Mittwoch, 17. Januar 2024
Stellungnahme des MiSO-Netzwerks (MigrantInnen Selbstorganisationen) zu Potsdam
Unwort des Jahres 2023 „REMIGRATION“: Die von AfD und Co. geplante Massenvertreibung von Migrant*innen ist zu verurteilen!
16.01.2024
MiSO
Auf einer Tagung in Potsdam haben im vergangenen November AfD-Mitglieder und andere Rechtsextremisten die Massenvertreibung von Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte aus Deutschland diskutiert. Hier eine Stellungnahme des MiSO-Vorstands.

Die nach den Enthüllungen des Recherchenetzwerkes Correctiv von AfD und anderen Rechtsextremisten geplante Massenvertreibung hat uns und alle Migrantenorganisationen schockiert. Solche Pläne wecken Erinnerungen an das größte Verbrechen in der deutschen Geschichte. „Fast 24 Millionen Menschen in Deutschland haben internationale Wurzeln. Und der größte Teil der Bevölkerung wünscht sich kein neues Drittes Reich, sondern eine stabile, demokratische Gesellschaft, in der Vielfalt und Menschenrechte gewahrt und gelebt werden“ sagte dazu Ferda Ataman, die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes. Sie sieht Beobachtungen bestätigt, wonach viele Menschen mit Migrationsgeschichte zunehmend Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt sind. Wir wissen seit langem, dass Rechtsextremismus nicht nur eine Überzeugung von Einzelpersonen ist, sondern dass sich verfassungsfeindliche Netzwerke längst in vielen Teilen der Gesellschaft zusammengeschlossen haben.
Rassismus und Diskriminierung in unserer Gesellschaft sind ein gesamtgesellschaftliches Problem. Über 70 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes leben viele Menschen in Deutschland immer noch in Angst und Unsicherheit. Die Feindseligkeit ist überall zu spüren und die Bedrohung für viele Menschen real.
MiSO-Stellungnahme:
* Deutschland ist und bleibt ein Einwanderungsland, gekennzeichnet durch Migration und eine plurale Gesellschaft.
* Rassismus tötet, verletzt, diskriminiert, grenzt aus und verhindert damit ein friedliches und chancengerechtes Zusammenleben.
* Wir fordern eine an Menschenrechten orientierte Migrations- und Asylpolitik. Wer Forderungen und Rhetorik der Rechtsextremen aufgreift, trägt zur Ausgrenzung und Abwertung von Minderheiten bei.
* Die Geschichte zeigt, dass Rechtsextremismus nur Unglück für Deutschland bringt.
* Es erfüllt uns mit großer Sorge, dass die hohen Zustimmungswerte für Rechtsextreme offenbar dazu führen, menschenverachtende Einstellungen für legitim und normal zu halten.
* Geboten sind die Stärkung der rassismuskritischen Bildung und Jugendarbeit, Weiterentwicklung der Präventionsmaßnahmen, sowie die Förderung der Erinnerungskultur (Faschismus, Einwanderungsgeschichte, Kolonialzeit Deutschlands).
* Antirassismus und der Kampf gegen Rechts muss fest verankert sein. Die Zivilgesellschaft, die Institutionen und jede/r von uns kann dabei mitwirken.
MiSO-Vorstand / 16. Januar 2024

https://miso-netzwerk.de/aktuelles/unwort-des-jahres-2023-remigration-die-von-afd-und-co-geplante-massenvertreibung-von-migrantinnen-ist-zu-verurteilen

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Dienstag, 16. Januar 2024
Gegen jede Normalisierung
Podiumsdiskussion
Gegen jede Normalisierung
Wann: 22.2.2024 von 18 Uhr bis 20 Uhr
Wo: IBIS – Interkulturelle Arbeitsstelle e.V. I Klävemannstraße 16 I 26122 Oldenburg I “Halle”
Kostenfrei


Wir erinnern uns: zu den Landtagswahlen im Sommer 2023 gelang es rechten Kräften, den migrationspolitischen Diskurs mit rassistischen Argumenten massiv hoch zu kochen. Eine autoritäre Diskursverschiebung, der restriktve Gesetzesverschärfungen folgten und die durch die GEAS-Reform auf EU-Ebene noch befeuert wurde. Getrieben von rechten Wahlerfolgen schien die bürgerliche Mitte das Konzept zu verfolgen, mit den Wölfen zu heulen, um so der Rechten Stimmen abzujagen. Ein höchst zweifelhaftes Unterfangen, welches die liberale Demokratie untergräbt und Gewalt und Diskriminierung Geflüchteten gegenüber den Boden bereitet.

Vor diesem Hintergrund organisieren der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. und IBIS e.V. am 22.02.2024 die Podiumsdiskussion "Gegen jede Normalisierung" zu aktuellen Entwicklungen am rechten Rand. Mit Beiträgen von:

Teilnehmer:innen: 
Andrea Röpke, Politologin und mehrfach ausgezeichnete freie Journalistin mit demThemenschwerpunkt Rechtsextremismus
Jan Krieger, Mobile Beratung Niedersachsen gegen Rechtsextremismus für Demokratie
Moderation: Josepha Zastrow, Journalistin

Die Veranstaltung soll mit dazu beitragen, die Kräfte zur Verteidigung der Offenen Gesellschaft ins Gespräch miteinander zu bringen und zu bündeln. Diese Veranstaltung wird fortgesetzt mit einem Abend zur „Verteidigung der Offenen Gesellschaft“ in Hannover (tba).

Einlassvorbehalt: Die Veranstalter:innen behalten sich vor, von ihrem Hausrecht Gebrauch zu machen und Personen, die rechtsextremen Parteien oder Organisationen angehören, der rechtsextremen Szene zuzuordnen sind oder bereits in der Vergangenheit durch rassistische, nationalistische, antisemitische oder sonstige menschen­verachtende Äußerungen in Erscheinung getreten sind, den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren oder sie von dieser auszuschließen. Jegliche Film-, Ton- und/ oder Videoaufnahmen, die nicht mit den Referent:innen vorab besprochen wurden, sind nicht erlaubt.
--
Mit solidarischen Grüßen

Olaf Strübing
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Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.

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Die Herausforderung: Rassismusbekämpfung auch jenseits der AfD
Statement der IIK



Angesichts der Enthüllungen der Recherchen von CORRECTIV, die ein „geheimes“ Treffen von AfD-Politiker*innen, Mitgliedern der Werte-Union, Neonazis und finanzstarken Unternehmer*innen ans Licht brachten, steht die Forderung nach einem AfD-Verbot im Vordergrund. Es ist zweifellos ein wichtiges Signal, doch wir dürfen uns nicht darauf beschränken. Die eigentliche Verantwortung liegt darin, ernsthaft gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit vorzugehen.

Es wäre ein Fehler, das Problem auf die AfD zu beschränken. Teile der Werteunion der CDU waren ebenfalls bei diesem menschenverachtenden Treffen vertreten. Das Ausmaß dieser Herausforderung muss erkannt werden, um angemessen handeln zu können. Die ausschließliche Fokussierung auf die AfD als Feindbild verkürzt und verzerrt das Problem.

Diese Treffen wirken nicht wie isolierte Ereignisse von Randfiguren. Ihr strategisches und politisches Vorgehen erscheint durchdacht, wobei die Inszenierung von "Randfiguren" und "vereinzelten Extremen" bewusst kalkuliert wird, um zu verharmlosen. Die Tatsache, dass ein derartiges Treffen mit einem derartigen Ausmaß überhaupt geplant wurde, ist zweifellos erschreckend und stellt einen ernstzunehmenden Punkt dar, der Konsequenzen erfordert. Es sollte jedoch nicht als überraschend betrachtet werden, der Boden für derartige Entwicklungen wurde bereits seit langer Zeit bereitet.

Die Angst und Unsicherheiten im Zusammenhang mit den Plänen des Treffens sind für viele Menschen bereits Realität. Die Bedrohung durch Gewalt, Ablehnung, Diskriminierung und Abschiebung sowie der Mangel an Zugang zu ihren Rechten sind keine neuen Situationen!

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Äußerungen des Bundeskanzlers, die betonen, dass in dem „Wir“ in Deutschland nicht nach Einwanderungsgeschichte oder Hautfarbe unterschieden wird, wenig glaubhaft. Die Realität zeigt bereits bestehende Unterscheidungen und ein sich verfestigendes Verständnis von diesem „Wir". Auch das bereitet den Boden für derartige Entwicklungen und muss erkannt und verändert werden.

Der Begriff „Remigration", der von der Identitären Bewegung als auch der AfD verwendet wird, ist äußerst besorgniserregend. Unter dem Deckmantel einer intellektuellen Rhetorik versucht die AfD, diesen Begriff salonfähig zu machen und nutzt ihn sogar in ihrem Wahlprogramm zur Europawahl 2024. Diese Forderung nach „Remigration" stellt nicht nur einen Angriff auf das Grundgesetz dar, sondern verletzt auch das Staatsbürgerrecht und den Gleichheitsgrundsatz.

Die hohen Zustimmungswerte für rechtsextreme Ideologien, führen dazu, menschenverachtende Einstellungen als legitim und diskutierbar zu betrachten. Es ist daher umso wichtiger und mehr als an der Zeit, rassismuskritische Bildung zu stärken, Präventionsmaßnahmen weiterzuentwickeln und eine ernstgemeinte Erinnerungskultur zu fördern, sei es bezüglich der Nazi-Zeit, der Kolonialzeit Deutschlands oder auch der aktuellen Verantwortung in der Asylpolitik von Deutschland und der EU.

Der Kampf gegen Rassismus muss fest in unserer Gesellschaft verankert sein. Die Zivilgesellschaft, die Institutionen und jede*r kann einen Beitrag dazu leisten, diese Herausforderungen zu bewältigen und eine solidarische Gesellschaft aufzubauen. Es braucht ein aktives, sichtbares, lautes Dagegen-sein.


Solidarische Grüße!

IIK Hannover

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Montag, 15. Januar 2024
Probleme des Antirassismus
Unter diesem Titel ist in der Edition Tiamat ein Sammelband erschienen, der Beiträge der unterschiedlichsten AutorInnen zu verschiedenen Aspekten unterschiedlicher akademischer antirasssistischer Diskurse enthält. Ich bin mittendrin in der Lektüre und stelle wieder einmal fest, wie fremd mir diese Elfenbeintürmereien sind. Deutlich wird dies hier etwa am Begriff der Intersektionalität.

Wenn in meinem - praktisch-antirassistischen, d.h. aktionsorientierten Umfeld jemand von Intersektionalität spricht heißt das, in mehr als nur Teilbereichskämpfen/Engagements unterwegs zu sein. Das heißt dann, jemand oder eher eine politische Gruppe mit geteilten Aufgaben engagiert sich sowohl antirassistisch als auch antisexistisch oder antifaschistisch als auch sozial. Praktisch kann das bedeutet, dass jemand ehrenamtliche Flüchtlingssozialarbeit macht oder sogar von Abschiebung Bedrohte bei sich versteckt und außerdem bei einem Frauennotruftelefon engagiert ist, gegen Nazis auf die Straße geht oder sogar an Antifapatrouillen teilnimmt und außerdem bei einer Tafel oder Volksküche engagiert ist. Und über all diese Tätigkeiten theoretisch reflektiert und diskutiert wird.


All das meint Intersektionalität im akademischen Diskurs nicht. Sondern die Schnittmengen aus rassistischer, sexueller und klassenmäßiger Diskrminierung theoretisch zu integrieren, nicht im Sinne von Eingreifen oder einer Theorie des politischen Handelns, nicht als Befreiungsstrategie, sondern als reiner Opferdiskurs ohne emanzipatorische Alternative. Antisemitismus wird hierbei übrigens ausgeklammert, ebenso eine Marx´sche Kapitalismuskritik.

Das Ganze weist sehr starke Parallelen mit den queerfeministischen Diskursen auf, die hier vor etwas mehr als einem Jahrzehnt mal Thema waren. Und es zeigt merkwürdig empirieabgewandte, gleichsam theologische Züge. Mit der Perspektive "Strategien der Unterwerfung - Strategien der Befreiung", wie sie die Materialien für einen neuen Antiimperialismus vor etwa 30 Jahren mal formuliert hatten hat das alles nichts zu tun. Und ich fühle mich vor dem eigenen Theorie/Praxishintergrund mal wieder in dem Gefühl der Überlegenheit bestätigt, das ich hegte, als ich so ab 2006 zum ersten Mal mit dieser Art Diskurse in Berührung kam.

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Freitag, 5. Januar 2024
Ibrahim
Ich kenne einen jungen Mann, an dem manifestiert sich der ganze Wahnsinn der politischen Realität. Er ist Israeli und nach Deutschland eingewandert. Zur Zeit hat er keine Bleibe. In eine Sammelunterkunft für Geflüchtete oder ein Obdachlosenasyl traut er sich nicht, weil er da aufgrund seiner Staatsbürgerschaft um sein Leben fürchtet. Und die jüdische Gemeinde hilft ihm nicht, weil er vom Judentum zum Christentum konvertiert ist. Zwischen allen Stühlen, nackt im Wind.

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Freitag, 15. Dezember 2023
Offener Brief an den niedersächsischen Ministerpräsidenten zur Bezahlkarte für Asylsuchende
Offener Brief:

Menschenrechtliche Standards bei der Einführung der Bezahlkarte beachten
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,

am 6. November 2023 haben die Ministerpräsident_innen der Länder mit dem Bundeskanzler eine verlängerte Bezugsdauer von Grundleistungen nach dem AsylbLG sowie die Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete verabredet. Bis Ende Januar 2024 soll eine Arbeitsgruppe gemeinsame Mindeststandards festlegen. Wir wenden uns an Sie mit der dringenden Bitte, nicht sehenden Auges menschenrechts- und verfassungswidrige Regelungen zum Nachteil schutzsuchender Menschen zu beschließen und insbesondere für den Fall der Einführung der Bezahlkarte konkrete Punkte zu beachten.

Sachleistungen führen in der Praxis zu drastischen Leistungskürzungen, weil der individuelle Bedarf nicht ausreichend gedeckt wird.1 Wir befürchten, dass die Bezahlkarten zu Diskriminierung sowie weiteren bedenklichen Leistungskürzungen führen und darüber hinaus willkürlichen Leistungsbeschränkungen Tür und Tor öffnen. Bereits jetzt liegen die Leistungen nach dem AsylbLG unterhalb des menschenwürdigen Existenzminimums. Zuletzt hat dies der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung am 8. Dezember 2023 kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach Regelungen des AsylbLG als Verstoß gegen das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt. Im Jahr 2023 haben über 200 Organisationen die Abschaffung des AsylbLG und die sozialrechtliche Gleichstellung von Geflüchteten gefordert.

Die Bezahlkarten sind Teil eines Programms, das laut MPK-Beschluss „die Zahl der im Wege der Fluchtmigration“ kommenden Menschen „deutlich und effektiv“ senken – also vom Zuzug abschrecken – soll. Vorsorglich weisen wir darauf hin, dass sowohl die Verlängerung der Dauer der Grundleistungen als auch Einschränkungen bei der Bezahlkarte bereits wegen dieses Motivs von vornherein verfassungswidrig sein dürften. 2022 stellte das Bundesverfassungsgericht zum wiederholten Mal fest, dass „Migrationspolitische Erwägungen, Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, […] von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen [können]. Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (Beschluss vom 19.10.2022 – 1 BvL 3/21)

Im Übrigen werden die geplanten Maßnahmen auch absehbar nicht zum gewünschten Ziel führen. Studien zeigen, dass Flüchtende einen Zielstaat nicht nach dessen mutmaßlichem Sozialleistungssystem auswählen. Für die Betroffenen sind vor allem die Hoffnung auf Rechtsstaatlichkeit, gute Arbeitsmarktbedingungen und das Vorhandensein von Freunden und Familie wichtig. Viele Schutzsuchende haben gar nicht von vornherein ein bestimmtes Zielland oder erreichen es nicht, da vieles nicht planbar ist und von den Fluchtmöglichkeiten abhängt.

Vor diesem Hintergrund bitten wir Sie, von Verschärfungen im AsylbLG abzusehen und – im Fall der Einführung der Bezahlkarte – folgenden Punkte zu berücksichtigen:

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Menschenrechtliche Eckpunkte bei der Einführung einer Bezahlkarte
Wir gehen im Folgenden davon aus, dass mit der Einführung einer Bezahlkarte eine menschenrechts- und verfassungskonforme Regelung getroffen werden soll. Folgende Mindeststandards sehen wir aus dieser Perspektive als geboten an:

Bargeldabhebungen müssen uneingeschränkt möglich sein.
Wer in Deutschland ohne Bargeld lebt und nur wenige Dinge in wenigen Läden kaufen kann, verliert an Selbstbestimmung und macht demütigende Erfahrungen, etwa wenn der Euro für die öffentliche Toilette oder der Beitrag für die Klassenkasse fehlt. Im Beschluss der Konferenz von Bund und Ländern vom 6. November 2023 ist zwar – offenkundig auf Drängen Niedersachsens – die schlichte Tatsache anerkannt, „dass es notwendige Ausgaben geben kann, die nicht mit der Bezahlkarte bezahlt werden können.“ Dennoch soll das System nur „möglicherweise“ die „Option“ beinhalten, einen „klar begrenzten Teil des Leistungssatzes“ bar zu erhalten. Das ist deutlich zu wenig.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2012 klar gemacht: Geflüchtete haben das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (1 BvL 10/10). Die Verfügung über Bargeld ist vor allem zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums geboten. Außerdem sichert das Sozialrecht Menschen zu, eigenständig zu wirtschaften und dabei – je nach individuellem Bedarf – einen „internen Ausgleich“ vorzunehmen. Die AsylbLG-Grundleistungen sind bereits äußerst gering, und ein Bargeldentzug schränkt diese Dispositionsfreiheit weiter drastisch ein. Menschen die Verfügungsgewalt über ihre Geldmittel zu lassen – mithin uneingeschränkte Barabhebungen zu ermöglichen – ist auch eine Frage des Respekts vor der Würde dieser Menschen.

Daher muss der gesamte Leistungssatz für Barabhebungen zur Verfügung stehen.

Die Teilnahme am bargeldlosen Zahlungsverkehr muss uneingeschränkt möglich sein.
Ähnlich wie die Barzahlung ist auch die Möglichkeit, Überweisungen zu tätigen, ein wichtiger Bestandteil der Handlungs- und Dispositionsfreiheit. Überweisungen braucht man beispielsweise, um Telefonverträge abschließen zu können. Wichtig sind sie insbesondere für einen effektiven Rechtsschutz im Sinne von Art.13 EMRK. So werden Überweisungen genutzt, um Zahlungen an einen Rechtsbeistand zu tätigen, der häufig weder über ein Kreditkartenterminal verfügt noch eine Bargeldkasse nutzt. Es wäre unzumutbar, Asylsuchenden aufzugeben, den Anwalt/die Anwältin für jede Ratenzahlung monatlich persönlich aufsuchen, nur um – mit zusätzlichen Reisekosten – Bargeld abzuliefern.

Dass in der öffentlichen Debatte vorgebracht wird, man wolle Überweisungen an Familienangehörige im Ausland verhindern, ist als ein inakzeptabler, entmündigender Eingriff in mögliche private Entscheidungen zu werten und überdies irreführend: Bereits jetzt ist der Geldbetrag, den Bezieher*innen von AsylbLG-Leistungen zu ihrer Verfügung haben, äußerst gering – dass davon noch relevante Beträge für notleidende Familienangehörige abgezweigt werden, ist realitätsfern.

Die Karte darf nicht örtlich beschränkt werden (PLZ-Gebiete o.ä.)
Es wird darüber nachgedacht, die Bezahlfunktion der Karte auf ein bestimmtes Postleitzahlengebiet einzuschränken. Sinn der Idee ist offenkundig, dass man die Menschen mit sozialpolitischen Mitteln zwingen will, einen bestimmten Bezirk nicht zu verlassen – auch dies aus unserer Sicht eine unzulässige sozialpolitische Maßnahme, um ein ordnungspolitisches Ziel zu erreichen. Für Menschen, die weit überwiegend keiner Wohnsitz- bzw. Residenzpflicht unterliegen, führt eine Bezahlkarte mit örtlicher Beschränkung zu einer unzulässigen Beschränkung der Freizügigkeit im Bundesgebiet.

Selbst wenn ordnungsrechtliche Auflagen vorliegen, müssten die Sozialbehörden die Nutzung Karte für einen Besuch z.B. beim Rechtsanwalt oder bestimmten Behörden, beim weiter entfernten Facharzt oder auch beim Verwandtenbesuch individuell und kurzfristig dafür freischalten – eine Zumutung für Betroffene wie für die Sozialverwaltung und überdies datenschutzrechtlich fragwürdig. Auch bei einem Umzug scheitert eine zeitnahe Umstellung der Sozialleistungszuständigkeit häufig an bürokratischen Abläufen, eine örtliche Beschränkung der Bezahlkarte verschärft das Problem.

Zudem führt die örtliche Beschränkung von Einkaufsmöglichkeiten – so zeigen es die Erfahrungen früherer Jahre – zu teils absurden praktischen Beschränkungen: Beispielsweise durften Geflüchtete nicht beim Supermarkt in nächster Nähe der Gemeinschaftsunterkunft einkaufen, weil der zum nächsten Verwaltungsbezirk (bzw. Postleitzahlenbezirk) gehörte.

Eine örtliche Beschränkung ist aus dieser Sicht schlicht sinnlos.

Kein Ausschluss bestimmter Waren oder Dienstleistungen
Bekannt ist auch der Plan einiger Länder, den Kauf bestimmter Waren und Dienstleistungen mit der Bezahlkarte verhindern zu wollen. „Leberkäse ja, Alkohol nein“, ließ der Bayerische Ministerpräsident in der BILD wissen. Die geäußerten Vorstellungen davon, was Menschen kaufen dürfen und was nicht, verweisen nicht nur auf Vorurteile und die Diskreditierung Geflüchteter. Sie verkennen vor allem: Sozialleistungen sind keine Erziehungsmaßnahme. Dinge vom Kauf auszuschließen, ist ein Eingriff in die persönliche Freiheit, die dem Staat nicht zusteht.

Auch im Hinblick auf den Ausschluss bestimmter Waren oder Dienstleistungen gilt: Im Sozialrecht ist zu Recht festgeschrieben, dass bedürftige Menschen eigenverantwortlich wirtschaften und damit die Freiheit besitzen sollen, selbst zu entscheiden, was sie wann brauchen. Auch geflüchtete Menschen müssen dieses Recht in Anspruch nehmen können.

Die Karte darf deshalb den Kauf bestimmter Waren oder Dienstleistungen nicht ausschließen.

Sicherstellung von Datenschutz und informationeller Selbstbestimmung, insbesondere keine Zugriffe auf die einmal gewährten Leistungen
Die digitale Bezahlkarte eröffnet Betreibern wie potenziell auch den Sozialverwaltungen, die Zugriff auf die Karten haben, umfangreiche Eingriffsmöglichkeiten sowie Einsicht in personenbezogene Zahlvorgänge. Dies gilt es politisch und technisch von vornherein auszuschließen, um das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu wahren und ordnungsgemäßes Verwaltungshandeln sicherzustellen.

So muss z.B. gewährleistet sein, dass ein einmal auf die Karte gebuchter Betrag nicht einfach wieder entzogen bzw. zurückgebucht werden darf – etwa, weil die Sozialverwaltung meint, jemand habe z.B. seine Unterkunft verlassen und halte sich nicht mehr im Landkreis auf. Jede Leistungsrückforderung muss – eigentlich selbstverständlich – rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Ein eigenmächtiger (rechtswidriger) Zugriff der Behörden auf einmal gewährte Leistungen wie auch auf Daten muss deshalb technisch ausgeschlossen werden.
Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang auch, dafür zu sorgen, dass einzelne technische Änderungen an der Bezahlkarte als (willkürliches) Sanktionsmittel einzelner Behörden oder gar Sachbearbeiter nicht missbraucht werden.

Wenn Bezahlkarten für Geflüchtete eingeführt werden, muss eine verfassungskonforme Anwendung im Interesse von Politik und Behörden liegen, die die Würde der Betroffenen wahrt und deren menschenrechtlich verbürgtes Existenzminimum nicht weiter unterminiert. Wir bitten Sie, bei den Verhandlungen zwischen den Ländern und bei der möglichen Umsetzung in diesem Sinne tätig zu werde

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Dienstag, 12. Dezember 2023
Bundesweiter Protest am 14. Dezember – No Lager Osnabrück ruft zu Kundgebung vor der Ausländerbehörde Osnabrück auf
Am 14. Dezember 2023 finden im Rahmen eines bundesweiten Aktionstages in mindestens 10 deutschen Städten und Gemeinden Protestaktionen vor den jeweiligen Ausländerbehörden statt. In Osnabrück ruft die Initiative No Lager Osnabrück am 14.12.2023 um 15 Uhr zu einer Kundgebung vor dem Stadthaus 2 (Natruper-Tor-Wall 5) auf, in dem die Ausländerbehörde Osnabrück ihren Sitz hat (Aufruf).

Die Gründe für den deutschlandweiten Protest sind vielfältig: Die Organisator*innen des Aktionstages kritisieren organisatorische Probleme wie lange Wartezeiten für Termine und die monatelange, teils jahrelange (Nicht-)Bearbeitung von Anträgen sowie die schlechte telefonische wie elektronische Erreichbarkeit. Ebenso werden Aspekte der Zugänglichkeit, z.B. der Mangel an mehrsprachigen Informationen über die Funktionsweise und Abläufe der Behörde, oder ein vielerorts respektloser und rassistischer Umgang durch die Mitarbeiter*innen angesprochen. Auch die Umsetzung der bundesweit verschärften Asylpolitik in Form von immer rücksichtsloseren Abschiebungen und die oft negative Ausübung der gegebenen Ermessensspielräume wird scharf kritisiert. Die Lösung sehen die Initiator*innen in der Abschaffung der Behörde, welche als solche Menschen kategorisiere und von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließe.

Layla vom Orga-Kreis des Aktionstages zum Kontext des Protestes:
"Im ganzen Land erleben wir eine immer brutalere Abschiebepolitik, die lebensbedrohliche und zerstörerische Folgen für sehr viele Menschen hat. Getrieben von einem gesellschaftlichen Rechtsruck und Hetzdebatten in Politik und Medien wird an den Schreibtischen der Ausländerbehörden eine Politik in die Tat umgesetzt, die wir als rassistisch und migrationsfeindlich kritisieren und die wir nicht hinnehmen wollen."
Zum Protest in Osnabrück sagt Deniz von No Lager Osnabrück:
"Seit über einem Jahr machen wir mit monatlichen Aktionen auf die Zustände in der Ausländerbehörde Osnabrück aufmerksam. Obwohl sehr viele Osnabrücker*innen davon betroffen sind, will die Lokalpolitik über den Rassismus in diesem System nicht reden und reagierte in den letzten Monaten überwiegend abwehrend und diffamierend auf unsere Kritik. Doch wir lassen uns unser Recht auf demokratischen Protest nicht absprechen."
Chris, ebenfalls bei No Lager Osnabrück aktiv, zum Ziel des Protestes:
"Es ging uns nie um graduelle Verbesserungen eines Systems, das Migration grundsätzlich als zu verwaltendes und kontrollierendes Problem begreift. Selbstbestimmte Bewegungsfreiheit und die Wahl des eigenen Wohnortes ist für uns ein unverhandelbares Recht, Migration seit Menschengedenken eine menschliche Realität. Deshalb fordern wir einen grundsätzlich anderen Umgang mit dem Thema, in dem Institutionen wie Ausländerbehörden und die Kategorie 'Ausländer' keinen Platz mehr hat."

Hintergrund:

Seit Jahren kommt es in ganz Deutschland regelmäßig zu selbstorganisiertem und solidarischem Protest gegen Ausländerbehörden, sowie gegen unterschiedliche Aspekte derer Praxis und Organisationsstruktur. In Osnabrück organisierte No Lager Osnabrück am 3. November 2022 unter dem Motto "Wir wollen bleiben! Für das Recht auf Zukunft" eine Demonstration zur Ausländerbehörde Osnabrück. Auslöser war die Situation vieler Sudanes*innen, die seit Jahren nur sogenannte "Duldungen" oder "Duldungen light" ausgestellt bekommen und massiv in ihren Rechten eingeschränkt werden. Anfang 2023 gab No Lager Osnabrück bekannt, über das gesamte Jahr mit monatlichen Aktionen auf die Missstände in der Ausländerbehörde aufmerksam zu machen. Seitdem wurden von der Initiative zahlreiche Info- und Kaffeestände sowie Austauschrunden, mehrere Demonstrationen und Kundgebungen sowie zwei Saalveranstaltungen organisiert. Im November 2023 schließlich folgte unter anderem aus dem Netzwerk We'll Come United heraus der Aufruf, die bundesweiten Proteste in einem gemeinsamen Aktionstag am 14. Dezember 2023 zusammenzuführen.

Über No Lager Osnabrück:

No Lager Osnabrück ist eine lokale antirassistische Initiative. Gemeinsam mit Menschen, die aktiv oder passiv vom Asyl(un)recht betroffen sind, die selbst Rassismus erleben oder Betroffene unterstützen möchten, organisiert die Initiative politische Aktionen und Veranstaltungen, niedrigschwellige Unterstützungsangebote für Menschen mit Fluchtgeschichte und soziale Zusammenkünfte. No Lager Osnabrück versteht sich als Teil einer jenseits von Grenzen organisierten politischen Bewegung gegen die Gegenwart nationalstaatlicher Grenzen und rassistischer Abschottungspolitiken. So kämpft die Gruppe für selbstbestimmte Bewegungsfreiheit und ein gutes, freies Leben für alle Menschen.

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Mittwoch, 6. Dezember 2023
Das Netzwerk „Asyl in der Kirche“ in Niedersachsen und Bremen verstärkt seine Aktivitäten – gerade jetzt
Das unverzichtbare Grundrecht auf Asyl darf nicht ausgehöhlt werden

Hannover, 6. Dezember 2023

In diesen Wochen hat das ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche sich neu gegründet. Kirchengemeinden, Flüchtlings-Beratungsstellen und der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. sehen sich gerade jetzt gefordert, entschieden für den Schutz von geflüchteten Menschen einzutreten. „Abschiebungen im großen Stil sind keine Lösung, sondern eine Bedrohung für schutzsuchende Familien und Einzelpersonen, die oftmals unter Lebensgefahr aus großer Not aufgebrochen sind und in Deutschland ihre Zukunft suchen“, so Pastor Sven Quittkat, neu gewählter Sprecher des Netzwerks. „Ein Kirchenasyl ist bestimmt keine Lösung, aber in immer mehr Fällen ein letzter Strohhalm, um nicht in eine ungewisse und gefährliche Situation abgeschoben zu werden.“



Das Ökumenische Netzwerk Kirchenasyl in Niedersachsen und Bremen positioniert sich mit folgendem Statement zur aktuellen Flüchtlingspolitik:



Das unverzichtbare Grundrecht auf Asyl darf nicht ausgehöhlt werden



Mit Sorge verfolgen wir die aktuellen Entwicklungen in der bundesdeutschen Migrationspolitik. Die Angst vor einer Überlastung der Sozialsysteme führt derzeit zu einer deutlichen Verschärfung in der Praxis des Asylrechts sowie zu einer Infragestellung des gesellschaftlichen Konsenses, dass Verfolgten auch in Deutschland ein Schutzanspruch zusteht. Wenn wir das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl zufluchtsuchender Menschen außer Kraft setzen, geben wir unser humanitäres Handeln für schutzsuchende Notleidende auf. Deshalb fordern wir die politisch Verantwortlichen auf: Das unverzichtbare Grundrecht auf Asyl darf nicht ausgehöhlt werden.

Wir begrüßen aus der Debatte der letzten Monate ausdrücklich, dass geflüchtete Menschen schneller das Recht auf Arbeit erhalten sollen, um selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen zu können.
Die Sozialsysteme würden im Übrigen weiter entlastet werden, würde man zufluchtsuchenden Menschen, die bereits Familienangehörige in Deutschland haben, gestatten, bei ihnen zu wohnen und von ihnen versorgt zu werden. Viele Familien, die bereits in Deutschland Fuß gefasst haben, wären dazu bereit.

In Bezug auf die Verschärfungen des Migrationsrechtes halten wir fest:

· Weiterhin müssen zufluchtsuchende Menschen eine rechtssichere und faire Prüfung auf einen Schutz- und Aufenthaltsstatus in Deutschland erhalten.

· Eine Verlagerung von Prüfungen auf Asyl an die Außengrenzen gefährdet faire, rechtsstaatliche Verfahren. Zufluchtsuchenden droht nach einem Schnellverfahren ohne Zugang zu Beratungsstellen oder Anwält:innen und ohne inhaltliche Prüfung von Fluchtgründen die direkte Abschiebung.

· Deutschland sollte der Tatsache Rechnung tragen, dass bestimmte EU-Staaten keine fairen und rechtstaatlichen Asylverfahren durchführen. Geflüchtete dürfen nicht schikaniert, inhaftiert, geschlagen oder bedroht und auch nicht Opfer von Pushbacks werden. Dies verrät die Grundlagen jedes Rechtsstaats und vergrößert die Not der Menschen und die Gefahr, krank und noch mehr traumatisiert oder in den Händen von Schleusern zu noch gefährlicheren Transfers gezwungen zu werden. Ein Zurückschicken von Geflüchteten in Staaten, die offenkundig elementare Menschenrechte missachten, ist ein Verrat an den elementaren Grundlagen unseres Gemeinwesens und nur graduell unterschieden von einem Pushback.

· In Härtefallen muss die vielfältig bewährte Praxis im Umgang mit Kirchenasyl bestehen bleiben, um eine erneute Prüfung durchführen zu können.

Im ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche Niedersachsen-Bremen sind vertreten: Kirchenasyl gewährende Kirchengemeinden in Niedersachen-Bremen, der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. sowie viele Migrationsberatungsstellen von Caritas und Diakonie





Ansprechpartner für das Netzwerk:



Sven Quittkat

Pastor



Dachstiftung Diakonie



Kirchröder Str. 44e

30625 Hannover

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Dienstag, 28. November 2023
Portrait eines Geflüchteten: Majid Farhadi*
Abschiebungen aus Deutschland in Dublin-Vertragsstaaten (wie Frankreich) sind alltäglich: Im ersten Halbjahr 2023 hat es 273 Abschiebungen allein nach Frankreich gegeben. Was das im Einzelfall für die Betroffenen bedeutet, macht der nachfolgende, eindringliche Ausschnitt aus der Lesung „Der helle Horizont“ von Hanna Legatis und Martin-G. Kunze deutlich, mit dem die beiden derzeit in verschiedenen deutschen Städten auf Tour sind.
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„Heute Abend protestieren wir!“ Der Aufruf verbreitet sich schnell in der kleinen Stadt Oschnaviyeh und hunderte folgen ihm. Geschehen im September vor einem Jahr. Die junge Kurdin Mahsa Amini ist da gerade einige Tage tot.

Oschnaviyeh liegt ganz im Nordwesten des Iran. Hier leben überwiegend Kurdinnen und Kurden. Gegen 21 Uhr strömen die Menschen nach draußen. Kaum sind sie auf den Straßen, werden sie beschossen. Von örtlichen Polizisten mit Schrotflinten und von Scharfschützen. Die Schrot-Munition reißt schlimme Wunden, kann tödlich sein. Vier Menschen sterben sofort, einer ist gerade 16.

„Ich sehe noch immer sein Gesicht vor mir. Warum konnte ich nichts für ihn tun?“

Das fragt sich Majid Farhadi* – bis heute. Als Medizinstudent war er mit ein paar anderen Freiwilligen zu den Demonstranten geeilt, um Verletzten zu helfen. „Rote Sonne“ nennen sie sich, ähnlich dem „Roten Kreuz“ oder dem „Roten Halbmond“. Nur eben mit dem kurdischen Symbol der Sonne.

Majid Farhadi und seine Freunde können einige der Verwundeten versorgen. Bei den Demonstranten wächst derweil die Wut, sie stürmen auf das Polizeirevier zu. Die Beamten verbarrikadieren sich.

Jede Nacht versammeln sich von da an tausende auf den Straßen von Oschnaviyeh und protestieren. Jede Nacht werden es mehr. Und dann geschieht etwas Ungeheuerliches: Die Polizisten, alle Sicherheitskräfte geben auf.

„Man konnte die Angst in ihren Gesichtern sehen. Sie stiegen einfach in ihre Autos und fuhren weg.“ berichtet Majid Farhadi.

„Oschnaviyeh ist frei!“ Über die sozialen Medien verbreitet sich diese Botschaft im Nu. Der Traum vom Ende des Gewaltregimes ist plötzlich ganz nah, der Traum vom Frieden. Deshalb kommt es für die Menschen auch gar nicht in Frage, selber zu irgendwelchen Waffen zu greifen. Außerdem, so ergänzt Majid Farhadi, seien gerade Kurdinnen und Kurden von allen iranischen Regierungen schon immer brutal verfolgt und des bewaffneten Widerstands, des Terrorismus verdächtigt worden. „Wir wollten ihnen keinen Vorwand liefern, uns noch stärker zu unterdrücken.“

Die Freiheit in Oschanaviyeh dauert nur anderthalb Tage. Dann rückt eine Kolonne gepanzerter Fahrzeuge ein, Revolutionsgardisten und Polizisten verhaften auf einen Schlag 1008 Menschen. Auch Majid Farhadi.

Drei Wochen wird er in eine Einzelzelle gesperrt, in einem der sog. Geheimgefängnisse. Das sind – neben den offiziellen Haftanstalten – unter anderem leerstehende Gebäude, Lagerhallen, Keller von Moscheen. Revolutionsgardisten nutzen diese Räume als Folterzentren. Benachbarten Anwohnern soll verborgen bleiben, was dort geschieht.

Majid Farhadi wird heftig geschlagen, auf den Kopf, ins Gesicht, in den Bauch, auf seinen PeniFarhadi Die Milizionäre hängen ihn an der Decke auf, nur seine Zehenspitzen berühren den Boden. Tagelang verhören sie ihn so, halten ein Feuerzeug an seinen Leib und verbrennen seine Körperhaare. Mit einem Schlagstock in seinem After vergewaltigen sie ihn, drohen, ihn zu kastrieren. Irgendwann kann er nicht mehr schreien. „Ich war wie gelähmt, ich habe lediglich lautlos geweint.“

Auf Kaution wird er endlich freigelassen – vorrübergehend. Sofort engagiert er sich erneut, hilft, ein Versorgungs-Netz für verletzte Demonstranten aufzubauen. Als sein Prozess näher rückt und die Situation für ihn immer bedrohlicher wird, entscheidet er sich, aus dem Iran zu fliehen.

Auf gefährlichen Wegen, mit Hilfe von Freunden gelingt es ihm, mehrere Landesgrenzen zu überwinden. Schließlich erreicht er Deutschland.

Auf unsere Frage, wie er die Folter überleben konnte, antwortet er: „Ich habe es geschafft, Widerstand zu leisten.“

In Hamburg findet er Schutz bei seinem Bruder, Ärzte beginnen mit einer Behandlung seiner Verletzungen. Die körperlichen Wunden heilen allmählich, das Trauma bleibt.

In der Zeit, es ist Mitte September 2023, bekommen wir Kontakt zu Majid Farhadi. Trotz all der Einschüchterung, all der Schmerzen, die er erlitten hat, erleben wir ihn als sehr offen und zugewandt. Obwohl wir ganz verschiedene Sprachen sprechen und in verschiedenen Städten leben. Mit digitalen Übersetzungshilfen tasten wir uns aneinander heran und fragen ihn, wie es ihm mittlerweile in Europa geht:

„Ich habe das Gefühl, dass ich mir keine Sorgen mehr über das Sterben machen muss“

Majid Farhadi beantragt Asyl in Deutschland. Aber die Behörden wollen ihn nach Frankreich abschieben. Dublin-Verfahren… Sofort legt er Widerspruch ein. Die Abschiebung wird ausgesetzt – wegen seines katastrophalen Gesundheitszustands. Er erhält eine Duldung.

Dann bekommt er einen Termin bei der Hamburger Ausländerbehörde, um seine Ausweispapiere zu verlängern. Kaum hat er das Amtszimmer betreten, nehmen Sicherheitskräfte ihn fest, setzen ihn in einen Bus nach Frankreich und konfiszieren sein Handy. Er darf weder seinen Anwalt noch seinen Bruder anrufen.

Angst überfällt ihn, er gerät in Panik. Die Sicherheitskräfte gehen körperlich gegen ihn vor, halten ihn fest und verdrehen sein Handgelenk. Der Schmerz ist so stark, dass er um einen Arzt bittet. Ohne Erfolg. „Egal was ist – wir bringen Dich nach Frankreich!“ lautet stattdessen die Antwort.

In Frankreich haben Freunde Majid Farhadi jetzt einen Schlafplatz besorgt, sein Anwalt kämpft darum, dass er nach Deutschland zurückkehren darf.

„Das Mullah-Regime freut sich über meine Abschiebung aus Deutschland. Die deutsche Regierung ist sich bewusst, dass die Islamische Republik größter Unterstützer und Geldgeber der Terrorgruppe Hamas ist, die ganz Israel und Palästina in eine humanitäre Katastrophe gestürzt hat. Meine Abschiebung hilft der Islamischen Republik nun, kurdische Menschen zu unterdrücken.“

Wieder ist Majid Farhadis Zukunft völlig ungewiss. Seine Überzeugung allerdings keineswegs:

„Meine Abschiebung sorgt nicht dafür, dass es in Deutschland einen Flüchtling weniger gibt – sie kommt dem Knebeln meiner Stimme gleich. Aber ich bin sicher, dass das Regime im Iran fallen wird. Und ich werde nie daran zweifeln.“

* Name geändert


https://www.nds-fluerat.org/57875/aktuelles/portrait-eines-gefluechteten-majid-s/

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Dienstag, 21. November 2023
Der Absturz Greta Thunbergs
https://www.gmx.net/magazine/politik/greta-thunberg-absturz-ueberraschung-38888308

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