Donnerstag, 11. Mai 2023
Gülen-Verfolgung in der Türkei wird vom BAMF immer wieder verkannt
Die Zahl asylsuchender Menschen aus der Türkei ist 2022 massiv gestiegen, dennoch sinkt die Anerkennungsquote. Die Verfolgung richtet sich im Wesentlichen gegen Kurd:innen, politische Oppositionelle – und Anhänger:innen der sog. Gülen-Bewegung. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisieren die aktuelle Entscheidungspraxis des BAMF.

Mit Spannung werden die für kommenden Sonntag, den 14.05.2023, angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei erwartet. Setzt sich der aussichtsreiche Oppositionskandidat, Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) durch, besteht die Möglichkeit, dass der autoritäre Kurs gestoppt wird, den die Türkei unter dem noch amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan (AKP) eingeschlagen hat – ein Prozess der, sollte es dazu kommen, viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Denn Erdoğans Amtszeit ging mit der Eruption der Menschenrechte in der Türkei einher. Das zeigt sich einmal mehr in den aktuellen Fluchtbewegungen. Sollte es nicht zu einem Wechsel an der Spitze der Türkei kommen, ist zu erwarten, dass noch viel mehr Menschen jegliche Hoffnung verlieren und aus Angst vor Verfolgung die Türkei verlassen müssen.

Im vergangenen Jahr 2022 wurden knapp 24.000 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger:innen registriert, eine neue Höchstmarke. Mehr Erstanträge wurden nur von Antragsstellenden aus Afghanistan (36.358 Erstanträge) und Syrien (70.976 Erstanträge) gestellt – ein Trend, der sich im ersten Quartal 2023 fortsetzt. Bekam jedoch 2019 noch etwa jede:r zweite:r Antragsstellende:r aus der Türkei einen Schutzstatus, erhält diesen im März 2023 nur noch jede:r vierte. Die (bereinigte) Schutzquote ist damit von über 50% (2019) auf 23% (März 2023) gefallen. Wenn man die jüngsten Entwicklungen in der Türkei betrachtet, dann überrascht diese geringe Schutzquote.

Eine Gruppe, gegen die sich die Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates neben Kurd:innen und Oppositionellen in besonderer Weise richten, sind (vermeintliche) Gülen-Anhänger:innen. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachen konnten durch die Unterstützung einiger Menschen aus diesem Personenkreis Einblicke in die Probleme bei deren Asylverfahren erlangen und in etlichen Fällen eine Korrektur der zunächst negativen BAMF-Entscheidung herbeiführen.

Dabei ist deutlich geworden: Es gibt systematische Probleme bei der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für diese Personengruppe. Alle eint, dass sie willkürlich wegen Terrorismusvorwurfs angeklagt und inhaftiert wurden und auf Grund von weiterhin drohender Verfolgung in der Türkei nach Deutschland fliehen mussten. Den Menschen drohen in der Türkei schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche, mehrjährige Haft und Folter.

Warum werden Gülen-Anhänger:innen in der Türkei verfolgt?
Die Gülen-Bewegung ist ein in der Türkei gegründetes, mittlerweile weltweit agierendes muslimisches, politisches und wirtschaftliches Netzwerk. Sie betreibt Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen. Außerdem gehören ihr Medien, Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen an. Die Bewegung steht in der Kritik, insbesondere in Bildungseinrichtungen junge Menschen zu rekrutieren und die Öffentlichkeit zu täuschen: Während sie sich nach außen transparent und offen gibt, ist sie im inneren streng hierarchisch-autoritär organisiert, wobei konservative Verhaltensregeln restriktiv eingefordert werden. Von Aussteiger:innen wird diese daher als „sektenähnlich“ beschrieben. War die Gülen-Bewegung bis zum Jahr 2013 Verbündete der türkischen Regierungspartei AKP, werden ihre Anhänger:innen seit 2016 systematisch verfolgt.

Ausschlaggebend für die Verfolgung von Gülen-Anhänger:innen in der Türkei war der gescheiterte Putschversuch im Jahr 2016. Für den Putsch wurde maßgeblich der islamische Prediger Fethullah Gülen verantwortlich gemacht. Seit dem gescheiterten Putsch wird das weit verzweigte Netzwerk, dessen Angehörige häufig einflussreiche Stellen in der Türkei inne hatten und zu einer Art Elite zählten, als Terrororganisation eingestuft, unter dem Begriff „FETÖ/PDY“. In der Folge kam es zur Schließung von Medien, Bildungseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen sowie zu massenhaften Entlassungen von (vermeintlichen) Gülen-Anhänger:innen, darunter auch Richter:innen und Staatsanwält:innen, und der Verhaftung dieser Menschen (siehe BAMF: Länderreport Türkei 47, S. 22 f.).

Ab wann eine Person, die dem Gülen-Netzwerk zugerechnet wird, mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hat, lässt sich nicht abschließend feststellen. Teilweise wurden und werden jedoch auch Personen verhaftet, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird (Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A; Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; Lagebericht AA 2021 S. 12- 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA): Länderinformation Türkei S. 43-46)). Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei hält fest, dass die „systematische Verfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhänger“ (Lagebericht Auswärtiges Amt 2021, S. 7; zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A) andauert.

Ausschlaggebend für die Verfolgung in der Türkei ist, dass Gülen-Anhänger:innen nicht mit fairen Strafverfahren in der Türkei rechnen können. Die Unabhängigkeit von Richter:innen ist nicht mehr gegeben: Seit 2016 wurden Richter:innen und Staatsanwält:innen nach kontroversen Entscheidungen aussortiert, suspendiert und teilweise verhaftet – Richter:innen, die regierungskonform entscheiden, werden hingegen befördert. Entscheidungen der Gerichte sind schablonenhaft, Urteile haben mangelhafte rechtliche Begründungen und eine lückenhafte und wenig glaubwürdige Beweisführung. Teilweise bleiben Beweise der Verteidigung auch unberücksichtigt. Die Ausgänge von Strafverfahren in der Türkei mit Bezug zur Gülen-Bewegung sind willkürlich. Es hängt völlig davon ab, an welche:n Richter:in man gelangt.

Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes besagt, dass es grundsätzlich legitim für einen Staat ist, sich gegen Terrorismus zu wehren, und dass dies nicht als politische Verfolgung anzusehen ist. Es muss für Asyl ein Politmalus existieren, also strafrechtliche Sanktionen, die einen diskriminierenden oder unverhältnismäßigen bzw. übersteigerten oder willkürlichen Charakter aufweisen, wie beispielsweise Folter (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2012 – 2 BvR 2954/09; BVerfG, Beschluss vom 29.04.2009 – 2 BvR 78/08; BVerfG, Beschluss vom 12.02.2008 – 2 BvR 2141/06).

Eigentlich eindeutig: Gülen-Anhänger:innen werden aus politischen Gründen verfolgt
Solch ein Politmalus liegt in Strafverfahren gegen Gülen-Anhänger:innen eindeutig vor. Dazu lässt sich dem Lagebericht entnehmen, dass „nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen [ist], dass die türkischen Gerichte im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wozu u. a. Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zählen, keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist“ (Lagebericht AA 2021 Seite 12 ff, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).

Dies bedeutet, dass Personen, die Teil der Bewegung sind oder dieser in einer nicht näher definierten Weise nahe stehen, pauschal unter den Terrorismusverdacht gestellt, angezeigt und verurteilt werden können. Eine politische Verfolgung in Form eines Politmalus ist gegeben, weil tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger:innen mit einer härteren und diskriminierenden Bestrafung rechnen müssen. So auch das VG Hannover in seinem Urteil vom 19.01.2023:

„Insoweit ist außerdem festzuhalten, dass sich bereits ein Straf- bzw. Ermittlungsverfahren aufgrund Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – auch ohne Verurteilung – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als verfolgungsrelevante Handlung darstellt. Denn ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts werden bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren erwirkt, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Dies ist auch besonders einschneidend, weil die Justiz überlastet ist und Verfahren sich dadurch häufig lange hinziehen, was sich durch die Entlassungen in der Justiz nach dem Putschversuch verschärft hat.“

In einem weiteren aktuellen Urteil zu Gunsten eines Gülen-Anhängers schließt sich das Verwaltungsgericht Hannover anderen deutschen Gerichten an und stellt fest, dass „nach den vorliegenden Auskünften (…) nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden [kann], dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK oder – wie hier – der Gülen-Bewegung vorgeht. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden.“ (VG Hannover Urteil vom 24.01.2023)

BAMF verkennt Willkür des türkischen Rechtssystems

Ein laut Anwält:innen häufig auftretendes Problem in türkischen Asylverfahren ist, dass das BAMF letztlich annimmt, dass die Türkei rechtsstaatlich funktionierende Strafverfahren habe. Dabei wird ignoriert, dass die Justiz als unabhängige Institution durch die Verhaftung und Suspendierung zahlreicher Richter:innen und Staatsanwält:innen seit Jahren zerschlagen ist. So sind seit Jahren willkürliche Strafverfahren ohne fairen Prozess an der Tagesordnung. Pauschal werden Menschen unter Terrorismusverdacht gestellt und angezeigt. Urteile werden oft mit drakonischen Strafen verhängt. Dabei wird deutlich, dass in der Türkei ein willkürlich ausgeweiteter Terrorismusbegriff Anwendung findet (siehe Human Rights Watch 10.04.2019, Lawyers on Trial: Abusive Prosecutions and Erosion of Fair Trial Rights in Turkey).

Dass das BAMF in seinen Leitsätzen zur Türkei offenbar weiterhin unterstellt, Strafverfahren würden nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchgeführt, zeigt sich besonders in den Fällen von Hamza* und Kutay*:

Hamza, Ablehnung trotz über zwei Jahren Haft in der Türkei
Hamza, Gülen-Anhänger, wurde zu über sechs Jahren Haft verurteilt und war 28 Monate inhaftiert. Wegen Verfahrensmängeln und prozessualer Fragen wurde das Urteil gegen Hamza durch das türkische Kassationsgericht, dem obersten türkischen Berufungsgericht, aufgehoben und an die untere Instanz zurückverwiesen. Inhaltliche Bedenken gab es an der Verurteilung nicht. Unter diversen Auflagen, unter anderem einem Ausreiseverbot, wurde Hamza aus der Haft entlassen.

Das BAMF bewertet den Entlassungsgrund falsch und führt im Asylbescheid aus, dass Hamza auf Grund der Entlassung ein neues rechtsstaatliches und faires Strafverfahren erwarten könne. Dabei bezieht sich das BAMF auf ein Grundsatzurteil des türkischen Kassationsgerichts, das nach Auffassung des BAMF zu Gunsten von Hamza auszulegen sei. Gülen-Anhänger:innen, müssten, so interpretiert das BAMF die Entscheidung in Vorwegnahme des noch ausstehenden Gerichtsverfahrens gegen Hamza, eine gewisse Bindung zur Organisation haben, damit sie wegen der Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ/PDY verurteilt werden können, und dies sei bei Hamza nicht gegeben.

Darüber hinaus sei der Verstoß gegen das Ausreiseverbot sowie die Gefahr einer erneuten Verhaftung selbst verschuldet: „Sofern der Antragsteller befürchtet, erneut verhaftet zu werden, liegt dies ausschließlich in seinem eigenen Verantwortungsbereich. Der Antragsteller hat sich der gerichtlichen Auflage des Ausreiseverbots widersetzt und die Türkei entgegen dieser Auflage verlassen. Eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen diese Freilassungsauflagen ist jedoch eine reguläre Strafverfolgungsmaßnahme, wie sie in jedem anderen Land für jeden anderen Menschen auch greifen würde. “ (Zitat BAMF-Bescheid Hamza)

Das BAMF kommt zu dem Schluss, dass „sich für die Zukunft des Antragstellers keine Hinweise darauf [ergeben], dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine Verurteilung wegen einer angeblichen Zugehörigkeit zur FETÖ/PDY und einer darauf resultierende Inhaftierung drohen könnten“ (BAMF Bescheid Hamza). Dabei verkennt das BAMF, dass es sich hier nicht um ein reguläres Strafverfahren handelt, sondern um ein politisch bedingtes (siehe hierzu auch Urteil VG Hannover vom 24.02.2023 und Urteil VG Hannover vom 06.01.2023).

Der Ausgang von Strafverfahren gegen potentielle Gülen-Anhänger:innen in der Türkei ist willkürlich. Deutlich zeigt sich dies anhand der türkischen Rechtsprechung. Entscheidungen der höchsten Gerichte, wie dem Kassationsgerichtshof, unterscheiden sich sehr stark, eine umfassende Berücksichtigung der Spruchpraxis findet in der Türkei nicht statt. Hamza kann sich also nicht darauf verlassen, dass ein positives Urteil des Kassationsgerichtshof in seinem Fall herangezogen wird (siehe Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; BFA: Länderinformation Türkei S. 20 und S. 48).

Kutay, Ablehnung trotz 15-monatiger Inhaftierung
Im Fall von Kutay, ebenfalls Gülen-Anhänger und deshalb in der Türkei inhaftiert gewesen, erkennt das BAMF sogar an, dass er „rechtswidrig zu Unrecht zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig mehr als 15 Monate inhaftiert“ (Zitat BAMF-Bescheid Kutay) worden ist. Allerdings wäre er auf Bewährung entlassen worden, und deshalb sei nicht davon auszugehen, dass er erneut inhaftiert werden könnte. Das BAMF versteht also, dass Kutay schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen erlebt hat, geht aber dennoch davon aus, dass ihm das nicht noch einmal widerfahren wird. So tief sitzt das Vertrauen in den vermeintlich türkischen Rechtsstaat.

Fehlende Sorgfalt bei der Prüfung der Asylanträge führt zur Ablehnung
Neben dem Vertrauen des BAMFs in den türkischen Staat ist ein weiterer Aspekt auffällig. Das BAMF prüft in den PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegenden Fällen den Sachverhalt nicht sorgfältig und lehnt Anträge auf Grund von Falschannahmen ab.

Im Rahmen der Anhörung müssen Geflüchtete ihre Fluchtgründe selbst vortragen. Das bedeutet, dass eine ausführliche Erzählung über die Geschehnisse, weshalb sie ihr Heimatland verlassen mussten und sie auch nicht mehr zurückkehren können, erfolgen muss. (siehe § 25 Abs. 1 und 2 AsylG) Das BAMF hingegen unterliegt im Asylverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz. Das bedeutet, dass es die Pflicht hat, den Sachverhalt, also den Schutzbedarf einer geflüchteten Person, von sich aus zu ermitteln, soweit dies möglich ist. Nach § 24 Abs. 1 AsylG muss das BAMF den Sachverhalt klären und alle erforderlichen Beweise erheben und würdigen. Die Beweise sind angemessen zu bewerten und zu prüfen. Neben den Erzählungen der Asylantragstellenden ist es dem BAMF möglich, alle Beweismittel heranzuziehen, die zur angemessenen Klärung und Bewertung der Fluchtgründe notwendig sind. Dazu zählen die Aussagen von Zeug:innen, Sachverständigengutachten, Behördenakten und amtliche Auskünfte, Urkunden und Augenscheinnahmen. Wenn Unterlagen in nicht deutscher Sprache eingereicht werden, sollen diese übersetzt werden (zu den Anforderungen an faire und sorgfältige Verfahren siehe hier).

Flüchtlingen ist es oftmals nicht möglich, schriftliche Beweise für ihre Verfolgung vorzulegen. Solche Beweise können die Glaubwürdigkeit untermauern, allerdings wird – wie auch vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt – von einem „sachtypischen Beweisnotstand“ ausgegangen, denn Menschen auf der Flucht können auf Grund dieser spezifischen Lebenssituation keine Beweismittel mitnehmen. (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84, BVerwG, Urteil vom 29. November 1977 – Az. I C 30/77) Allein der glaubhafte, mündliche Vortrag muss ausreichen, um die Schutzwürdigkeit der Person anzuerkennen.

In den Asylverfahren türkischer Schutzsuchender wird aber trotz dieser klaren rechtlichen Vorgaben häufig verlangt, dass die Menschen Dokumente vorlegen sollen, die ihre strafrechtliche Verfolgung bestätigen. Dabei greifen die deutschen Behörden auf das Datenportal des türkischen Justiznetzwerks „Uyap“ zurück, das Teil der digitalen Infrastruktur des Staates ist. Es wird als eine Art „Wundermittel“ zur Ermittlung der staatlichen Verfolgung in der Türkei angesehen, obwohl der Zugang zahlreichen Einschränkungen unterliegt: Gerade die Strafakte von politischen Gegner:innen landet oftmals erst verspätet im Uyap, denn solange der Staatsschutz ermittelt findet sich die Akte dort nicht. Das Uyap bleibt als Instrument des Verfolgerstaats selbst willkürlich und sollte nur mit großer Sorgfalt genutzt und die Ergebnisse sollten entsprechend eingeordnet werden. Keinesfalls darf allein aus der Tatsache, dass eine Person im Datenportal Uyap nicht geführt wird, geschlossen werden, eine politische Verfolgung läge nicht vor.

Die Fälle von Deniz* und Yasin* zeigen diese Probleme. Im Fall von Yasin hätte Fahrlässigkeit des BAMF bei der Übersetzung fast zu einer Abschiebung geführt, die wohl seine Inhaftierung zur Folge gehabt hätte.

Deniz, abgelehnt wegen fehlerhafter Nutzung von Online-Tool
Deniz ist Gülen-Anhänger und war an Gülen-Schulen tätig. Acht Monate war Deniz auf Grund seiner Aktivität in der Gülen-Bewegung inhaftiert. Gegen ihn ist ein Verfahren in der Türkei anhängig und es existiert ein Haftbefehl. Deniz drohen über fünf Jahre Haft in der Türkei. Mit einem Urteil zu seinen Gunsten ist auf Grund der willkürlichen Strafverfolgung in der Türkei nicht zu rechnen.

Das BAMF lehnt seinen Asylantrag aber ab, weil seine Erzählung unglaubhaft sei:

„Der Antragsteller bleibt einen detaillierten glaubhaften Vortrag schuldig, aus dem sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, beziehungsweise zur Überzeugung der Bescheidunterzeichnerin, die Gefahr einer Verfolgung ergeben könnte. Auch die vorgelegten Dokumente führen zu keiner anderen Beurteilung der Situation. Die Authentizität der vorgelegten Dokumente kann nicht überprüft werden, die Unterlagen sind weder gestempelt noch haben sie einen offiziellen Briefkopf.“ (Zitat aus dem BAMF-Bescheid)

Das BAMF äußert hier Zweifel an der Echtheit der Belege, die Deniz im Rahmen seiner Anhörung einreichte, ohne die Unterlagen wirklich zu prüfen. Deniz lud die Unterlagen über sein Smartphone unwissentlich unvollständig aus dem Datenportal des türkischen Justiznetzwerks runter. Deshalb fehlten auf dem Ausdruck Merkmale, wie Barcodes oder ein offizieller Briefkopf.

Für das BAMF wäre es in Deniz Fall leicht überprüfbar gewesen, ob es sich um echte Unterlagen handelt, die tatsächlich vorliegen. Deniz Rechtsanwalt gibt an, dass es üblich sei, gemeinsam mit der antragstellenden Person die Unterlagen über das Online-Tool einzusehen. In diesem Fall lehnte das BAMF aber lieber ab, als seiner Pflicht nachzukommen, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu prüfen.

Auch nachdem Deniz die Unterlagen – ordnungsgemäß gestempelt und mit offiziellem Briefkopf – besorgt, sieht man beim BAMF keinen Anlass, den Bescheid zu ändern. Jahrelang wartet Deniz auf seinen Termin für das Gerichtsverfahren. Erst als der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL beim BAMF intervenieren und eine Korrektur der Entscheidung verlangen, lenkt das BAMF schließlich ein.

Yasin, Ablehnung wegen fehlerhafter Übersetzung
Auch Yasin wurde die Fahrlässigkeit des BAMFs zum Verhängnis. Yasin wurde zu über sechs Jahren verurteilt und war 17 Monate auf Grund seiner Gülen-Anhängerschaft inhaftiert.

Das BAMF glaubt ihm, dass er rechtswidrig als Unschuldiger zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig inhaftiert wurde. Dennoch geht die Behörde zu Unrecht davon aus, dass Yasin auf Grund seiner Entlassung keine Verfolgung mehr droht.

Die von ihm eingereichten türkischen Dokumente, aus denen hervorgeht, dass ihm noch eine mehrjährige Haftstrafe droht und ein Ausreiseverbot existiert, übersetzt das BAMF nur teilweise und sogar fehlerhaft. In der Konsequenz kommt es zu falschen Schlüssen: Das BAMF geht irrtümlich davon aus, dass Yasin auf Bewährung entlassen wurde. Da es keine neuen Straftaten gäbe, so die naive Schlussfolgerung, würde Yasin bei Rückkehr in die Türkei nicht erneut verhaftet werden.

Die Strafe wurde allerdings nicht zur Bewährung ausgesetzt, dies geht aus den von Yasin vorgelegten türkischen Gerichtsurteilen gegen ihn hervor. Laut Yasins Rechtsanwalt gibt es auch keine gesetzliche Grundlage dafür. Eine Freilassung auf Bewährung ist in Strafverfahren, bei denen es um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung geht, nicht vorgesehen. Eine frühzeitige Entlassung ist erst möglich, wenn die Strafe zu dreiviertel verbüßt wurde. Das wäre bei Yasin nach 56 Monaten und nicht bereits nach 17 Monaten Haft der Fall gewesen. Der Grund für die (vorläufige) Entlassung war ein anderer: Yasin hat Berufung gegen das Urteil eingelegt mit der Folge, dass Yasin bis zum nächsten Gerichtsverfahren auf freien Fuß zu setzen war. Das erste Urteil wurde aber mittlerweile durch das Berufungsgericht bestätigt, sodass fest damit zu rechnen ist, dass Yasin bei Rückkehr in die Türkei wieder inhaftiert würde.

Auch in den weiteren Ausführungen genügt der Bescheid des BAMF den Qualitätsanforderungen nicht: So führt das BAMF etwa aus, dass die irreguläre Ausreise aus der Türkei keine neue Inhaftierung zur Folge habe – und übersieht, dass gegen Yasin ein Ausreiseverbot vorliegt.

Hätte der Flüchtlingsrat Niedersachsen nicht interveniert und wäre Yasin nach erfolglosem Verfahren abgeschoben worden, hätte ihm die unmittelbare Verhaftung am Flughafen gedroht, da bei Einreise in die Türkei Personenkontrollen erfolgen und überprüft wird, ob ein Eintrag im Fahndungsregister vorliegt (Siehe AA Lagebericht 2021, Seite 23, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).

PRO ASYL und Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern Umdenken beim BAMF und Gerichten
In der Türkei können Gülen-Anhänger:innen oder Personen, die zu solchen erklärt werden, nicht mit rechtstaatlichen Verfahren rechnen. Dies wird nicht nur anhand dieser und weiterer Fälle, die PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegen, deutlich, sondern kommt auch in einer Vielzahl von Gerichtsurteilen zum Ausdruck. Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei und Berichte von unabhängigen Organisationen sprechen eine deutliche Sprache.

Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BAMF von der falschen Voraussetzung ausgeht, in der Türkei gäbe es für Gülen-Anhänger:innen Strafverfahren, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionieren – dem ist nicht so, vielmehr sind diese politisch motiviert. Das BAMF verkennt die Willkür der türkischen Strafverfolgungspraxis ebenso wie die Systematik, mit der in der Türkei Gülen-Anhänger:innen zu „Terroristen“ erklärt und verfolgt werden. Die Leitsätze des BAMF zur Türkei müssen dringend überarbeitet werden. Auch die interne Qualitätskontrolle funktioniert offenkundig nicht, wenn zahlreiche handwerklich mangelhafte Entscheidungen ergehen und diese erst auf zivilgesellschaftliche Intervention hin korrigiert werden. Die geschilderten Probleme betreffen zudem nicht nur Gülen-Anhänger:innen, sie lassen sich auch uneingeschränkt auf die Asylverfahren kurdischer und oppositioneller Personen übertragen!

PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern daher, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis zur Türkei umfänglich einer kritischen Überprüfung unterzieht und die Kriterien seiner Entscheidungsfindung überarbeitet. Ansonsten droht verfolgten Menschen immer wieder die Abschiebung. Es besteht dringender Handlungsbedarf, damit verfolgte Menschen aus der Türkei zu ihrem Recht auf Schutz gelangen.

* Name zum Schutz der Betroffenen Person geändert

https://www.nds-fluerat.org/55963/aktuelles/guelen-verfolgung-in-der-tuerkei-wird-vom-bamf-immer-wieder-verkannt/

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Donnerstag, 13. April 2023
Unterlassene Hilfeleistung führt zu Massentoden
Verzögerungen bei sechs staatlich geleiteten Rettungsaktionen haben in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 zum Tod von mindestens 127 Menschen geführt. Wegen des Ausbleibens einer Reaktion auf einen siebten Fall starben den Angaben zufolge mindestens 73 Migranten. Insgesamt starben von Januar bis März 2023 mindestens 441 Menschen bei ihrer Flucht über
das Mittelmeer.

https://www.sueddeutsche.de/politik/mittelmeer-migration-gefluechtete-tote-iom-1.5796073

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Donnerstag, 6. April 2023
Es gibt nur eine Menschenwürde – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!
+++ Weiterleitung erwünscht - Organisationen können noch bis Mitte Mai 2023 unterzeichnen +++


Viele Geflüchtete erhalten zum Leben lediglich Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz – und damit weniger als das Bürgergeld, das laut Gesetz das menschenwürdige Existenzminimum sicherstellen soll. Oft werden Geldleistungen durch Sachleistungen ersetzt, die die Menschen diskriminieren und entmündigen und letztlich eine weitere drastische Leistungskürzung darstellen. Die Einschränkung der Gesundheitsversorgung führt oft zu verschleppter, verspäteter und unzureichender Behandlung. Sanktionen führen häufig zu weiteren Kürzungen. Durch die fehlende Einbindung in das reguläre Sozialsystem werden die Betroffenen zudem von den Maßnahmen der Arbeitsförderung weitgehend ausgeschlossen.

Beschlossen wurde das AsylbLG 1993, erklärtermaßen sollte es zur Abschreckung von Schutzsuchenden dienen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach Regelungen im AsylbLG für verfassungswidrig erklärt. Die Ampel-Koalition hat angekündigt, das Gesetz "im Lichte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts" überarbeiten zu wollen - doch das reicht nicht. Im Jahr 2023 besteht das Asylbewerberleistungsgesetz seit 30 Jahren. Es ist Zeit, dieses beschämende Kapitel deutscher Abschreckungspolitik endgültig zu beenden.

Anfang dieses Jahres haben über 60 Organisationen in einem Appell die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gefordert. Menschenrechtsorganisationen, Wohlfahrtsverbände und Anwält*innenverbände fordern gleiche Standards für alle: Geflüchtete müssen in das reguläre Sozialleistungssystem eingegliedert werden. Inzwischen haben über 139 Organisationen die Forderung unterzeichnet - 31 bundesweite, 36 landesweite und 72 regionale+lokale. Unterzeichnungen sind weiterhin möglich.
Der vollständige Text des Appells und die aktuelle Unterzeichnerliste sind hier zu finden: www.proasyl.de/asylbewerberleistungsgesetz

Unterzeichnungswünsche bitte per Email mit vollständigem Namen der Organisation an gegen-asylbLG@proasyl.de

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Freitag, 9. Dezember 2022
Schüsse an Europas Außengrenze - Zusammenarbeit mit Frontex sofort beenden!
Deutschlands Beitrag zu Frontex beenden!
passend zu den Informationen von Pro Asyl


Menschenrechtsverletzungen zum Trotz: Deutsche Unterstützung des kroatischen Grenzschutzes

https://weact.campact.de/petitions/gewalt-an-europas-aussengrenzen-deutschlands-beitrag-zu-frontex-beenden-1?bucket=20221209-wa-test-up-frontex-retest-seg-antira&source=20221209-wa-test-up-frontex-retest-seg-antira&utm_medium=email&utm_source=campact_mailing&utm_campaign=20221209-wa-test-up-frontex-retest-seg-antira&utm_content=variation-a&utm_term=




https://www.proasyl.de/news/menschenrechtsverletzungen-zum-trotz-deutsche-unterstuetzung-des-kroatischen-grenzschutzes/
und dem gestern ausgestrahlten Beitrag vom Politmagazin Monitor.

Verbotene Orte: Europas düstere Flüchtlingspolitik

https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-verbotene-orte-europas-duestere-fluechtlingspolitik-100.html

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Donnerstag, 8. Dezember 2022
Diskriminierung migrantischer Jugendlicher bei der Suche nach Ausbildungsplätzen
Eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie bestätigt Diskriminierungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund bei Bewerbung auf Ausbildungsplätze.

"Jugendliche mit Migrationshintergrund und Hauptschulabschluss werden bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz benachteiligt.
Sie sind häufig mit Zweifeln an ihrer Eignung konfrontiert, die auf Vorurteilen beruhen. Das hat dramatische Folgen für die Betroffenen
selbst – ihr gesamter weiterer Lebensweg wird dadurch erschwert, dass sie nicht die gleichen Chancen erhalten wie andere".

Das hat die von Dr. Janina Söhn vom Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) an der Universität Göttingen
und Sophie Krug von Nidda von der Universität Paderborn verfasste Studie zu Tage gebracht.

Dabei würden die Ressentiments meist nicht offen geäußert, sondern z.B. Vorbehalten innerhalb der Belegschaft oder auf Seiten der Kund:innen der Betriebe vorgeschoben.


Die Studie kann hier heruntergeladen werden:
https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008467

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Dienstag, 6. Dezember 2022
35 Organisationen warnen vor Abkehr vom Flüchtlingsschutz in Europa: Bundesregierung muss sich gegen Instrumentalisierungsverordnung stellen!
Am Donnerstag, 8. Dezember, stimmen die EU-Innenminister*innen im Rat der Europäischen Union (EU) über einen Gesetzesvorschlag ab, der schwerwiegende Folgen haben würde: Flüchtlingsschutz und Menschenrechte sollen durch die sogenannte Instrumentalisierungsverordnung an den Außengrenzen ausgehebelt werden. Im Vorfeld der Abstimmung verweisen 35 Organisationen auf den Koalitionsvertrag und fordern die Bundesregierung in einem gemeinsamen Statement eindringlich auf, gegen den Entwurf zu stimmen.

Moment der Wahrheit für die Bundesregierung: Steht sie ein für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit?

"Die Bundesregierung muss sich entscheiden: Steht sie auf der Seite von Ländern wie Polen, die schutzsuchende Menschen an ihren Grenzen misshandeln, oder auf der Seite von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit? Seit Jahren beobachten wir, dass grundlegende Rechte an den Außengrenzen verletzt werden. Mit der Instrumentalisierungsverordnung kommen die EU-Innenminister*innen den Ländern entgegen, die das Fundament der EU untergraben", kommentiert Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.

Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, "die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen [zu] beenden". An diese Aussage erinnern die 35 bundesweiten Organisationen in ihrem gemeinsamen Statement.

Sie stellen zudem fest: "Die Instrumentalisierungsverordnung droht, an den Außengrenzen den schon bestehenden Ausnahmezustand rechtlich zu zementieren. Das können und wollen wir nicht hinnehmen. Europäisches Recht muss wieder angewendet werden – die vorgelegte Verordnung verbiegt aber das Recht und gibt so denen, die es derzeit an den Außengrenzen brechen, recht."

Toxisches Narrativ der Instrumentalisierung soll Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen

"Wenn es nach Aktivierung der Instrumentalisierungsverordnung überhaupt Menschen schaffen, einen Asylantrag zu stellen, dann werden alle Schutzsuchenden für ihr Asylverfahren bis zu fünf Monate inhaftiert – selbst Kinder und kranke Menschen. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Flucht ist kein Verbrechen. Aber diese Abschottungsverordnung bestraft die Menschen dafür, dass sie eine Chance nutzen und vor Krieg oder Verfolgung in ihrem Heimatland Schutz in Europa suchen", sagt Judith. "Der Vorschlag ist ein Tiefpunkt dessen, was in Brüssel ernsthaft in der Flüchtlingspolitik diskutiert wird. Die Bundesregierung muss sich auf ihren Koalitionsvertrag besinnen, eine rote Linie ziehen und die Verordnung ablehnen."

Schon jetzt verweigern Länder wie zum Beispiel Polen Schutzsuchenden an der Grenze zu Belarus das Recht, überhaupt einen Asylantrag zu stellen. Sie begründen dieses rechtswidrige Vorgehen damit, dass Belarus die Schutzsuchenden gegen die EU "instrumentalisiere". Dieses toxische Narrativ, dass Rechtverletzungen an Schutzsuchenden rechtfertigen soll, wird eins zu eins in der entsprechend benannten Verordnung übernommen. Auffällig ist auch: Die Maßnahmen in der Verordnung richten sich nur gegen die Menschen, nicht gegen die angeblich instrumentalisierenden Politiker*innen. Künftig könnten auch noch in anderen Situationen die "Instrumentalisierungs-Karte" gezogen werden, etwa durch die neo-faschistische Regierung in Italien gegenüber Seenotrettungsorganisationen. Denn auch nicht-staatliche Akteur*innen und Seenotrettung sollen als auslösende Momente zählen können, wenn ihnen vorgeworfen wird, die EU destabilisieren zu wollen.

Hintergrund zur Instrumentalisierungsverordnung

Den Vorschlag zur Instrumentalisierungsverordnung hat die Europäische Kommission im Dezember 2021 gemacht. Ein ähnlicher Vorschlag für ein Sonderrecht durch Ratsbeschluss für Polen, Litauen und Lettland war damals gescheitert. Die tschechische Ratspräsidentschaft hat es sich zum Ziel gesetzt, bis zum Ende des Jahres 2022 eine Einigung im Rat über eine Verhandlungsposition zu erreichen. Hierfür müsste am 8. Dezember eine Mehrheit im Rat hinter einem Kompromisstext stehen (von statewatch geleakter Kompromisstext vom 4. November 2022). Bereits im September protestierte ein breites europäisches Bündnis gegen den Vorschlag.

Die Instrumentalisierungsverordnung würde den Rechtsverstößen an den Außengrenzen kein Ende setzen, sondern:

Rechtswidrigen Pushbacks Vorschub leisten, da u.a. asylsuchende Menschen für bis zu vier Wochen nicht registriert werden müssen und verstärke Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen durch den Schengener Grenzkodex aktiviert werden.

Dafür sorgen, dass alle Menschen, die einen Asylantrag stellen, für bis zu fünf Monate an den Außengrenzen inhaftiert werden – auch Traumatisierte, Menschen mit Behinderungen, Familien und allein fliehende Kinder.

Die humanitäre Krise an den Außengrenzen verschärfen, indem Unterbringungs- und Aufnahmestandards unter das erträgliche Minimum gesenkt werden. Notwendige unabhängige rechtliche Beratung oder ärztliche und psychologische Unterstützung werden absehbar nicht möglich sein.

Die Definition einer Instrumentalisierung ist zudem sehr vage und wurde bereits mit der Einigung über die Reform des Schengener Grenzkodex beschlossen. Auf Antrag des vermeintlich betroffenen Mitgliedstaats soll nach Empfehlung der Kommission der Rat mit Mehrheitsbeschluss über die Anwendung der Verordnung entscheiden.
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Donnerstag, 1. Dezember 2022
Asyl in der Kirche
Zur Zeit der Abschiebewellen in den Achtziger und Neunziger Jahren war verschiedentlich schon das Kirchenasyl die letzte verzweifelte Möglichkeit für Geflüchtete, der Deportation zu entgehen. Die Situation ist heute eine andere, aber das Asyl in der Kirche ist inzwischen wieder von steigender Bedeutung.
Ein Bericht:

https://www.fr.de/politik/kirchenasyl-wenn-die-kirche-zur-letzten-zuflucht-wird-news-91907749.html

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Donnerstag, 24. November 2022
Flüchtlingsräte: Für eine qualifizierte Asylverfahrensberatung
Flüchtlingsräte fordern bessere Standards und eine Einbeziehung auch von NGOs
Die Ampel-Koalition hat einen Entwurf zur Einführung einer bundesweiten behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung vorgelegt. Die Landesflüchtlingsräte kritisieren die Pläne der Bundesregierung und fordern ihre grundlegende Nachbesserung.

Muzaffer Öztürkyilmaz, Flüchtlingsrat Niedersachsen

"Die Pläne der Bundesregierung sind nicht geeignet, eine fachkundige Beratung von Geflüchteten im Asylverfahren zu gewährleisten. Sie sind unzureichend finanziert und lassen zivilgesellschaftlichen Organisationen die Kosten für die Umsetzung einer staatlichen Aufgabe tragen. Zudem schließen die Pläne NGOs, die über langjährige Expertise in der Arbeit mit Geflüchteten verfügen, grundsätzlich von einer Beteiligung an der Asylverfahrensberatung aus und benachteiligen sie dadurch gegenüber den Wohlfahrtsverbänden."

Die Landesflüchtlingsräte fordern die Bundesregierung auf, ihre Pläne wie folgt nachzubessern:

1. Einbeziehung von NGOs
Nach Vorstellungen der Bundesregierung sollen ausschließlich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrt berechtigt sein, Förderanträge für die Asylverfahrensberatung zu beantragen. Das benachteiligt ohne sachlichen Grund die Zivilgesellschaft, so z.B. Flüchtlingsräte, deren Arbeit vor allem auf die Arbeit mit schutzsuchenden Menschen ausgerichtet ist und deren langjährige Expertise in der Asylberatung somit ungenutzt bleibt. Im Kontext des hier angewendeten Subsidiaritätsprinzips müssen deshalb alle für diese Rechtsdienstleistung geeigneten Träger, v.a. NGO und MSO einen gleichberechtigten Zugang zur Förderung haben.

2. Angemessene Finanzierung
Umfang und Ausrichtung der Aufgabenstellungen in der Asylverfahrensberatung entsprechen dem Grunde nach einer Rechtsdienstleistung. Zwar erkennt die Bundesregierung an, dass eine Asylverfahrensberatung auch eine Rechtsdienstleistung sein kann ? die Vergütung des Personals soll jedoch maximal nach TVöD 9c erfolgen. Damit widerspricht die aktuelle Eingruppierung in eklatanter Weise den tarifrechtlichen Regelungen. Als Orientierungsgröße für die Dotierung der Stellen muss ? entsprechend der mit ihr verbundenen Anforderungen - mindestens TvöD 12 herangezogen werden.

3. Vollständige Finanzierung
Die Ampel-Koalition verlangt von den Trägern der Asylverfahrensberatung, dass diese 10% der entstehenden Kosten aus eigenen Mitteln finanzieren. Da die Bundesregierung jedoch mit der Asylverfahrensberatung eine staatliche Verpflichtung aus der EU-Aufnahmerichtlinie umsetzt, sind die im Rahmen der Asylverfahrensberatung entstehenden Kosten vollständig vom Bund zu übernehmen.

4. Asylverfahrensberatung auch an Flughäfen
Die Bundesregierung muss auch an Flughäfen, an denen Asylanträge im sog. Flughafenverfahren geprüft werden (derzeit Berlin-Brandenburg, Düsseldorf, Frankfurt/Main, Hamburg und München) eine Asylverfahrensberatung für Asylsuchende implementieren, um ihren Verpflichtungen aus der EU-Verfahrensrichtlinie vollumfänglich nachzukommen.

5. Eigenständiges Förderprogramm für die Identifizierung vulnerabler Geflüchteter
Für die Asylverfahrensberatung von Geflüchteten, die aufgrund ihrer Vulnerabilität besonders schutzbedürftig sind, sollen insgesamt 10% der vorgesehenen Mittel verwendet werden. Wie die Beratung von vulnerablen und nichtvulnerablen Personen in der Praxis voneinander abgegrenzt werden soll, bleibt unklar.
Die Identifizierung von Vulnerablen ist nicht nur für das Asylverfahren, sondern auch für Fragen einer angemessenen Unterbringung und Unterstützung im Alltag von entscheidender Bedeutung. Daher sollte für diesen Zweck ein eigenes Förderprogramm aufgelegt werden. Im Rahmen der Asylverfahrensberatung sollten ohne eine feste Quote auch Träger gleichberechtigt einbezogen werden, die sich auf die Beratung von vulnerablen Geflüchteten spezialisiert haben.



Hintergrund:
Die Einführung einer Rechtsgrundlage für eine vom Bund finanzierte Asylverfahrensberatung ist im Entwurf eines ?Gesetzes zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren? als §12a Asylg -E vorgesehen. Der Entwurf wurde nach der ersten Lesung im Bundestag an den federführenden Ausschuss abgegeben und soll zum Jahresende verabschiedet werden. Begleitend hat die Bundesregierung ein Konzept sowie den Entwurf für ein Merkblatt und eine Interessensbekundung entwickelt.
Mit der Asylverfahrensberatung setzt die Bundesregierung die sich aus Art. 19 Asylverfahrensrichtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten um, ?dass den Antragstellern auf Antrag unentgeltlich rechts- und verfahrenstechnische Auskünfte erteilt werden; dazu gehören mindestens Auskünften zum Verfahren unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Antragstellers?. Diese staatliche Aufgabe setzt die Bundesregierung um, indem sie auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips die Wohlfahrtsverbände mit der Umsetzung der Asylverfahrensberatung beauftragt. Für 2022 sind fünf Millionen Euro im Haushalt eingeplant, für 2023 sind es 20 Millionen. In der Folgezeit soll die Asylverfahrensberatung eine flächendeckende Versorgung mit Asylverfahrensberatung gewährleisten, wobei die Bundesregierung davon ausgeht, dass im Schnitt 60% aller Asylsuchenden eine Beratung aufsuchen wollen. Unter Zugrundelegung von 180 Asylsuchenden pro Beratungsstelle berechnet die Bundesregierung daraus einen Bedarf von bundesweit 700 benötigten Vollzeitstellen und Kosten in Höhe von bis zu 80 Millionen Euro. Die Beratung umfasst auch Zweit- und Folgeanträge sowie Widerrufsverfahren.

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Montag, 3. Oktober 2022
Matthias Lange Fluchthilfepreis an Markus Grotian verliehen
Matthias Lange war Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Flüchtlingsrats Niedersachsen, mein Freund, langjähriger Genosse und kurzzeitiger Chef, der leider viel zu früh starb. Er organisierte und gestaltete nicht nur zahlreiche Aktionen und Kampagnen der Solidaritätsarbeit mit Geflüchteten, er fundierte diese auch theoretisch, insbesondere mit seiner Postulierung des "Rechtes, Rechte zu haben", was im behördlichen Umgang mit den Flüchtlingen, in dem diese als Objekte behandelt werden nicht vorkommt. Für die Gruppe Materialien für einen neuen Antiimperialismus und deren Umfeld, deren Thema ja immer wieder der Diskurs um Kämpfe um das unmittelbare Existenzrecht ist war dieser Ansatz hochinteressant und den eigenen Positionen sehr nahestehend, obwohl Matthias aus einer ganz anderen Ecke kam.

Nach ihm ist ein Preis benannt, der jährlich vergeben wird, der Matthias Lange Fluchthilfepreis.


Am 17.09. 2022 hat der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. im Rahmen einer Feierstunde in Hannover den Vorsitzenden des Patenschaftsnetzwerk, Marcus Grotian, mit dem Dr. Matthias Lange-Fluchthilfepreis geehrt. Der Hauptmann der Bundeswehr hat dafür gesorgt, dass mehr als 300 Ortskräfte nach dem Rückzug der alliierten Truppen aus Afghanistan vor den Taliban geschützt wurden und nach Deutschland fliehen konnten.



Laudatio von Dr. Alema Alema, ehemalige Friedensminsterin von Afghanistan


Sehr geehrte Damen und Herren liebe Freunde,
es ist mir eine Ehre, dass ich die Laudatio über einen Menschen vortragen kann, der bei
seinem Einsatz keine Grenzen kennt und für den nur eines zählt, und das ist die
?Menschlichkeit?.
Ich möchte am Anfang kurz sagen, dass ich den militärischen Einsatz in Afghanistan von
Anfang an kritisch gesehen habe und mit seinem Verlauf bis zu dem Abzug der westlichen
Truppen im letzten Jahr, unglücklich bin.
Heute aber soll es um die durch den Einsatz gefährdeten afghanischen Ortskräfte gehen, und
das besondere Engagement von Herrn Grotian für ihre Rettung. Seine Aktivitäten in diesem
Feld sind beispiellos.

Markus Grotian ist Hauptmann der Bundeswehr. Er war 2011 in Kunduz stationiert und hat
dort als Panzergrenadier gedient. Dabei hat er die Arbeit der Ortskräfte zu schätzen gelernt
und gemerkt, wie die Mission auf sie angewiesen war. 2015 gründete er die Organisation
Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte.
Schon vor Truppenabzug schrieb Herr Grotian der damaligen Bundesregierung Mails und
Briefe, wies auf die Gefahr der schnellen Machtergreifung durch die Taliban hin und bot
sogar seine Hilfe an. Er kritisierte den Umgang mit den Ortskräften und die Umständlichkeit der Aufnahmeverfahren. Er forderte eindringlich, dass Menschen nun schnell rausgeholt
werden müssen, wenn sie aufgrund ihrer Tätigkeit gefährdet sind. Seine Mails wurden
ignoriert.

Am 15. August 2021 übernahmen die Taliban die Macht in Afghanistan, die islamische
Republik Afghanistan zerbrach. Für den Kollaps der ehemaligen Regierung spielen nicht nur
innere, sondern auch äußere Faktoren eine Rolle: Infolge des Doha-Abkommen zwischen
den Taliban und den USA, mussten wir einen fluchtartigen und bedingungslosen Abzug der
westlichen Truppen erleben und zuschauen, wie sich die Taliban in kürzester Zeit militärisch
an die Macht kämpften. Dadurch wurden alle verraten, die sich in den letzten 20 Jahren für Demokratie und
Menschenrechte eingesetzt haben.

Zudem wurde Afghanistan wieder Zentrum von terroristischen Netzwerken.

Es existiert faktisch keine legitime Regierung. Die De-facto-Regierung der Taliban
entbehrt Anerkennung und Legitimität nach außen und innen.

Es existiert weder eine Verfassung, noch ein Justizwesen.

Jetzt erfahren Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, Juristinnen und Juristen,
Sportlerinnen, Künstlerinnen und Künstler, ehemalige Regierungsmitarbeitende und
Sicherheitskräfte eine massive Beschneidung ihrer Grundrechte und Freiheiten und
müssen Vergeltung fürchten.
Durch die drakonische Politik der Taliban werden Millionen Frauen und Mädchen
ihres Rechts auf ein sicheres, freies und würdiges Leben beraubt. Die Frauen werden
systematisch unterdrückt und diskriminiert, und auch im Haus haben sie keinen
Schutz vor häuslicher Gewalt. Afghanistan ist das einzige Land auf unserem Planeten,
in dem die Mädchen ab der 7. Klasse nicht mehr zur Schule gehen dürfen.
Inhaftierungen, Folter und Zwangsehen bestimmen das Leben der Frauen.
Der Westen hat sich aus der Verantwortung gezogen. Das mindeste, was er nun tun kann,
ist, viele Menschen zu retten, die akut bedroht sind. Es ist es enorm wichtig, dass
Demokratie und Menschenrechte die Leitlinien des Handelns sind. Wer in Afghanistan für
Menschenrechte, Demokratie und westliche Organisationen eingetreten ist, muss gerettet
werden.
Herr Grotian wollte trotz aller Schwierigkeiten nicht aufgeben. "Der Pragmatiker", wie die
Süddeutsche Zeitung titelte, stellte schnell dort Hilfe zur Verfügung, wo sie gebraucht
wurde. Er ließ sich beurlauben und sammelte Spenden, um die Ausreisen gefährdeter
Ortskräfte zu unterstützen.
Das Patenschaftsnetzwerk mietete 2021 fünf Schutzhäuser in Afghanistan an, in dem 400
gefährdete Ortskräfte mit ihren Familienmitgliedern Schutz finden konnten. Außerdem
evakuierte das Patenschaftsnetzwerk mehr als 300 Personen aus Afghanistan, die eine
Aufnahmezusage erhalten hatten.

Das Patenschaftsnetzwerk afghanischer Ortskräfte wurde darüber hinaus zu einem
wichtigen Akteur auf politischer Ebene. Marcus Grotian war und ist medial präsent:
geradezu unermüdlich fordert er, dass nicht weggesehen werden darf, dass es
unbürokratische Hilfe braucht. Er kritisiert, dass die Ortskräfte nicht rechtzeitig in Sicherheit
gebracht wurden und bemängelt die "unterlassene Hilfeleistung" durch die alte Regierung.
Die Evakuierung beschreibt er als "moralisches Versagen". Immer wieder stellt er dar, dass
der politische Wille der Bundesregierung bei der Evakuierung fehlte und Menschen im Stich
gelassen wurden.


Herr Grotian war wichtiger Akteur in den Verhandlungen zum Aufnahmeverfahren und
eine wichtige Stimme für die Betroffenen in Afghanistan ? auch wenn heute klar ist, dass
seine und unsere gemeinsamen Vorstellungen für das Aufnahmeprogramm von der Politik
nicht zufriedenstellend umgesetzt werden.
Zum Jahrestag der Machtübernahme der Taliban organisierte das Patenschaftsnetzwerk
gemeinsam mit PRO ASYL einen Ortskräftekongress in Berlin mit verantwortlichen
Politiker*innen. Die Forderung nach der Reform des Ortskräfteverfahrens besteht
weiterhin. Herr Marcus Grotian setzt sich aktiv und engagiert dafür ein. Er hat meinen und
unser aller Respekt dafür.

Lieber Marcus, bleib stark. Möge dein Weg grün sein.


Rede von Marcus Grotian, Preisträger


Liebe Anwesende,
ich danke für Ihr Wohlwollen und Ihre Unterstützung in den letzten 16 Monaten, die auch
heute hier deutlich wird. Als Niedersachse, aus Hildesheim stammend, freue ich mich darüber noch einmal beson ders. Ich danke an dieser Stelle besonders meiner Frau Nadine, die
auf mich in den letzten 16 Monaten an mehr Tagen hat verzichten müssen, als sie sich das je
erträumt hätte. Deployment on a sofa, Einsatz von der Couch aus nannte es mein amerikanischer Counterpart Matt Zeller treffend.
An meinem 44. Geburtstag, am 11.07. letzten Jahres, saß ich mit ihr beim Essen, wenigstens
mal 3 Stunden nicht an Afghanistan denken, kurz feiern. Das Essen kommt, das Telefon klingelt wieder und wieder. Es war der Tag, an dem in Kabul das erste von uns angemietete
Safehouse bezogen wurde. 90 Menschen brauchen natürlich Essen, Trinken und Toilettenpapier. Das war drei Tage bevor der Katastrophenschutz in Deutschland, ein etabliertes Verfahren übrigens wie das für die Ortskräfte, seine Schwächen in aller Deutlichkeit aufzeigte und
Menschen in Deutschland ertranken.
Zurück zu den Safehouses: Es waren zuletzt über 400 Seelen, die dort unterkamen. Es ist für
mich immer etwas ganz Besonderes, wenn ich heute Menschen in Deutschland treffe, die
wir damals in den Safehouses schon unterstützten.
Die Ortskräfte mussten ihre Existenzen zurücklassen, wir sind im August privat ?nur umgezogen?. Das jedenfalls entgegnete man mir damals auf meine Beschwerde, dass ich meine Unterwäsche nicht mehr finden konnte und nicht wusste, wo die Küche ist.
Ich erinnere mich auch noch an eine Szene, in der ich zum wiederholten Male der Aufforderung, die Katzentoiletten zu machen, nicht im engeren zeitlichen Zusammenhang nachkam.
Wütend und traurig standst du vor mir, zu recht. Kleinlaut versuchte ich zu erklären. dass der
Staatssekretär aus dem Verteidigungsministerium am Telefon sei, was an der Katzentoilettenproblematik aber natürlich nichts änderte. Surreal.
Hase, Ich danke dir von Herzen für deine Rückendeckung und alles was du auf dich genommen hast, um mich zu entlasten.
Aber leider sind solche Veranstaltungen naturgemäß in sich zwiegespalten. Damit jemand
ausgezeichnet werden kann, müssen vorher Dinge schiefgelaufen sein, müssen außergewöhnliche Maßnahmen von einzelnen oder Gruppen ergriffen worden sein. Das Besondere
ist, dass in solchen Momenten Menschen sich offenbaren, die die eigene Unversehrtheit
hintanstellen, sei es körperlich, seelisch, aber auch gesellschaftlich.
Ich fuhr in Kunduz einmal mit zwei Trägern der Tapferkeitsmedaille der Bundeswehr durch
den Unruhedistrikt, in dem wir operierten. Ich sprach sie an, wie es sich anfühlte, die höchste Auszeichnung für Tapferkeit bekommen zu haben, weil sie Leben gerettet hatten unter
Einsatz ihres eigenen. Für mich war es eine Ehre, mit beiden zusammen auf Patrouille zu fahren. Beide schauten mich verbittert an, und einer antwortete: Ich würde sie jeden Tag eintauschen für die beiden, die ich an dem Tag nicht retten konnte.
Es traf mich unvorbereitet.
Wir leben in einer postheroischen Zeit, lese und höre ich. Und dennoch brauchen Menschen,
braucht eine Gesellschaft Vorbilder. Für die Tage, wo Dinge nicht so laufen wie geplant.
Unsere Demokratie läuft Gefahr, unbemerkt ausgehöhlt zu werden.
Entscheider, sei es in Politik oder Institutionen, sehen sich immer auch Kritik ausgesetzt, das
bedingen die verschiedenen Positionen einer pluralistischen Gesellschaft. Und doch hat sich
in Deutschland in meiner Wahrnehmung etwas geändert in den letzten 16 Monaten. Lassen
Sie mich dies an meinem Beispiel deutlich machen:
Ich habe letztes Jahr mein 25-jähriges Dienstjubiläum als Berufssoldat gefeiert. Lese ich meine Beurteilungen, war ich ein ausgezeichneter Soldat. Und doch saß ich im letzten August in
der Bundespressekonferenz und in vielen Interviews und warf der eigenen Regierung unterlassene Hilfeleistung vor. Ich werde nicht müde, dies zu betonen, denn was mich über allen
Maßen beunruhigt, auch heute noch, ist die Unfähigkeit oder Unwilligkeit (beides ist letztlich
gleich schlimm), die politischen und bürokratischen Fehler einzugestehen und daraus
Schlussfolgerungen abzuleiten. Verantwortung zu übernehmen, die man im Kleinen so
selbstverständlich von allen Bürgern erwartet, wurde durch eine Verantwortungsdiffusion
unmöglich gemacht. Wer sagt oder denkt, er habe nichts falsch gemacht, der braucht ja auch
nichts zu ändern. Ich schaudere noch heute, wie alle beteiligten Ministerien, Minister und
Sprecher stets betonten, dass im eigenen Bereich alles super gelaufen sei. Immer war man
sich der großen Verantwortung bewusst, immer war alles geregelt, bewährte Verfahren sollten eingespielt sein, die 2400 Menschen aus Afghanistan hätten retten sollen. 2400. Ende
letzten Jahres gab es, ohne dass sich die Verfahren geändert hätten, plötzlich 24.000 Aufnahmezusagen für Menschen, die für uns gearbeitet hatten. Irgendwas muss nicht gewollt gewesen sein oder nicht funktioniert haben, im Sommer 2021, so scheint es jedenfalls.
Wir werden aber in Deutschland wohl weiter warten müssen, bis der eingesetzte Untersuchungsausschuss und die Enquetekommission zu Ergebnissen kommt, was noch viele Monate bis zu Jahren dauern kann. Ob der Wille zu schonungsloser Aufarbeitung da ist, wird sich
erst zeigen müssen. Zweifel bestehen.
Andere Länder haben schon Berichte geschrieben, ausgewertet und gelernt, Verantwortung
zu tragen, wie in den Niederlanden, wo drei Minister zurücktraten. In Deutschland höre ich
auf die Frage nach den Lehren aus Afghanistan nur wieder und wieder, dass Mali nicht so
wie Afghanistan sei. Das stimmt natürlich, denn dort gibt es gar kein Ortskräfteverfahren,
also werden wir niemanden vorher schon retten, sollten die Terroristen dort gewinnen.
Ohne ein Ortskräftekonzept, das man JETZT erstellen müsste, bleibt bei einem Rückzug
nichts als zu hoffen, dass die Terroristen nicht gewinnen, und das klingt dann doch wieder
bedrohlich wie in Afghanistan.
Ich habe mit unzähligen Menschen gesprochen in den letzten Monaten, die ich allesamt mit
mir fest auf dem Boden der Demokratie weiß. Viele davon, und das macht es besonders bitter, überzeugte Staatsdiener, wie Beamte und Soldaten, aber auch Vertreter der Medien und
unzählige Bürger, die innerlich erschüttert waren und sind über die Unzulänglichkeiten staatlichen Handelns, und in der Folge über die Unfähigkeit, diese überhaupt zu erkennen und abzustellen. ?Ich habe mich noch nie so geschämt für unser Land wie im August letzten Jahres?.
Ein aktuelles Zitat eines Ministerialbeamten. Dass die Aussen-, Sicherheits- und
Energiepolitik der letzten 15 Jahre im Rückblick betrachtet unser Land nicht gut aufgestellt
hat, macht die Lage nicht besser.
Eine Gesellschaft braucht Werte, und Menschen, die sie nicht nur im Reden vor sich her tragen, sondern die danach handeln. Daran, was jemand sagt, siehst du, wie er sein möchte,
daran, wie er handelt, siehst du, wie jemand wirklich ist.
Wenn Firmen guten Umgang mit den Angestellten predigen und diese dann nicht mal den
Mindestlohn gezahlt bekommen, machen sie sich unglaubwürdig. Wer in Afghanistan Menschen- und Arbeitsrechte implementiert und dann diese im Umgang mit seinen eigenen Mitarbeitern selbst nicht einhält, muss sich nicht wundern, wenn die eigene Glaubwürdigkeit
verloren geht.
Verlorene Glaubwürdigkeit ist ein Gift, das die Demokratie schwächt. Parteien, deren eigenes Profil bis zur Unkenntlichkeit verwaschen, und deren auch mal schnell wechselnde
Standpunkte sich scheinbar ausschließlich dem Ziel, Macht zu bekommen, unterordnen, beschleunigen den Vertrauensverlust. ?Wir müssen die Partei wieder so aufstellen, dass sie von
jedem gewählt werden kann? mag machttechnisch sinnvoll klingen. Demokratisch ist es eine
Katastrophe, wenn Parteien sich dem gefühlten Wählerwillen anbiedern und ihre Positionen
nach Umfragen festlegen.
Dies ist etwas, was im Übrigen auch die vierte Macht im Staat zu spüren bekommt. Wer in
seiner Berichterstattung einseitig ist und unliebsame Fakten ausblendet, der verliert ebenfalls die Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Wenn man aber der Politik, den staatlichen Instanzen, und den Medien nicht mehr traut, wohin wenden sich diese Menschen? Wie weit
sind wir selbst bei den unterschiedlichen Säulen davon entfernt, das Vertrauen zu verlieren,
oder haben es bereits?
?Was interessiert mich die afghanische Ortskraft, mir geht es doch schlecht? mag subjektiv
verständlich sein, aber das ist vielleicht doch etwas kurzsichtig.
Wie der deutsche Staat mit seinen Angestellten in Afghanistan oder Mali umgeht, ist vielleicht aber auch ein Symptom für ein grundsätzlicheres Problem. Veteranenverbände beklagen den mangelhaften Umgang mit verwundeten Veteranen: Wie viele Veteranen sich selbst
umbringen, wird nicht erhoben, dann muss man sich auch nicht darum kümmern. Die Polizei
schiebt millionenfache Überstunden vor sich her, Pädagogen fühlen sich noch im dritten Coronajahr allein gelassen und haben ungefähr dieselbe alarmierende Ausfallrate aufgrund
Überlastung wie Pflegekräfte.
Für das sytemrelevante Bankensystem wurde einst in einer Woche ein 400-Milliarden-Rettungspaket geschnürt. Für die systemrelevanten Pflegekräfte wurde nach langen Überlegungen geklatscht. Seit mehr als 1,5 Jahren demonstrieren Pfegekräfte gegen die Missstände im
Pflegebereich. Wie lange wird es wohl dauern, bis aus systemrelevanten Pflegekräften Pflegekräfte werden, die systemkritisch sind?
Vielleicht haben einige Personengruppen einfach keine so starke Lobby. Lassen Sie uns alle
stets daran denken, dass die Schwachen eine Stimme brauchen. Eine Stimme von Menschen
mit festem moralischem Kompass.

Auszug aus der Rede der Vorsitzenden des Flüchtlingsrats, Claire Deery


Dr. Matthias Lange starb 2006 im Alter von 56 Jahren, er war Mitbegründer des
Göttinger AK Asyl und hat sich beim Flüchtlingsrat Niedersachsen und bei ProAsyl
massiv engagiert.
Er hat es verstanden von seinen Kenntnissen aus der Praxis einen großen Bogen zum
Nachdenken über die Flüchtlingspolitik zu schlagen.
Viele Entwicklungen hat er vorhergesehen, manche hat er als Erstes formuliert.
Es ist so, dass ich jedes Mal zur Vorbereitung auf diesen Preis mich nochmals in die
Texte von Matthias Lange verliere und auch sehr beeindruckt bin, was er damals
geschrieben hat, auch unter anderem mit vielen Koautoren, die auch heute noch
publizieren. Und wie jedes Jahr oder mit jedem Mal entdecke ich Parallelen zu den
heutigen weltpolitischen Themen und Flüchtlingsbewegungen.
Themen, die mit der Fluchthilfe im Zusammenhang stehen, heute ganz im Zeichen der
Afghanen und Afghanninnen, daher will ich in meiner Rede möglichst zuerst auf
andere Bereiche der Flüchtlingspolitik eingehen, die uns beschäftigen.
Mir fällt es schwer eine Gewichtung der Themen und Bewegungen vorzunehmen, da
aus migrationspolitischer Sicht alle Gruppen das Recht haben anerkannt zu werden
und Schutz zu genießen.
Natürlich müssen wir uns mit dem Ukraine-Russland-Krieg befassen?.
und auch mit der unglaublich hohen Zahl der neu ankommenden Geflüchteten nach
Deutschland.
Umso wichtiger ist es, dass wir auch ein Auge darauf haben, dass bald in
Niedersachsen eine Wahl des Landtages stattfinden wird.
Indem wir die Hoffnung haben, dass wir maßgeblich dazu beitragen können, dass sich
Stellschrauben bewegen lassen für die weitere niedersächsische Flüchtlingspolitik, die
wir unterstützen können.
Wir haben weiterhin eine Situation an den Außengrenzen, die massiv gegen
Menschenrechte verstößt, auf dem Balkan, in Griechenland, in Italien mittlerweile auch
an den Grenzen zwischen Polen und andere östlichen Grenzen. Aber auch die
Situation am Ärmelkanal, die unsägliche Idee Abschiebungen und Asylverfahren nach
Ruanda vorzunehmen von Großbritannien und Dänemark, die uns beschäftigen und
umtreiben.
Das Ausmaß an Polizeigewalt, welches nicht aufzuhören scheint und deren Aufklärung
uns zu lange dauert.
Matthias Lange hat beschrieben, dass das Grundrecht auf Asyl weiterhin Gefahr läuft
untergraben zu werden und dass es unserer täglichen wichtigen Arbeit bedarf. Nur ein
Blick in die aktuelle Tageszeitung oder auch ein Blick auf unsere Homepage zeigen,
dass die Arbeit des Flüchtlingsrates Niedersachsen, die Arbeit aller hauptamtlichen
sowie ehrenamtlichen Mitarbeitende in den letzten Jahren nicht weniger wichtiger
geworden ist. Was Dr. Matthias Lange bereits vor über 20 Jahren festgehalten hat, hat
leider noch heute eine volle Gültigkeit.
Landespolitisch beschäftigt uns das ständige Gerangel um Gelder und Fördermittel,
um die Existenzängste des Vereins, um seine Mitarbeiterinnen im Flüchtlingsrat, die
nicht sicher wissen, ob der Arbeitsvertrag verlängert werden kann, weil wieder darum
gestritten wird, ob ein gewisses hervorragendes Projekt oder eine gewisse
Förderrichtlinien in Anspruch genommen werden kann oder ausläuft oder weitergeführt
wird. Ob diese nahtlos weiterläuft oder ob man damit rechnen muss den Arbeitsplatz
für einige Monate zu verlieren. Diese Arbeitsplätze in unserem Flüchtlingsrat sind aber
die wichtigsten Bausteine unseres Vereins und sind es auch aus Sicht von Dr. Matthias
Lange.
In einem Text heißt es von ihm, dass das Geschlecht weiterhin kein Asylgrund ist.
Leider kann das heute immer noch unterschrieben werden. Zudem steht in einem
Artikel, dass weiterhin auch das Asylbewerberleistungsgesetz von der
Bundesregierung nicht infrage gestellt wird. Auch das Arbeitsverbot für neu in
Deutschland zugewanderte Flüchtlinge wurde bislang nicht aufgehoben - auch das gilt
Jahrzehnte später noch.

Dann geht es weiter in einem Artikel um das Flughafenverfahren, das wir leider immer
noch haben und die geplante Überprüfung der Abschiebungshaft im Lichte der Verhältnismäßigkeit bleibt ebenso ergebnislos wie die vage Willensbekundung das Ausländergesetz zu prüfen. Ich würde das leider auch heute immer noch
unterschreiben

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Dienstag, 23. August 2022
Vor 30 Jahren
sah ein Ehepaar Fernsehbilder von einem Pogrom mit brennenden Häusern. Der Mann, den Bierkrug in der Hand, rief: "Ein brutales Pack, diese Serben!", und seine Frau kommentierte: "Du, das ist Rostock!".

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