dieser Entwicklung profitiert vor allem die AFD, die nicht zu Unrecht für sich reklamiert, die Tonlage vorgegeben zu haben. Dass man auch anders und pragmatisch die mit der Aufnahme von Menschen aus dem Ausland verbundenen Herausforderungen meistern kann, hat die deutsche Politik 2022 bewiesen, als die den Betroffenen alle Möglichkeiten eröffnete, sich selbst zu helfen und bei Freund*innen und Bekannten unterzukommen (siehe dazu ausführlich unseren Kommentar vom 18.09.2023: Kritische Anmerkungen zur aktuellen Asyldiskussion).
Das Asylrecht steht als subjektives Recht in unserer Verfassung und ist völkerrechtlich geschützt, weil sich nach den Erfahrungen von Krieg und Faschismus nie wieder die Situation wiederholen sollte, dass Schutzsuchende an Grenzen abgewiesen und in Verfolgerstaaten zurückgezwungen werden. Insofern verbieten sich Zahlenspiele, die Flüchtlingsaufnahme ist nicht auf eine willkürlich gewählte Zahl kontingentierbar. Dennoch lohnt sich in der Debatte auch ein Blick auf die gesamtgesellschaftliche Lage: Deutschland benötigt nach Aussagen des DIW-Chefs Fratzscher jährlich rund eine halbe Million zusätzliche Arbeitskräfte, um den Arbeitskräftebedarf der Bundesrepublik Deutschlands für die Zukunft zu decken. Diese Arbeitskräfte haben Partner*innen, Kinder und Familienangehörige, insofern wird es nicht bei einer halben Million bleiben. Es wäre mehr als zynisch und wird auch nicht funktionieren, Schutzsuchende unter Beschwörung eines „Nationalen Notstands“ an den Grenzen abzuweisen und dann den Fachkräften eine „Willkommenskultur“ vorzugaukeln. Und es ist mehr als logisch, zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs auch Geflüchtete einzubeziehen, deren Integration in den Arbeitsmarkt seit 2015 ganz gut geklappt hat: Von den 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten hatten knapp zwei Drittel sieben Jahre später eine Arbeit. 90 Prozent dieser Beschäftigten sind sozialversicherungspflichtig angestellt, rund drei Viertel in einer Vollzeitstelle. Um den Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu decken, braucht es ein Werben um Arbeitskräfte u n d verstärkte Anstrengungen für eine Arbeitsmarktintegration auch derjenigen, die als Geflüchtete unter uns leben.
Ein pragmatischer Umgang mit den Herausforderungen erfordert zunächst einmal verbale Abrüstung und einen nüchternen Blick auf die Faktenlage. Die verbale Ausgrenzung und Kriminalisierung beginnt schon mit der Begrifflichkeit, mit der wir über Geflüchtete sprechen: Asylsuchende sind keine „irreguläre Migrant*innen“, sondern Menschen in Not, die ein verbrieftes Grundrecht in Anspruch nehmen, für das es ein geordnetes Verfahren gibt. Zu einer rationalen Betrachtung gehört die Erkenntnis, dass die Gefahr eines Terroranschlags durch Islamisten unabhängig von der Asylthematik besteht: In Großbritannien, Frankreich oder Belgien ist es trotz geringer Asylzahlen zu mehr Anschlägen gekommen als in Deutschland. Es ist nicht auszuschließen, dass islamistische Terroristen das Asylrecht missbrauchen, aber die übergroße Mehrzahl der Geflüchteten sucht Schutz vor islamistischer Gewalt und autoritärer Verfolgung. Es wäre widersinnig und fragwürdig, den Opfern von islamistischen Terrorregimen den Schutz zu verweigern und zur Organisation von Abschiebungen mit den Vertretungen dieser Regime zusammenzuarbeiten. Gegen Autoritarismus und Terrorismus braucht es einen starken Staat, der die Verfassung, die demokratischen Werte und die Menschenrechte verteidigt und mit den Opfern von Verfolgung Solidarität und Empathie zeigt.
--
Kai Weber Geschäftsführer
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.,
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland fordern demokratische Parteien die Ausrufung eines übergesetzlichen, „nationalen Notstands“, um sich über eine bestehende Rechtslage und verbindliche Gerichtsurteile hinwegzusetzen. Es sind dramatische Worte, mit denen die Vorsitzenden der CDU/CSU und der FDP einen „nationalen Notstand“ beim Asylrecht beschwören: Die hohe Zahl der Menschen, die derzeit nach Deutschland gelangt, überfordere unser Gemeinwesen. Der Anteil der Kinder ohne deutsche Muttersprache sei „so hoch, dass der Bildungserfolg ganzer Schulklassen gefährdet ist“, so Friedrich Merz (Newsletter vom 31.08.2024). “ „Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland“, assistiert Christian Lindner (Tagesschau vom 05.09.2024). Auch Markus Söder beklagt: „Wir sind mit den Folgen und der Integration überfordert – und zwar nicht nur, was Kitas betrifft und Schulen und Wohnungen. Sondern wir sind auch zum Teil kulturell überfordert. (…) Und die Wahrheit ist einfach: Es ist uns über den Kopf gewachsen.“ (Tagesschau vom 08.09.2024)
Die Beschreibungen geben Anlass, sich diese „Überforderung“ einmal näher anzusehen: Vernachlässigen wir an dieser Stelle den strukturellen Rassismus eines Söder, der mit der Feststellung einer „kulturellen Überforderung“ noch ein qualitatives „Argument“ in die Diskussion bringt, und widmen uns allein den Zahlen: Wie stellt sich das Migrationsgeschehen in Deutschland in den vergangenen Jahren und aktuell dar? Ein Blick auf die Wanderungsbewegungen aus und nach Deutschland macht klar, dass Deutschland ganz offensichtlich in starkem Maße von Migration geprägt und abhängig ist:
Im Jahr 2023 sind 1,9 Millionen Menschen nach Deutschland zugezogen. Die Anzahl der Auswander*innen aus Deutschland betrug im selben Jahr rund 1,3 Millionen. Der Wanderungssaldo, also der Saldo zwischen Zuzügen und Fortzügen, betrug demnach plus 600.000. Die Nettozuwanderung lag damit um 55 % niedriger als im Jahr 2022, als eine Rekordzahl von 2,67 Mio Menschen nach Deutschland zuwanderten. Dieser hohe Wert ist im Wesentlichen auf die Aufnahme von 1,1 Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine zurückzuführen. 1,2 Millionen Menschen verließen die Bundesrepublik. Im Saldo lässt sich für das Jahr 2022 eine Zzuwanderung von 1,46 Mio Menschen feststellen. 2021 wurden 1.32 Mio Zuzüge und 990.000 Fortzüge erfasst. Die Nettomigration lag bei rund 330.000 Personen. Im Jahr 2020 wurden insgesamt 1.19 Mio Zuzüge und 970.000 Fortzüge erfasst. Resultat dieser Entwicklungen ist ein Wanderungssaldo von +220.000 Personen, ein deutlich geringerer Wert als im Jahr 2019 (+330.000 Personen).
Gemessen an diesen Zahlen erscheint die Zahl der erfassten Asylsuchenden pro Jahr vergleichsweise klein: Bis zur Jahresmitte 2024 wurden gerade mal 120.000 Asylerstanträge registriert.
Im Jahr 2023 entfielen mit 329.000 Asylerstanträgen rund 17% aller Zuwanderungen auf Asyl. Im Jahr 2022 wurden 218.000 Asylerstanträge gestellt. Gemessen an der Gesamtzuwanderung des Jahres 2022 waren das gerade mal 8 %. Auch in den Vorjahren bewegte sich der Anteil der Asylsuchenden an der Gesamtzuwanderung in dieser Größenordnung (2019: 9%; 2020: 8%; 2021: 16%). Selbst 2015 und 2016, als die Bundesrepublik Rekordzahlen für Asylsuchende verzeichnete, machten Geflüchtete unter den Zugewanderten weniger als ein Viertel aus (2015: 23%; 2016: 17%, siehe Fachkräftemonitor 2023, S. 23).
Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Zwischen 77% und 92% aller Zugewanderten haben in den vergangenen zehn Jahren keinen Asylantrag gestellt. Wenn wir die Sondersituation des Jahres 2022 außer acht lassen, als ukrainische Schutzsuchende mit über einer Million Menschen die größte Zuwanderungsgruppe darstellten, fällt die überwiegende Zuwanderung auf Menschen aus EU-Staaten: Die EU-Binnenmigration liegt traditionell zwischen 30% und 50% aller Zuwanderungen. 2022 war ein Ausnahmejahr, da betrug der Anteil der EU-Zuwanderungen mit über 600.000 Menschen „nur“ 20% – die Zahl ist aber immer noch knapp dreimal höher als die Zahl der Asylsuchenden im gleichen Jahr. 217.000 Menschen kamen allein aus Rumänien nach Deutschland – das waren fast ebenso viele, wie aus allen Ländern der Welt über Asyl nach Deutschland kamen. 100.000 wanderten aus Polen ein, 77.000 aus Bulgarien. 180.000 zogen als „deutsche Staatsangehörige“ nach Deutschland. 90.000 kamen im Rahmen des Familiennachzugs, 70.000 zu Erwerbszwecken, 60.000 im Rahmen eines Bildungsangebotes.
Für 2023 liegen noch nicht alle Zahlen vor, aber erneut ist die Gruppe der EU_Bürger*innen mit rund 466.500 Menschen die größte Zuwanderungsgruppe. Die meisten EU-Einwanderer*innen kamen 2023 aus Rumänien (rund 152.300), Polen (79.000) und Bulgarien (51.700). Aus der Ukraine kamen 2023 insgesamt 276 000 Personen.
Fazit:
Für Deutschland lässt sich ein bemerkenswert hohes und über die Jahre tendenziell ansteigendes Migrationsgeschehen feststellen. Angesichts der hohen Zuwanderungszahlen vergrößern sich die bereits seit Jahren aufgelaufenen Probleme im Wohnungs- und Bildungsbereich. Die Aufnahme von Schutzsuchenden über das Asylrecht macht in dem Gesamtgeschehen allerdings nur einen kleinen Teil aus. Für die langfristigen Versäumnisse im Bildungsbereich und beim sozialen Wohnungsbau sind Asylsuchende weder verantwortlich, noch lassen sich die Probleme auf ihrem Rücken lösen. Dennoch wird eine „Lösung“ allein beim Thema Asyl verortet.
Die vor allem von der CDU/CSU, aber auch von der FDP vorgenommene Zuspitzung der Diskussion auf Fragen der Asylgewährung ist sachlich unbegründet: Auch andere Zuwanderungsgruppen benötigen Wohnraum, Schul- und Kindergartenplätze. Die Ausrufung eines „nationalen Notstands“ aufgrund des aktuellen Asylgeschehens ist offenkundig nicht gerechtfertigt und drückt eher den Unwillen als das Unvermögen der beteiligten Politiker*innen aus, für menschenwürdige Aufnahmebedingungen zu sorgen. Nicht die Kontrolle über das Asylgeschehen ist verloren gegangen, sondern die Debatte darüber ist völlig außer Kontrolle, weil besonnene und mäßigende Stimmen fehlen. Leider setzen auch die Parteispitzen von SPD und Grünen dem Notstandsgerede bislang nichts Substanzielles entgegen und suchen den Schulterschluss mit der Opposition. Von dieser Entwicklung profitiert vor allem die AFD, die nicht zu Unrecht für sich reklamiert, die Tonlage vorgegeben zu haben. Dass man auch anders und pragmatisch die mit der Aufnahme von Menschen aus dem Ausland verbundenen Herausforderungen meistern kann, hat die deutsche Politik 2022 bewiesen, als die den Betroffenen alle Möglichkeiten eröffnete, sich selbst zu helfen und bei Freund*innen und Bekannten unterzukommen (siehe dazu ausführlich unseren Kommentar vom 18.09.2023: Kritische Anmerkungen zur aktuellen Asyldiskussion).
Das Asylrecht steht als subjektives Recht in unserer Verfassung und ist völkerrechtlich geschützt, weil sich nach den Erfahrungen von Krieg und Faschismus nie wieder die Situation wiederholen sollte, dass Schutzsuchende an Grenzen abgewiesen und in Verfolgerstaaten zurückgezwungen werden. Insofern verbieten sich Zahlenspiele, die Flüchtlingsaufnahme ist nicht auf eine willkürlich gewählte Zahl kontingentierbar. Dennoch lohnt sich in der Debatte auch ein Blick auf die gesamtgesellschaftliche Lage: Deutschland benötigt nach Aussagen des DIW-Chefs Fratzscher jährlich rund eine halbe Million zusätzliche Arbeitskräfte, um den Arbeitskräftebedarf der Bundesrepublik Deutschlands für die Zukunft zu decken. Diese Arbeitskräfte haben Partner*innen, Kinder und Familienangehörige, insofern wird es nicht bei einer halben Million bleiben. Es wäre mehr als zynisch und wird auch nicht funktionieren, Schutzsuchende unter Beschwörung eines „Nationalen Notstands“ an den Grenzen abzuweisen und dann den Fachkräften eine „Willkommenskultur“ vorzugaukeln. Und es ist mehr als logisch, zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs auch Geflüchtete einzubeziehen, deren Integration in den Arbeitsmarkt seit 2015 ganz gut geklappt hat: Von den 2015 nach Deutschland gekommenen Geflüchteten hatten knapp zwei Drittel sieben Jahre später eine Arbeit. 90 Prozent dieser Beschäftigten sind sozialversicherungspflichtig angestellt, rund drei Viertel in einer Vollzeitstelle. Um den Arbeitskräftebedarf in Deutschland zu decken, braucht es ein Werben um Arbeitskräfte u n d verstärkte Anstrengungen für eine Arbeitsmarktintegration auch derjenigen, die als Geflüchtete unter uns leben.
Ein pragmatischer Umgang mit den Herausforderungen erfordert zunächst einmal verbale Abrüstung und einen nüchternen Blick auf die Faktenlage. Die verbale Ausgrenzung und Kriminalisierung beginnt schon mit der Begrifflichkeit, mit der wir über Geflüchtete sprechen: Asylsuchende sind keine „irreguläre Migrant*innen“, sondern Menschen in Not, die ein verbrieftes Grundrecht in Anspruch nehmen, für das es ein geordnetes Verfahren gibt. Zu einer rationalen Betrachtung gehört die Erkenntnis, dass die Gefahr eines Terroranschlags durch Islamisten unabhängig von der Asylthematik besteht: In Großbritannien, Frankreich oder Belgien ist es trotz geringer Asylzahlen zu mehr Anschlägen gekommen als in Deutschland. Es ist nicht auszuschließen, dass islamistische Terroristen das Asylrecht missbrauchen, aber die übergroße Mehrzahl der Geflüchteten sucht Schutz vor islamistischer Gewalt und autoritärer Verfolgung. Es wäre widersinnig und fragwürdig, den Opfern von islamistischen Terrorregimen den Schutz zu verweigern und zur Organisation von Abschiebungen mit den Vertretungen dieser Regime zusammenzuarbeiten. Gegen Autoritarismus und Terrorismus braucht es einen starken Staat, der die Verfassung, die demokratischen Werte und die Menschenrechte verteidigt und mit den Opfern von Verfolgung Solidarität und Empathie zeigt.
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Kai Weber Geschäftsführer
Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.,
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Mittwoch, 11. September 2024
Kommitee für Grundrechte und Demokratie zum Protest gegen Abschiebegefängnis in Düsseldorf
che2001, 17:18h
Presseinformation des Bündnisses „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall"
Gegen einen Ausbau von Abschiebegefängnissen in NRW.
Stopp des populistischen Überbietungswettbewerbs bei der Abschiebehaft!
Sofort nach dem tödlichen Anschlag in Solingen am 23. August 2024 nimmt auch die rassistische und menschenfeindliche Debatte um Abschiebungen und Abschiebehaft unter Politiker*innen in Nordrhein-Westfalen an Fahrt auf. Unter anderem wird erneut der Bau eines weiteren Abschiebegefängnisses vorgeschlagen - obwohl NRW mit Büren über den größten Abschiebeknast Deutschlands verfügt.
Büren ist deutschlandweit bekannt für seine unmenschlichen Haftbedingungen. Abschiebehaft darf außerdem nicht als Strafe dienen, diese Form der Inhaftierung von Menschen ist abzulehnen.
Leonie für das Bündnis "Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall":
„Statt über Ursachen von Gewalt in der Gesellschaft zu sprechen, werden gewaltsame Praktiken wie die Ausweitung der Abschiebehaft gefordert. Eine populistische Forderung folgt der nächsten und Millionen Menschen in Deutschland werden für eine Straftat in Mithaftung genommen und unter Generalverdacht gestellt. Wir lehnen Abschiebehaft unter allen Umständen ab. Der schon jetzt in Nordrhein-Westfalen praktizierte tausendfache Freiheitsentzug als Vorbereitung für Abschiebungen im Abschiebegefängnis Büren ist eine permanente Entrechtung und Erniedrigung von Menschen. Erst im September 2023 ist wieder ein Mensch in Büren verstorben."
Im Dezember 2023 waren sich Landesregierung, die regierungstragenden Fraktionen im Landtag sowie die SPD-Fraktion einig: die aus vorherigen Legislaturperioden stammenden Pläne für den Bau eines weiteren Abschiebegefängnisses in Nordrhein-Westfalen würden nicht weiterverfolgt, da in den letzten Jahren oft mehr als die Hälfte aller Haftplätze in Büren nicht belegt waren und die zur Verfügung stehenden Plätze ausreichend seien. Folgerichtig hat die Landesregierung die seit 2021 im Landeshaushalt für das Vorhaben reservierten Millionen-Euro-Beträge nun für 2025 aus dem Haushaltsentwurf gestrichen.
Regine Heider von STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative e.V., Mitglied im Bündnis "Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall":
„ In Zeiten vermeintlich knapper Kassen sind Millionenbeträge für die Ausweitung von Abschiebehaft ein aus der Zeit gefallenes Vorhaben. Das Geld sollte dringend für soziale Belange eingesetzt werden statt für die weitere Entrechtung von Menschen. Wir fordern die Landtagsmehrheit dazu auf, in den anstehenden Haushaltsberatungen daran festzuhalten."
Kontakt:
Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall"
E-Mail: info (at) abschiebegefaengnis-verhindern.de
Mehr:
Schießplatz, Kläranlage oder Lärmschutzzone: potentielle Standorte für Abschiebegefängnis in Düsseldorf aufgedeckt, Meldung Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall" vom 07. Mai 2024
(https://abschiebegefaengnis-verhindern.de/2024/schiessplatz-klaeranlage-oder-laermschutzzone-potentielle-standorte-fuerabschiebegefaengnis-in-duesseldorf-aufgedeckt/)
Landtag: Abschiebegefängnis in Düsseldorf unnötig, Meldung Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall" vom 10. Januar 2024
(https://abschiebegefaengnis-verhindern.de/2024/landtag-abschiebegefaengnis-in-duesseldorf-unnoetig/)
Mehr zum Bündnis:
Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall
E-Mail: info (at) abschiebegefaengnis-verhindern.de
Website: https://abschiebegefaengnis-verhindern.de
Instagram: https://www.instagram.com/abschiebegefaengnis_stoppen/
Mastodon: https://nrw.social/@keinknast
Bluesky: https://bsky.app/profile/keinknast.bsky.social
Das überregionale Bündnis Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall hat sich nach dem Bekanntwerden des Bauvorhabens für ein Abschiebegefängnis in Düsseldorf Anfang 2022 gegründet, um dagegen vorzugehen und das Vorhaben in die Öffentlichkeit zu bringen. Durch eine Klage auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes hat das Bündnis tausende Seiten Akten zu den Planungen der letzten Jahre an die Öffentlichkeit gebracht. Dem Bündnis gehören 14 lokale und überregionale Initiativen und Gruppen an. 19 weitere Initiativen, Gruppen und Vereine haben das gemeinsame Bündnis-Papier mitgezeichnet.
Gegen einen Ausbau von Abschiebegefängnissen in NRW.
Stopp des populistischen Überbietungswettbewerbs bei der Abschiebehaft!
Sofort nach dem tödlichen Anschlag in Solingen am 23. August 2024 nimmt auch die rassistische und menschenfeindliche Debatte um Abschiebungen und Abschiebehaft unter Politiker*innen in Nordrhein-Westfalen an Fahrt auf. Unter anderem wird erneut der Bau eines weiteren Abschiebegefängnisses vorgeschlagen - obwohl NRW mit Büren über den größten Abschiebeknast Deutschlands verfügt.
Büren ist deutschlandweit bekannt für seine unmenschlichen Haftbedingungen. Abschiebehaft darf außerdem nicht als Strafe dienen, diese Form der Inhaftierung von Menschen ist abzulehnen.
Leonie für das Bündnis "Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall":
„Statt über Ursachen von Gewalt in der Gesellschaft zu sprechen, werden gewaltsame Praktiken wie die Ausweitung der Abschiebehaft gefordert. Eine populistische Forderung folgt der nächsten und Millionen Menschen in Deutschland werden für eine Straftat in Mithaftung genommen und unter Generalverdacht gestellt. Wir lehnen Abschiebehaft unter allen Umständen ab. Der schon jetzt in Nordrhein-Westfalen praktizierte tausendfache Freiheitsentzug als Vorbereitung für Abschiebungen im Abschiebegefängnis Büren ist eine permanente Entrechtung und Erniedrigung von Menschen. Erst im September 2023 ist wieder ein Mensch in Büren verstorben."
Im Dezember 2023 waren sich Landesregierung, die regierungstragenden Fraktionen im Landtag sowie die SPD-Fraktion einig: die aus vorherigen Legislaturperioden stammenden Pläne für den Bau eines weiteren Abschiebegefängnisses in Nordrhein-Westfalen würden nicht weiterverfolgt, da in den letzten Jahren oft mehr als die Hälfte aller Haftplätze in Büren nicht belegt waren und die zur Verfügung stehenden Plätze ausreichend seien. Folgerichtig hat die Landesregierung die seit 2021 im Landeshaushalt für das Vorhaben reservierten Millionen-Euro-Beträge nun für 2025 aus dem Haushaltsentwurf gestrichen.
Regine Heider von STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative e.V., Mitglied im Bündnis "Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall":
„ In Zeiten vermeintlich knapper Kassen sind Millionenbeträge für die Ausweitung von Abschiebehaft ein aus der Zeit gefallenes Vorhaben. Das Geld sollte dringend für soziale Belange eingesetzt werden statt für die weitere Entrechtung von Menschen. Wir fordern die Landtagsmehrheit dazu auf, in den anstehenden Haushaltsberatungen daran festzuhalten."
Kontakt:
Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall"
E-Mail: info (at) abschiebegefaengnis-verhindern.de
Mehr:
Schießplatz, Kläranlage oder Lärmschutzzone: potentielle Standorte für Abschiebegefängnis in Düsseldorf aufgedeckt, Meldung Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall" vom 07. Mai 2024
(https://abschiebegefaengnis-verhindern.de/2024/schiessplatz-klaeranlage-oder-laermschutzzone-potentielle-standorte-fuerabschiebegefaengnis-in-duesseldorf-aufgedeckt/)
Landtag: Abschiebegefängnis in Düsseldorf unnötig, Meldung Bündnis „Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall" vom 10. Januar 2024
(https://abschiebegefaengnis-verhindern.de/2024/landtag-abschiebegefaengnis-in-duesseldorf-unnoetig/)
Mehr zum Bündnis:
Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall
E-Mail: info (at) abschiebegefaengnis-verhindern.de
Website: https://abschiebegefaengnis-verhindern.de
Instagram: https://www.instagram.com/abschiebegefaengnis_stoppen/
Mastodon: https://nrw.social/@keinknast
Bluesky: https://bsky.app/profile/keinknast.bsky.social
Das überregionale Bündnis Abschiebegefängnis verhindern - in Düsseldorf und überall hat sich nach dem Bekanntwerden des Bauvorhabens für ein Abschiebegefängnis in Düsseldorf Anfang 2022 gegründet, um dagegen vorzugehen und das Vorhaben in die Öffentlichkeit zu bringen. Durch eine Klage auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes hat das Bündnis tausende Seiten Akten zu den Planungen der letzten Jahre an die Öffentlichkeit gebracht. Dem Bündnis gehören 14 lokale und überregionale Initiativen und Gruppen an. 19 weitere Initiativen, Gruppen und Vereine haben das gemeinsame Bündnis-Papier mitgezeichnet.
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Petition gegen die Verschärfung des Asylrechts
che2001, 16:36h
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Gegen die Asylrechtsverschärfungen - kein Menschenrecht light!
che2001, 13:03h
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Freitag, 12. April 2024
Kulturelle Aneignung
che2001, 12:41h
Der seltsame Antirassismusdiskurs um kulturelle Aneignung ist ja eher eine Angelegenheit deutscher oder amerikanischer und europäischer akademischer Eliten. Weder in der entwicklungsspolitischen Diskussion noch in der Flüchtlingssolidarität ist mir das in größerem Umfang begegnet, wohl allerdings in unzähligen Blogdiskussionen mit politisch korrekten, wegen mir woken SupermoralistInnen.
Nun wurde der namibiadeutsche Sänger Eese genau dafür kritisiert: Er betreibe mit seiner Musik kulturelle Aneignung. Worauf er dann erwiderte, das sei die Musik seiner Heimat, die Deutschen seien dort, wie die Himba, Herero, Nama, San und Dama einer der Stämme des Landes, und ihm verbieten zu wollen die Musik seiner Heimat zu spielen sei so, wie einem in Deutschland geborenen schwarzen Afrodeutschen seine deutsche Identität abzusprechen.
Und dann redete er Deutsch, genauer gesagt, Namslang, eine Mischung aus Deutsch und Afrikaans mit zahlreichen Lehnwörtern aus Ovambo, anderen Bantusprachen und den klickenden Khoisansprachen.
Nun wurde der namibiadeutsche Sänger Eese genau dafür kritisiert: Er betreibe mit seiner Musik kulturelle Aneignung. Worauf er dann erwiderte, das sei die Musik seiner Heimat, die Deutschen seien dort, wie die Himba, Herero, Nama, San und Dama einer der Stämme des Landes, und ihm verbieten zu wollen die Musik seiner Heimat zu spielen sei so, wie einem in Deutschland geborenen schwarzen Afrodeutschen seine deutsche Identität abzusprechen.
Und dann redete er Deutsch, genauer gesagt, Namslang, eine Mischung aus Deutsch und Afrikaans mit zahlreichen Lehnwörtern aus Ovambo, anderen Bantusprachen und den klickenden Khoisansprachen.
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Montag, 4. März 2024
Probleme des Antirassismus, ein Zwischenbericht
che2001, 11:41h
Vor einiger Zeit hatte ich auf Empfehlung Bersarins mit der Lektüre des Sammelbands "Probleme des Antirassismus" begonnen und als jemand, der sich selber als Antirassist definiert und lange Zeit sehr engagierter Antira-Aktivist war mich von den vertretenen Ansichten und Positionen ziemlich irritiert gefühlt.
https://che2001.blogger.de/stories/2877289
Das wurde nach Fortsetzung der Lektüre nicht besser. Manches ist hochinteressant, so die Auseinandersetzung mit dem verkürzten, klischeehaften Antirassismus von Edward Said (böse könnte man das auch Kitschversion von Panarabismus nennen) oder die erkenntnisbringenden Erläuterungen postkolonialer Studien, die nicht nur hinter die Dialektik der Aufklärung, sondern hinter die Aufklärung selbst zurückfallen. Etwa, wenn Ethnien um ihrer selbst wegen im Rahmen des Antirassismus, der Antidiskriminierung geschätzt und aufgewertet werden, was dann auf das "naturhaft-Besondere" hinausläuft. Poststrukturalistische, dekonstruktivistische Diskurse, die de facto plötzlich wieder auf Rassen hinauslaufen, auch wenn das niemand direkt so sagt.
Andererseits werden dort auch Theorieansätze abgehandelt, zu denen mir nur noch WTF einfällt, etwa, wenn soziale und ökonomische Verhältnisse in Vektoren und Formeln gefasst werden.
Interessant finde ich die Schlussfolgerung von Andreas Benl, mit der ich trotzdem nicht einverstanden bin.
"In Europa und den USA wird die Frage beantwortet werden müssen, ob man an der delegierten Regression festhalten und sie mit immer neuen Stellvertretern aus dem „Global South“ besetzen will, die kaum noch kaschieren können, dass Kulturalismus und Antizionismus „im Namen des Anderen“ ideologische Bedürfnisse in Akademie, Kultur und Politik westlicher Metropolen bedienen. Oder ob es möglich ist, im jeweiligen wohlverstandenen Eigeninteresse transnationale Bündnisse zu bilden gegen die unterschiedlichsten Formen antizivilisatorischer Identitätspolitik, deren Fluchtpunkt immer wieder der Antisemitismus ist."
Einerseits stimmt es natürlich, dass falsche Projektion seit jeher den Umgang westlicher Linker mit fremden Gesellschaften prägt und neben Selbstbespiegelung im Fremden die Stellvertreterrolle von revolutionären oder sozialen Bewegungen im globalen Süden für nicht stattfindende Kämpfe hierzulande ebenso eine Rolle spielt wie die unkritische Übernahme eines kategorischen Antizionismus etwa von palästinensischer Seite.
Dabei geht aber völlig verloren, was Antiimperialismus (der klassische, nicht der neue) eigentlich meint.
Kernthese ist hierbei die Annahme, dass der globale Kapitalismus einen geopolitischen Charakter angenommen hat. Die Arbeiterschaft in den Industriemetropolen ist kein Proletariat mehr, sondern im Weltmaßstab betrachtet eine Mittelschicht, die selbst von der Ausbeutung der früher einmal so genannten Dritten Welt profitiert. Soziale Revolution ist somit auch nur noch im Weltmaßstab denkbar, getragen von den verarmten Massen des globalen Südens. Die Aufgabe, die der Linken in den Metropolen in diesem Kontext zukommt, wäre die Unterstützung von Befreiungsbewegungen im Trikont, die Unterstützung von Entwicklungsprojekten, die gerade nicht auf Ausweitung imperialistischer Ausbeutungsstrukturen abzielen und die Behinderung von Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen. Wobei Letzteres insbesondere die Sabotage von Militäroperationen des Westens meint, die der - tatsächlichen oder vermeintlichen - Bekämpfung antiimperialistischer Aufstände im globalen Süden dienen. In diesem Sinne kann Antiimperialismus dann von Engagement in der Friedensbewegung bis hin zu Mitgliedschaft in bewaffneten Gruppen wie der früheren RAF reichen.
Das ist so in etwa das Weltbild und Politikverständnis der Antiimps, wie sie im Szenejargon einmal hießen. Das ist durchaus nicht meins, mein eigener politischer Hintergrund hat sich ja gerade in Abgrenzung zu diesem klassischen Antiimperialismus herausgebildet. Aber dass dieser gar nicht mehr gewusst wird und man sich nur noch an einem grundsätzlich mit Antisemitismus konnotierten Antiimperialismusbegriff abarbeitet, der aus einer sehr speziellen Anwendung der Kritischen Theorie hervorgegangen ist und so etwas wie Klassenkampf gar nicht mehr kennt stößt mir sehr sauer auf.
https://che2001.blogger.de/stories/2877289
Das wurde nach Fortsetzung der Lektüre nicht besser. Manches ist hochinteressant, so die Auseinandersetzung mit dem verkürzten, klischeehaften Antirassismus von Edward Said (böse könnte man das auch Kitschversion von Panarabismus nennen) oder die erkenntnisbringenden Erläuterungen postkolonialer Studien, die nicht nur hinter die Dialektik der Aufklärung, sondern hinter die Aufklärung selbst zurückfallen. Etwa, wenn Ethnien um ihrer selbst wegen im Rahmen des Antirassismus, der Antidiskriminierung geschätzt und aufgewertet werden, was dann auf das "naturhaft-Besondere" hinausläuft. Poststrukturalistische, dekonstruktivistische Diskurse, die de facto plötzlich wieder auf Rassen hinauslaufen, auch wenn das niemand direkt so sagt.
Andererseits werden dort auch Theorieansätze abgehandelt, zu denen mir nur noch WTF einfällt, etwa, wenn soziale und ökonomische Verhältnisse in Vektoren und Formeln gefasst werden.
Interessant finde ich die Schlussfolgerung von Andreas Benl, mit der ich trotzdem nicht einverstanden bin.
"In Europa und den USA wird die Frage beantwortet werden müssen, ob man an der delegierten Regression festhalten und sie mit immer neuen Stellvertretern aus dem „Global South“ besetzen will, die kaum noch kaschieren können, dass Kulturalismus und Antizionismus „im Namen des Anderen“ ideologische Bedürfnisse in Akademie, Kultur und Politik westlicher Metropolen bedienen. Oder ob es möglich ist, im jeweiligen wohlverstandenen Eigeninteresse transnationale Bündnisse zu bilden gegen die unterschiedlichsten Formen antizivilisatorischer Identitätspolitik, deren Fluchtpunkt immer wieder der Antisemitismus ist."
Einerseits stimmt es natürlich, dass falsche Projektion seit jeher den Umgang westlicher Linker mit fremden Gesellschaften prägt und neben Selbstbespiegelung im Fremden die Stellvertreterrolle von revolutionären oder sozialen Bewegungen im globalen Süden für nicht stattfindende Kämpfe hierzulande ebenso eine Rolle spielt wie die unkritische Übernahme eines kategorischen Antizionismus etwa von palästinensischer Seite.
Dabei geht aber völlig verloren, was Antiimperialismus (der klassische, nicht der neue) eigentlich meint.
Kernthese ist hierbei die Annahme, dass der globale Kapitalismus einen geopolitischen Charakter angenommen hat. Die Arbeiterschaft in den Industriemetropolen ist kein Proletariat mehr, sondern im Weltmaßstab betrachtet eine Mittelschicht, die selbst von der Ausbeutung der früher einmal so genannten Dritten Welt profitiert. Soziale Revolution ist somit auch nur noch im Weltmaßstab denkbar, getragen von den verarmten Massen des globalen Südens. Die Aufgabe, die der Linken in den Metropolen in diesem Kontext zukommt, wäre die Unterstützung von Befreiungsbewegungen im Trikont, die Unterstützung von Entwicklungsprojekten, die gerade nicht auf Ausweitung imperialistischer Ausbeutungsstrukturen abzielen und die Behinderung von Aufstandsbekämpfungsmaßnahmen. Wobei Letzteres insbesondere die Sabotage von Militäroperationen des Westens meint, die der - tatsächlichen oder vermeintlichen - Bekämpfung antiimperialistischer Aufstände im globalen Süden dienen. In diesem Sinne kann Antiimperialismus dann von Engagement in der Friedensbewegung bis hin zu Mitgliedschaft in bewaffneten Gruppen wie der früheren RAF reichen.
Das ist so in etwa das Weltbild und Politikverständnis der Antiimps, wie sie im Szenejargon einmal hießen. Das ist durchaus nicht meins, mein eigener politischer Hintergrund hat sich ja gerade in Abgrenzung zu diesem klassischen Antiimperialismus herausgebildet. Aber dass dieser gar nicht mehr gewusst wird und man sich nur noch an einem grundsätzlich mit Antisemitismus konnotierten Antiimperialismusbegriff abarbeitet, der aus einer sehr speziellen Anwendung der Kritischen Theorie hervorgegangen ist und so etwas wie Klassenkampf gar nicht mehr kennt stößt mir sehr sauer auf.
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Donnerstag, 1. Februar 2024
PRO ASYL kritisiert: Bundesländer machen Bezahlkarte zum Diskriminierungsinstrument
che2001, 10:01h
Nach der heutigen Einigung von 14 der 16 Bundesländer auf gemeinsame Standards bei der Bezahlkarte für eine bestimmte Gruppe von Geflüchteten hält PRO ASYL an der grundsätzlichen Kritik an der Bezahlkarte fest: Bund und Länder planen mit der Bezahlkarte ein Diskriminierungsinstrument, das den schutzsuchenden Menschen in Deutschland das Leben schwer machen soll.
„Bund und Länder haben mit der Einigung zur Bezahlkarte ein Diskriminierungsprogramm verabredet. Denn das erklärte Ziel der Ministerpräsident*innen mit dem Bundeskanzler im November 2023 war, mit unterschiedlichen Maßnahmen die Asylzahlen zu senken. Mit der Bezahlkarte wird also vor allem der Zweck verfolgt, den Menschen das Leben hier schwer zu machen und sie abzuschrecken. Schon allein wegen dieses unverhohlenen Motivs wirft die Bezahlkarte verfassungsrechtliche Fragen auf. Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 entschieden, dass die Menschenwürde nicht aus migrationspolitischen Gründen relativiert werden darf“, sagt Andrea Kothen, Referentin bei PRO ASYL.
An der heutigen Einigung sind drei Punkte besonders problematisch:
- Überweisungen sollen nicht möglich sein: Ohne eine Überweisungsmöglichkeit werden Geflüchtete aus dem Alltagsleben ausgegrenzt. Überweisungen sind heutzutage aber unentbehrlich – etwa für einen Handyvertrag und kleine Einkäufe im Internet. Geflüchtete müssen auch ihre für das Asylverfahren nötigen Rechtsanwält*innen per Überweisung bezahlen können.
- Kein Mindestbetrag für die Barabhebung: Die Möglichkeit, über Bargeld zu verfügen, ist vor allem zur Sicherung des – verfassungsrechtlich verbürgten – soziokulturellen Existenzminimums geboten. Wer dies angreift, greift die Menschenwürde der Betroffenen an. Wer in Deutschland ohne Bargeld lebt und nur wenige Dinge in wenigen Läden kaufen kann, verliert an Selbstbestimmung und macht demütigende Erfahrungen, etwa wenn der Euro für die öffentliche Toilette oder der Beitrag für die Klassenkasse feht.
- Regionale Einschränkung: Die regionale Einschränkung der Karte stellt offenkundig den Versuch einer sozialpolitischen Drangsalierung dar, die Freizügigkeit der Betroffenen durch die Hintertür zu beschränken: Wer Verwandte oder Freund*innen besucht oder einen weiter entfernten Facharzt oder eine Beratungsstelle aufsuchen möchte, kann in ernste Schwierigkeiten geraten, wenn er nicht einmal eine Flasche Wasser kaufen kann.
„Die Bezahlkarte ist, ebenso wie die gerade vom Bundestag beschlossene Verlängerung der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, keine rationale, konstruktive Asylpolitik. Die Bezahlkarte wird absehbar zu einer Menge Ärger im Alltag führen und das Ankommen und die Integration der Menschen erschweren – aber rein gar nichts verbessern. Auch den nach wie vor engagierten Unterstützer*innen und Willkommensinitiativen fällt man mit einer diskriminierenden Bezahlkarte in den Rücken“, sagt Andrea Kothen, Referentin bei PRO ASYL.
Bundesländer müssen bestehenden Spielraum positiv nutzen!
Die nun beschlossenen angeblichen Standards der Bezahlkarte sind allerdings keine Standards, sondern lediglich der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Bundesländer einigen konnten, um eine schändliche politische Willenserklärung abzugeben. Die Bundesländer können aber trotzdem großzügigere Regelungen als die dort festgehaltenen anwenden. PRO ASYL appelliert an die Eigenverantwortung der Länder und Kommunen, die nach wie vor vorhandenen Spielräume zu nutzen und auf eine Bezahlkarte zu verzichten oder diese zumindest diskriminierungsfrei auszugestalten. Dazu hatte PRO ASYL im Dezember 2023 unter dem Motto „Menschenrechtliche Standards beachten!“ notwendige Eckpunkte veröffentlicht.
Auch die Kommunen werden nicht entlastet: Denn die Kürzung von Sozialleistungen und der Umstieg auf mehr Sachleistungen halten die Menschen nicht davon ab, vor Krieg oder Vertreibung zu fliehen. Wissenschaftliche Untersuchungen, wie zum Beispiel die des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, zeigen zudem: Rechtsstaatlichkeit, Freund*innen, Familie und die Arbeitsmarktbedingungen in einem Land sind Faktoren für den Zielort einer Flucht. Sozialleistungssysteme dagegen wirken sich nicht als entscheidungsrelevant aus. Auch die Bezahlkarte wird also an den Fluchtwegen von Menschen nichts ändern.
Dass es mit der Karte auch anders geht zeigt allerdings das Beispiel Hannover:
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Hannover-fuehrt-Socialcard-fuer-Gefluechtete-ein,ndrinfo53840.html
https://taz.de/Leistungen-fuer-Gefluechtete/!5989524/
„Bund und Länder haben mit der Einigung zur Bezahlkarte ein Diskriminierungsprogramm verabredet. Denn das erklärte Ziel der Ministerpräsident*innen mit dem Bundeskanzler im November 2023 war, mit unterschiedlichen Maßnahmen die Asylzahlen zu senken. Mit der Bezahlkarte wird also vor allem der Zweck verfolgt, den Menschen das Leben hier schwer zu machen und sie abzuschrecken. Schon allein wegen dieses unverhohlenen Motivs wirft die Bezahlkarte verfassungsrechtliche Fragen auf. Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 entschieden, dass die Menschenwürde nicht aus migrationspolitischen Gründen relativiert werden darf“, sagt Andrea Kothen, Referentin bei PRO ASYL.
An der heutigen Einigung sind drei Punkte besonders problematisch:
- Überweisungen sollen nicht möglich sein: Ohne eine Überweisungsmöglichkeit werden Geflüchtete aus dem Alltagsleben ausgegrenzt. Überweisungen sind heutzutage aber unentbehrlich – etwa für einen Handyvertrag und kleine Einkäufe im Internet. Geflüchtete müssen auch ihre für das Asylverfahren nötigen Rechtsanwält*innen per Überweisung bezahlen können.
- Kein Mindestbetrag für die Barabhebung: Die Möglichkeit, über Bargeld zu verfügen, ist vor allem zur Sicherung des – verfassungsrechtlich verbürgten – soziokulturellen Existenzminimums geboten. Wer dies angreift, greift die Menschenwürde der Betroffenen an. Wer in Deutschland ohne Bargeld lebt und nur wenige Dinge in wenigen Läden kaufen kann, verliert an Selbstbestimmung und macht demütigende Erfahrungen, etwa wenn der Euro für die öffentliche Toilette oder der Beitrag für die Klassenkasse feht.
- Regionale Einschränkung: Die regionale Einschränkung der Karte stellt offenkundig den Versuch einer sozialpolitischen Drangsalierung dar, die Freizügigkeit der Betroffenen durch die Hintertür zu beschränken: Wer Verwandte oder Freund*innen besucht oder einen weiter entfernten Facharzt oder eine Beratungsstelle aufsuchen möchte, kann in ernste Schwierigkeiten geraten, wenn er nicht einmal eine Flasche Wasser kaufen kann.
„Die Bezahlkarte ist, ebenso wie die gerade vom Bundestag beschlossene Verlängerung der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, keine rationale, konstruktive Asylpolitik. Die Bezahlkarte wird absehbar zu einer Menge Ärger im Alltag führen und das Ankommen und die Integration der Menschen erschweren – aber rein gar nichts verbessern. Auch den nach wie vor engagierten Unterstützer*innen und Willkommensinitiativen fällt man mit einer diskriminierenden Bezahlkarte in den Rücken“, sagt Andrea Kothen, Referentin bei PRO ASYL.
Bundesländer müssen bestehenden Spielraum positiv nutzen!
Die nun beschlossenen angeblichen Standards der Bezahlkarte sind allerdings keine Standards, sondern lediglich der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Bundesländer einigen konnten, um eine schändliche politische Willenserklärung abzugeben. Die Bundesländer können aber trotzdem großzügigere Regelungen als die dort festgehaltenen anwenden. PRO ASYL appelliert an die Eigenverantwortung der Länder und Kommunen, die nach wie vor vorhandenen Spielräume zu nutzen und auf eine Bezahlkarte zu verzichten oder diese zumindest diskriminierungsfrei auszugestalten. Dazu hatte PRO ASYL im Dezember 2023 unter dem Motto „Menschenrechtliche Standards beachten!“ notwendige Eckpunkte veröffentlicht.
Auch die Kommunen werden nicht entlastet: Denn die Kürzung von Sozialleistungen und der Umstieg auf mehr Sachleistungen halten die Menschen nicht davon ab, vor Krieg oder Vertreibung zu fliehen. Wissenschaftliche Untersuchungen, wie zum Beispiel die des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, zeigen zudem: Rechtsstaatlichkeit, Freund*innen, Familie und die Arbeitsmarktbedingungen in einem Land sind Faktoren für den Zielort einer Flucht. Sozialleistungssysteme dagegen wirken sich nicht als entscheidungsrelevant aus. Auch die Bezahlkarte wird also an den Fluchtwegen von Menschen nichts ändern.
Dass es mit der Karte auch anders geht zeigt allerdings das Beispiel Hannover:
https://www.ndr.de/nachrichten/info/Hannover-fuehrt-Socialcard-fuer-Gefluechtete-ein,ndrinfo53840.html
https://taz.de/Leistungen-fuer-Gefluechtete/!5989524/
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Montag, 29. Januar 2024
Vom Teddybärenschmeißen
che2001, 17:41h
Anderen Menschen ihre Solidarität mit Geflüchteten und ihre Empathie für diese zum Vorwurf zu machen, das ist wahrhaft widerwärtig.
So etwas ruft gleichzeitig bei mir bestimmte Erinnerungen an bewegte Zeiten wach.
Während des Jugoslawienkrieges hat das autonome Antirassismusplenum Göttingen über die Hausärzte
Kinderspielzeuge, Teddys und Puppen, von Familien, die die nicht mehr brauchten, weil die Kinder herausgewachsen waren eingesammelt und in den Sammelunterkünften verteilt. Gehörte ebenso zu autonomer Antirassismusarbeit wie Schwimmkurse mit den Flüchtlingskindern und nachts vor den Wohnheimen Streife gehen. Und allerdings auch den
Nazis mit dem Knüppel entgegentreten. Diese Aktionen waren so sehr integraler Bestandteil linken Szenelebens, dass sie den Alltag prägten. Jeden Freitag saß ich am Mensaaufgang und tauschte Wertgutscheine gegen Bargeld um.
Ich habe Cassandra, Workingclasshero und Netbitch bei solchen Aktionen kennengelernt.
Selbst als ich nach der Blockade des Landratsamts nach dem Tod eines Afrikaners in der Abschiebehaft ein Verfahren wegen Nötigung und Verdacht auf versuchten Landfriedensbruch hatte erwies sich das als ein gemütliches Kaffeetrinken mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt, der mir die Akte zu lesen gab und sagte: "Diese dummen Bullen haben keine Beweise". Man kannte sich eben.
In Göttingen hatten sie ein Flüchtlingswohnheim ganz bewusst ins Villenviertel gebaut, um die Konfrontation mit dem Plebs zu vermeiden und auf die Generosität der dort wohnenden Professoren zu bauen, was sich als voller Erfolg erwies: Der Sonntagsspaziergang
mit Kuchen und Geschenken zu Flüchtlings erwies sich als angesagter gesellschaftlicher Anlass für Professorens.
So etwas ruft gleichzeitig bei mir bestimmte Erinnerungen an bewegte Zeiten wach.
Während des Jugoslawienkrieges hat das autonome Antirassismusplenum Göttingen über die Hausärzte
Kinderspielzeuge, Teddys und Puppen, von Familien, die die nicht mehr brauchten, weil die Kinder herausgewachsen waren eingesammelt und in den Sammelunterkünften verteilt. Gehörte ebenso zu autonomer Antirassismusarbeit wie Schwimmkurse mit den Flüchtlingskindern und nachts vor den Wohnheimen Streife gehen. Und allerdings auch den
Nazis mit dem Knüppel entgegentreten. Diese Aktionen waren so sehr integraler Bestandteil linken Szenelebens, dass sie den Alltag prägten. Jeden Freitag saß ich am Mensaaufgang und tauschte Wertgutscheine gegen Bargeld um.
Ich habe Cassandra, Workingclasshero und Netbitch bei solchen Aktionen kennengelernt.
Selbst als ich nach der Blockade des Landratsamts nach dem Tod eines Afrikaners in der Abschiebehaft ein Verfahren wegen Nötigung und Verdacht auf versuchten Landfriedensbruch hatte erwies sich das als ein gemütliches Kaffeetrinken mit dem Leitenden Oberstaatsanwalt, der mir die Akte zu lesen gab und sagte: "Diese dummen Bullen haben keine Beweise". Man kannte sich eben.
In Göttingen hatten sie ein Flüchtlingswohnheim ganz bewusst ins Villenviertel gebaut, um die Konfrontation mit dem Plebs zu vermeiden und auf die Generosität der dort wohnenden Professoren zu bauen, was sich als voller Erfolg erwies: Der Sonntagsspaziergang
mit Kuchen und Geschenken zu Flüchtlings erwies sich als angesagter gesellschaftlicher Anlass für Professorens.
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Der besondere Filmtipp: Green borders
che2001, 15:58h
Der Film "green borders" (siehe auch: https://www.ndr.de/kultur/film/Green-Border-im-Kino-Aufwuehlendes-Fluechtlingsdrama,greenborder100.html) läuft leider nur in Programmkinos in Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück, siehe
https://pifflmedien.de/filme/green-border/#spielzeiten
Hier eine Beschreibung:
"... wir möchten euch auf den neuen Kinofilm GREEN BORDER hinweisen, der am 1. Februar 2024 in die deutschen Kinos kommen wird. Der Film thematisiert aus verschiedenen Perspektiven das Geschehen 2021 an der Grenze zwischen Polen und Belarus, wo Geflüchtete von Lukaschenko an die Grenze gelockt und auf brutale Weise von der EU sowie der belarussischen Seite als "hypride Kriegswaffe" entmenschlicht wurden. Der Film hat den Anspruch, die quasi rechtsfreien Grenzgebiete aufzuzeigen und grundlegende Fragen aufzuwerfen, welche Werte an den EU-Außengrenzen eigentlich verteidigt werden und auf welchen Werten die europäische Asyl- und Geflüchtetenpolitik basieren sollte.
Wir konnten ihn vorab sichten: Es ist ein hervorrragendes, eindringliches, erschütterndes und realitätsnah wirkendes Werk, das zu Recht preisgekrönt wurde (die polnische Regisseurin Agnieszka Holland ist dreifach Oscar-nominiert, der Film erhielt auf den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig sieben Auszeichnungen), in Polen selbst aber auch Gegenstand scharfer Kritik wurde.
Hier der kürzlich veröffentlichte Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=yB_9Yohj8AE
Der Film wird ab Februar im ganzen Land in verschiedenen Kinos gezeigt.
https://pifflmedien.de/filme/green-border/#spielzeiten
Hier eine Beschreibung:
"... wir möchten euch auf den neuen Kinofilm GREEN BORDER hinweisen, der am 1. Februar 2024 in die deutschen Kinos kommen wird. Der Film thematisiert aus verschiedenen Perspektiven das Geschehen 2021 an der Grenze zwischen Polen und Belarus, wo Geflüchtete von Lukaschenko an die Grenze gelockt und auf brutale Weise von der EU sowie der belarussischen Seite als "hypride Kriegswaffe" entmenschlicht wurden. Der Film hat den Anspruch, die quasi rechtsfreien Grenzgebiete aufzuzeigen und grundlegende Fragen aufzuwerfen, welche Werte an den EU-Außengrenzen eigentlich verteidigt werden und auf welchen Werten die europäische Asyl- und Geflüchtetenpolitik basieren sollte.
Wir konnten ihn vorab sichten: Es ist ein hervorrragendes, eindringliches, erschütterndes und realitätsnah wirkendes Werk, das zu Recht preisgekrönt wurde (die polnische Regisseurin Agnieszka Holland ist dreifach Oscar-nominiert, der Film erhielt auf den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig sieben Auszeichnungen), in Polen selbst aber auch Gegenstand scharfer Kritik wurde.
Hier der kürzlich veröffentlichte Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=yB_9Yohj8AE
Der Film wird ab Februar im ganzen Land in verschiedenen Kinos gezeigt.
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Freitag, 19. Januar 2024
Verfassungsfeinde
che2001, 12:10h
Stellungnahme des Flüchtlingsrats Niedersachsen
Verfassungsfeinde finden sich nicht nur bei der AFD, sondern auch in der Regierung. Fürchten müssen sich Geflüchtete auch vor der neuen Merz-CDU und ihrem Grundsatzprogramm, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine völlige Abschaffung des Asylgrundrechts vorsieht.
Erleichtert stellen wir fest, dass die Zivilgesellschaft lebt und gegen die Pläne von hochrangigen AfD-Politiker:innen, Neonazis und finanzstarken Unternehmern zur Vertreibung von Millionen von Menschen auf die Straße geht: Kein Tag vergeht, an dem nicht Tausende in Deutschland ihr Entsetzen über diese Vertreibungspläne zum Ausdruck bringen, die das Recherchenetzwerk „Correctiv“ aufgedeckt hat: „Im Grunde laufen die Gedankenspiele an diesem Tag alle auf eines hinaus: Menschen sollen aus Deutschland verdrängt werden können, wenn sie die vermeintlich falsche Hautfarbe oder Herkunft haben – und aus Sicht von Menschen wie Sellner nicht ausreichend „assimiliert“ sind. Auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Es ist gegen die Existenz von Menschen in diesem Land gerichtet.“
Der Protest wird von der Politik aufgegriffen: Sämtliche demokratische Parteien im Bundestag – von der Linken bis zur CDU/CSU – haben das rechtsextreme Geheimtreffen in Potsdam verurteilt. Die CDU hat Mitgliedern der Werte-Union, die an dem Treffen teilnahmen, Parteiausschlussverfahren angekündigt. Für den kommenden Samstag, 14 Uhr, haben sich Ministerpräsident Stephan Weil und Alt-Bundespräsident Christian Wulff, der evangelische Landesbischof Ralf Meister und die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi angekündigt, um „ein starkes Zeichen gegen Rechts“ zu setzen. Auch die konservative Presse bezieht Stellung: Detailliert nimmt der rechte „Focus“ die Verharmlosungs- und Rechtfertigungsversuche der Nazis um Kubitschek, und Sellner auseinander (auf deren Traktate jüngst auch Alice Weidel rekurrierte) und empört sich über „die irre Rechtspropaganda„.
Es hat fast den Anschein, als könnten wir uns bei der Verteidigung von Freiheits- und Menschenrechten auf die demokratischen Parteien im Bundestag verlassen – hätten wir nicht in den vergangenen Wochen und Monaten eine politische Debatte um geflüchtete Menschen erleben müssen, in der immer mehr Vertreter:innen demokratischer Parteien sich in ihrer Diktion auf die AFD zu bewegten und deren Inhalte übernahmen: Wurde die AFD 2016 noch für ihre Forderung nach einem Einsatz von Schusswaffen an der Grenze einhellig als verfassungsfeindliche Partei gebrandmarkt, wurden 2023 Forderungen nach einer „gewaltsamen Zurückweisung an der Grenze“ (Jens Spahn) plötzlich salonfähig. Statt von Schutzsuchenden war in der öffentlichen Debatte nur noch von „irregulärer Migration“ die Rede. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz führte die Debatte über Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der in Deutschland Schutz suchenden Menschen in einem Duktus, der als Anbiederung an den rechten Zeitgeist verstanden werden muss: Mit seinem populistischen Vorstoß via Spiegel („Wir müssen endlich in großem Stil abschieben„) heizte Bundeskanzler Olaf Scholz in der Tradition eines Gerhard Schröder, der 1997 ähnlich agierte („Kriminelle Ausländer raus, und zwar schnell") das rassistische Klima in Deutschland selbst ordentlich an und trug so aktiv mit zu einer Diskursverschiebung nach rechts bei. Eine ganze Reihe der diskutierten und teilweise schon beschlossenen Maßnahmen und Gesetzesänderungen bewegt sich nicht mehr im demokratischen Rechtsrahmen, sondern schränkt die Grund- und Menschenrechte massiv und in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise ein:
Das gestern in erster Lesung verabschiedete, euphemistisch „Rückführungsverbesserungsgesetz“ titulierte, Gesetz zur Verschärfung der Abschiebungspraxis enthält eine Reihe von aus menschenrechtlicher Sicht inakzeptablen Zumutungen: So wird die Verlängerung des sog. „Ausreisegewahrsams“ von 10 auf 28 Tage von Fachleuten für verfassungswidrig gehalten. Hierbei geht es um nichts weniger als einen dramatischen Grundrechtseingriff – den Freiheitsentzug für Menschen, die nichts verbrochen haben. Selbst Bundesjustizminister Buschmann hat „verfassungsrechtliche Bedenken“ erhoben. Gleichwohl hält die Bundesregierung an ihrem Vorhaben fest.
Auch beim alle Jahre wieder populistisch ausgeschlachteten Thema Sozialleistungen ist die Bundesregierung im Begriff, Verfassungsrecht bewusst zu missachten: Sie will den Zeitraum von Leistungskürzungen für Asylsuchende und Geduldete von 18 auf 36 Monate verlängern. Mit seiner Entscheidung vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben, dass Leistungskürzungen nur für einen kurzen Zeitraum und nur dann zulässig sind, wenn nachvollziehbar berechnet und nachgewiesen werden kann, dass tatsächlich in der ersten Zeit ein geringerer Bedarf besteht. Eine solche Begründung fehlt nach wie vor, obwohl das Bundesverfassungsgericht am 19.10.2022 seine Rechtsprechung nochmals bekräftigt und damit eine weitere verfassungswidrige Kürzung des Gesetzgebers aufgehoben hat. Diesen höchstrichterlichen Beschluss hat die Bundesregierung bis heute – fast anderthalb Jahre später – skandalöserweise noch immer nicht gesetzlich umgesetzt. Ungerührt hält die Bundesregierung dennoch an ihrem neuen Kürzungsvorhaben fest. Auch das insoweit eindeutige Gutachten des Gesetzes- und Beratungsdienstes des Bundestags, das die Verfassungswidrigkeit dieses Vorhabens benennt und detailliert begründet, führt nicht zu einer Änderung des vorliegenden Gesetzesentwurfs: Sehenden Auges begeht die Ampel hier Verfassungsbruch, wie Thomas Hohlfeld (Linke) in seinem Vermerk zu dem Gutachten belegt.
Mit der Zustimmung zur GEAS-Verordnung hat die Bundesregierung 2023 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik den Tabubruch begangen, eine Abschiebung von Menschen, die in Europa Schutz suchen, auch dann für zulässig zu erklären, wenn der als „sicher“ definierte Drittstaat weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat. Damit wird die jetzt schon zu beklagende Praxis von massenhaften Pushbacks durch viele europäische Staaten gedeckt und ermöglicht. Ab 2026 werden wir „Grenzasylverfahren“ in geschlossenen Lagern erleben, in denen die Betroffenen nur eingeschränkte Rechte haben und von Beratungsangeboten weitgehend ausgeschlossen sind.
Der CDU geht das alles nicht weit genug: Es sind nicht mehr nur einzelne Scharfmacher wie Thorsten Frei oder Jens Spahn, die Schutzsuchende an den Grenzen zurückweisen und das Asylrecht abschaffen wollen: Am Montag hat der Vorstand der CDU den Entwurf für das neue Grundsatzprogramm verabschiedet. Im Bereich Flüchtlingspolitik wird nicht weniger als die komplette Abschaffung des Asylrechts in Deutschland gefordert, quasi eine 1:1 Kopie des Ruanda-Modells der Tories in Großbritannien. Im Programmentwurf heißt es:
Wir wollen das Konzept der sicheren Drittstaaten realisieren. Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren. Dazu wird mit dem sicheren Drittstaat eine umfassende vertragliche Vereinbarung getroffen.
Der öffentliche Aufschrei ist bislang ausgeblieben. Dabei ist auch dieser Programmentwurf ein offenkundiger Angriff auf unsere Verfassung. Noch ist dieser Programmentwurf nicht beschlossen: Das Programm wird von der CDU im Februar und März auf sechs Regionalkonferenzen in Mainz, Hannover, Chemnitz, Köln, Stuttgart und Berlin vorgestellt und diskutiert werden. Bislang ist die Tragweite dieses Entwurfs auch noch nirgends richtig angekommen. Ein Anlass für öffentlichen Protest und Demonstrationen sind solche verfassungsfeindlichen Pläne der CDU allemal.
Bei solchem Umgang mit der deutschen Verfassung dürfte es schwierig werden, die AFD verbieten zu lassen. Verfassungsfeinde finden sich offenkundig nicht nur in der AFD. Selbstverständlich ist es auch weiterhin gut und wertvoll, wenn die demokratischen Parteien gemeinsam zu einer klaren Grenzziehung gegenüber den völkischen Rassist:innen der AFD finden und Position beziehen. Glaubwürdig ist dieses Bekenntnis allerdings nur dann, wenn der Umgang mit den Grund- und Menschenrechten auch in der eigenen Partei reflektiert wird.
https://www.nds-fluerat.org/58206/aktuelles/verfassungsfeinde/
Verfassungsfeinde finden sich nicht nur bei der AFD, sondern auch in der Regierung. Fürchten müssen sich Geflüchtete auch vor der neuen Merz-CDU und ihrem Grundsatzprogramm, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine völlige Abschaffung des Asylgrundrechts vorsieht.
Erleichtert stellen wir fest, dass die Zivilgesellschaft lebt und gegen die Pläne von hochrangigen AfD-Politiker:innen, Neonazis und finanzstarken Unternehmern zur Vertreibung von Millionen von Menschen auf die Straße geht: Kein Tag vergeht, an dem nicht Tausende in Deutschland ihr Entsetzen über diese Vertreibungspläne zum Ausdruck bringen, die das Recherchenetzwerk „Correctiv“ aufgedeckt hat: „Im Grunde laufen die Gedankenspiele an diesem Tag alle auf eines hinaus: Menschen sollen aus Deutschland verdrängt werden können, wenn sie die vermeintlich falsche Hautfarbe oder Herkunft haben – und aus Sicht von Menschen wie Sellner nicht ausreichend „assimiliert“ sind. Auch wenn sie deutsche Staatsbürger sind. Es ist gegen die Existenz von Menschen in diesem Land gerichtet.“
Der Protest wird von der Politik aufgegriffen: Sämtliche demokratische Parteien im Bundestag – von der Linken bis zur CDU/CSU – haben das rechtsextreme Geheimtreffen in Potsdam verurteilt. Die CDU hat Mitgliedern der Werte-Union, die an dem Treffen teilnahmen, Parteiausschlussverfahren angekündigt. Für den kommenden Samstag, 14 Uhr, haben sich Ministerpräsident Stephan Weil und Alt-Bundespräsident Christian Wulff, der evangelische Landesbischof Ralf Meister und die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi angekündigt, um „ein starkes Zeichen gegen Rechts“ zu setzen. Auch die konservative Presse bezieht Stellung: Detailliert nimmt der rechte „Focus“ die Verharmlosungs- und Rechtfertigungsversuche der Nazis um Kubitschek, und Sellner auseinander (auf deren Traktate jüngst auch Alice Weidel rekurrierte) und empört sich über „die irre Rechtspropaganda„.
Es hat fast den Anschein, als könnten wir uns bei der Verteidigung von Freiheits- und Menschenrechten auf die demokratischen Parteien im Bundestag verlassen – hätten wir nicht in den vergangenen Wochen und Monaten eine politische Debatte um geflüchtete Menschen erleben müssen, in der immer mehr Vertreter:innen demokratischer Parteien sich in ihrer Diktion auf die AFD zu bewegten und deren Inhalte übernahmen: Wurde die AFD 2016 noch für ihre Forderung nach einem Einsatz von Schusswaffen an der Grenze einhellig als verfassungsfeindliche Partei gebrandmarkt, wurden 2023 Forderungen nach einer „gewaltsamen Zurückweisung an der Grenze“ (Jens Spahn) plötzlich salonfähig. Statt von Schutzsuchenden war in der öffentlichen Debatte nur noch von „irregulärer Migration“ die Rede. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz führte die Debatte über Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl der in Deutschland Schutz suchenden Menschen in einem Duktus, der als Anbiederung an den rechten Zeitgeist verstanden werden muss: Mit seinem populistischen Vorstoß via Spiegel („Wir müssen endlich in großem Stil abschieben„) heizte Bundeskanzler Olaf Scholz in der Tradition eines Gerhard Schröder, der 1997 ähnlich agierte („Kriminelle Ausländer raus, und zwar schnell") das rassistische Klima in Deutschland selbst ordentlich an und trug so aktiv mit zu einer Diskursverschiebung nach rechts bei. Eine ganze Reihe der diskutierten und teilweise schon beschlossenen Maßnahmen und Gesetzesänderungen bewegt sich nicht mehr im demokratischen Rechtsrahmen, sondern schränkt die Grund- und Menschenrechte massiv und in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise ein:
Das gestern in erster Lesung verabschiedete, euphemistisch „Rückführungsverbesserungsgesetz“ titulierte, Gesetz zur Verschärfung der Abschiebungspraxis enthält eine Reihe von aus menschenrechtlicher Sicht inakzeptablen Zumutungen: So wird die Verlängerung des sog. „Ausreisegewahrsams“ von 10 auf 28 Tage von Fachleuten für verfassungswidrig gehalten. Hierbei geht es um nichts weniger als einen dramatischen Grundrechtseingriff – den Freiheitsentzug für Menschen, die nichts verbrochen haben. Selbst Bundesjustizminister Buschmann hat „verfassungsrechtliche Bedenken“ erhoben. Gleichwohl hält die Bundesregierung an ihrem Vorhaben fest.
Auch beim alle Jahre wieder populistisch ausgeschlachteten Thema Sozialleistungen ist die Bundesregierung im Begriff, Verfassungsrecht bewusst zu missachten: Sie will den Zeitraum von Leistungskürzungen für Asylsuchende und Geduldete von 18 auf 36 Monate verlängern. Mit seiner Entscheidung vom 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Stammbuch geschrieben, dass Leistungskürzungen nur für einen kurzen Zeitraum und nur dann zulässig sind, wenn nachvollziehbar berechnet und nachgewiesen werden kann, dass tatsächlich in der ersten Zeit ein geringerer Bedarf besteht. Eine solche Begründung fehlt nach wie vor, obwohl das Bundesverfassungsgericht am 19.10.2022 seine Rechtsprechung nochmals bekräftigt und damit eine weitere verfassungswidrige Kürzung des Gesetzgebers aufgehoben hat. Diesen höchstrichterlichen Beschluss hat die Bundesregierung bis heute – fast anderthalb Jahre später – skandalöserweise noch immer nicht gesetzlich umgesetzt. Ungerührt hält die Bundesregierung dennoch an ihrem neuen Kürzungsvorhaben fest. Auch das insoweit eindeutige Gutachten des Gesetzes- und Beratungsdienstes des Bundestags, das die Verfassungswidrigkeit dieses Vorhabens benennt und detailliert begründet, führt nicht zu einer Änderung des vorliegenden Gesetzesentwurfs: Sehenden Auges begeht die Ampel hier Verfassungsbruch, wie Thomas Hohlfeld (Linke) in seinem Vermerk zu dem Gutachten belegt.
Mit der Zustimmung zur GEAS-Verordnung hat die Bundesregierung 2023 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik den Tabubruch begangen, eine Abschiebung von Menschen, die in Europa Schutz suchen, auch dann für zulässig zu erklären, wenn der als „sicher“ definierte Drittstaat weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat. Damit wird die jetzt schon zu beklagende Praxis von massenhaften Pushbacks durch viele europäische Staaten gedeckt und ermöglicht. Ab 2026 werden wir „Grenzasylverfahren“ in geschlossenen Lagern erleben, in denen die Betroffenen nur eingeschränkte Rechte haben und von Beratungsangeboten weitgehend ausgeschlossen sind.
Der CDU geht das alles nicht weit genug: Es sind nicht mehr nur einzelne Scharfmacher wie Thorsten Frei oder Jens Spahn, die Schutzsuchende an den Grenzen zurückweisen und das Asylrecht abschaffen wollen: Am Montag hat der Vorstand der CDU den Entwurf für das neue Grundsatzprogramm verabschiedet. Im Bereich Flüchtlingspolitik wird nicht weniger als die komplette Abschaffung des Asylrechts in Deutschland gefordert, quasi eine 1:1 Kopie des Ruanda-Modells der Tories in Großbritannien. Im Programmentwurf heißt es:
Wir wollen das Konzept der sicheren Drittstaaten realisieren. Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen. Im Falle eines positiven Ausgangs wird der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren. Dazu wird mit dem sicheren Drittstaat eine umfassende vertragliche Vereinbarung getroffen.
Der öffentliche Aufschrei ist bislang ausgeblieben. Dabei ist auch dieser Programmentwurf ein offenkundiger Angriff auf unsere Verfassung. Noch ist dieser Programmentwurf nicht beschlossen: Das Programm wird von der CDU im Februar und März auf sechs Regionalkonferenzen in Mainz, Hannover, Chemnitz, Köln, Stuttgart und Berlin vorgestellt und diskutiert werden. Bislang ist die Tragweite dieses Entwurfs auch noch nirgends richtig angekommen. Ein Anlass für öffentlichen Protest und Demonstrationen sind solche verfassungsfeindlichen Pläne der CDU allemal.
Bei solchem Umgang mit der deutschen Verfassung dürfte es schwierig werden, die AFD verbieten zu lassen. Verfassungsfeinde finden sich offenkundig nicht nur in der AFD. Selbstverständlich ist es auch weiterhin gut und wertvoll, wenn die demokratischen Parteien gemeinsam zu einer klaren Grenzziehung gegenüber den völkischen Rassist:innen der AFD finden und Position beziehen. Glaubwürdig ist dieses Bekenntnis allerdings nur dann, wenn der Umgang mit den Grund- und Menschenrechten auch in der eigenen Partei reflektiert wird.
https://www.nds-fluerat.org/58206/aktuelles/verfassungsfeinde/
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