Montag, 18. Mai 2020
Der 2. Juni 1967, Neue Linke, Antiimperialismus und der ganze Rest
Es nähert sich demnächst der Tag der Ermordung Benno Ohnesorgs durch den Bullen und Stasi-Agenten Kurras, und um eine Aufarbeitung des gesamten Themenkomplexes in die Wege zu leiten haben Bersarin und ich ein gemeinsames Projekt gestartet: In zwei parallelen Themensträngen auf unseren jeweiligen Blogs behandeln wir diese Materie aus unterschiedlichen Perspektiven, um eine synoptische Betrachtungsweise zu ermöglichen. Hier ist der Anfang:


https://bersarin.wordpress.com/2020/05/14/der-schah-am-2-juni-1967-in-berlin/


Die Gründung der RAF stellte nicht nur hinsichtlich der militanten Praxis einen radikalen Bruch mit der bisherigen Geschichte der deutschen Linken dar, sondern auch in theoretischer Hinsicht. Die politische Theorie – oder Ideologie – der RAF, von ihnen selbst als Antiimperialismus bezeichnet, wobei es noch viele andere Antiimperialismen gibt, wir sprechen heute vom klassischen Antiimperialismus, da der Neue Antiimperialismus, aus einem radikalen Bruch mit Guerrillaorganisationen wie der RAF entstanden, völlig andere Inhalte hat, beinhaltet wiederum einen radikalen Bruch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. Nicht Proletariat und Bouergoisie stehen sich in diesem Modell mehr in den einzelnen Ländern als Klassenantagonisten gegenüber, sondern der Klassenwiderspruch hat eine geopolitische Dimension angenommen. Die Arbeiterschaft in den Industriestaaten ist kein objektives Proletariat mehr, sondern ein neues Kleinbürgertum, weil es einen hohen materiellen Lebensstandard hat, der von der Ausbeutung der Werktätigen in den drei Kontinenten des Südens subventioniert wird. Selbst der letzte Obdachlose profitiert noch von der Ausbeutung der Dritten Welt. Der Klassenwiderspruch stellt sich dar zwischen der Metropole – USA, Westeuropa, Japan, Australien, Neuseeland – und dem Trikont – Südamerika, Afrika, Asien südlich der Sowjetunion und Chinas.

Demzufolge kann es die Aufgabe der Revolutionäre in den Metropolen nur sein, die Aufstandsbekämpfungsmaschinerie des Westens zu bekämpfen, um einen vom Trikont ausgehenden Befreiungskampf, der irgendwann zur Weltrevolution führen kann zu ermöglichen. Dieser Kampf kann vom Engagement in der Friedensbewegung bis zum Kampf in der RAF reichen, letzterer wurde von den Antiimperialisten – Antiimps, wie sie im linken Szenejargon gennant wurden und die in den 70ern bis 90ern eine Szene in der Szene bildeten – als höchste Entwicklungsstufe betrachtet, wie eine Einweihung in einer Loge, und als „zur Front kommen“ bezeichnet. Die RAF war in Deutschland nicht die einzige antimperialistische Stadtguerrilla, und sie war regional hauptsächlich in NRW, Baden-Württemberg und Hessen aktiv. Hingegen war die Bewegung 2. Juni, die mit ihrem Namen deutlich machte, dass der Staat mit dem Totschießen angefangen hat, hauptsächlich in Berlin aktiv. Drittens gab es noch die Revolutionären Zellen, auf die aus Platzgründen ich an dieser Stelle nicht eingehen möchte.

Das Ganze war auch nicht nur auf Deutschland beschränkt. Bei den Antiimperialisten handelte es sich um eine internationale Bewegung, die von den südamerikanischen Tupamaros ihren Ausgang genommen hatte. Als zum ersten Mal ein palästinensisches Kommando einen Kibbuz angriff stand in der Kommandoerklärung: „Meldet Che Guevara, dass wir die dritte Front gegen den Imperialismus eröffnet haben!“

Bei dieser problematischen Fixierung von Revolution aufs Militärische spielen Faktoren eine Rolle, die nur vor dem Hintergrund jener Zeit, im Spannungsfeld zwischen Vietnamkrieg, Nahostkonflikt und Kaltem Krieg verständlich werden. Die USA legitimierten ihren Vernichtungskrieg in Vietnam mit der „Dominotheorie“: Fällt ein Staat an den Kommunismus, breitet dieser sich in die Nachbarstaaten aus, nach Vietnam, Kambodscha und Laos dann Thailand, Malaysia, Indonesien, Philippinen. Die Weltrevolution schien möglich als eine Art Lauffeuer im Trikont, das irgendwann auf die Metropolen übergreift. Das wurde von den Antiimperialisten genauso gesehen, und Che Guevara forderte: „Schafft drei, vier, viele Vietnams!“. Seinerseits formulierte er die Focustheorie: Außerhalb des Dominoeffekts antikolonialer Befreiungskämpfe könne die Avantgarde, die sich selber schaffe auch in anderen Ländern des Trikonts durch entschlossene Aktionen weitere revolutionäre Brennpunkte schaffen und den weltrevolutionären Flächenbrand vergrößern – ein Irrtum, der ihn das Leben kostete.

Ich selbst hatte mit den FreundInnen des bewaffneten Kampfes nur sehr peripher zu tun, allerdings zum Teil in prägender Weise. Von den ProtagonistInnen habe ich nur Inge Viett kennengelernt, allerdings hat ein Anhänger des 2. Juni für mich die Rolle des politischen Lehrmeisters gespielt. Ich nenne ihn Victor, natürlich lautet sein wirklicher Name anders.

Er war sehr viel härter als die Autonomen, die ich kannte und deren "Härte" oft nur einen zelebrierten Militanzfetisch darstellte. Zum Beispiel ging er einmal mit zwei Genossen als veremeintliche "interessierte Zuhörer" in eine geschlossene NPD- Veranstaltung hinein, und als die anfangen sollte, nahmen sie die ihnen zugewiesenen Stühle, brachen die Stuhlbeine an der Tischkante ab und eröffneten mit den Worten: "So, ihr Nazischweine, jetzt gibts Senge!" die Saalschlacht, schlugen mehere Nazis krankenhausreif und entkamen dann unbeschadet nach einem ausbaldowerten Plan über die Feuerleiter. Baldowern konnte er, denn er kam aus der Kriminellenszene.

Neben seinem Studium arbeitete er als Dealer, und wie ein Dealer machte er auch Politik: Er schaffte geheime Dokumente, die es in sich hatten in die linke Szene.


Top Act war 1988 der aus dem NATO_Hauptquartier beschaffte Abschlussbericht der Kommission für eine integrierte Langzeitstrategie des Pentagon, ein Konvolut von teils klassifizierten Dokumenten, mit so illustren Autorennamen wie Henry Kissinger, Samuel Huntington, Andrew Goodpaster https://de.wikipedia.org/wiki/Andrew_J._Goodpaster,
William Claytor jr. und Zbigniew Brezinski, in dem die US-Militärstrategie für die Zeit nach dem OST-West-Konflikt definiert wurde - davon war auf diesem Blog ja schon die Rede.

Er hatte auch ein Dokument beschafft aus dem hervorging, dass bei der Göttinger Scherbennacht Bullenspitzel mitgelaufen waren, die Polizei das Geschehen also bewusst hingenommen hatte, um eine Handhabe für eine spätere Großrazzia zu haben, deren Illegalität dann im Nachhinein festgestellt wurde.

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13520690.html

Bei der Scherbennacht waren etwa 100 vermummte Leute durch die Göttinger Innenstadt gestürmt und hatten sehr gezielt die Scheiben von etwa 15 Geschäften zertrümmert. Sehr gezielt heißt, es wurden Banken angegriffen, Unternehmen, die für ausbeuterische Praxen bekannt waren und US-Firmen bzw. solche die vor allem US-Produkte führten (dies muss vor dem Hintergrund der damals aktuellen Bombardierung Libyens durch die USA gesehen werden).

Die TeilnehmerInnen der Scherbendemo konnten in einer Großparty des Studentenwerks untertauchen, wo sie von der Bühne freundlich begrüßt wurden.

Eine Komminlitonin von mir, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, wurden hingegen auf dem Campus von der Polizei verfolgt, weil die sie mit der Aktion in Zusammenhang brachte, und floh an ihren Arbeitsplatz, in den Blauen Turm. Dort stellte sich der Polizei der Hausherr, Professor Rudolf von Thadden, entgegen. "Lassen Sie meine Mitarbeitern in Frieden!", herrschte er die Beamten an. "Sie steht aber im Verdacht, an einem Landfriedensbruch beteiligt zu sein." "Und Sie haben sich bereits des Hausfriedensbruchs schuldig gemacht. Wenn Polizei dieses Institut betritt, dann nur, wenn ich sie angefordert habe." Er gab ganz den preußischen Rittmeister, Adel verpflichtet, und es wirkte: Die Ordnungshüter zogen unverrichteter Dinge ab.


In der Szene kamen die Papiere meines Freundes nicht so gut an, die Zeit von Wikileaks war noch nicht gekommen. Aus der Tatsache, dass der Staatsschutz bei einer Scherbenaktion mitgemischt hatte wurden keine Konsequenzen gezogen, und aus der Retrospektive bin ich mal so böse zu sagen, dass allzuviele Militante, auch solche die mit Zwillen Stahlmuttern und Schlimmeres auf Staatsdiener schossen, genau wussten dass sie auf einem Studententripp waren und in wenigen Jahren ein spießiges Leben führen würden, warum dann über Perspektiven diskutieren?


Da waren wir aus anderem Holz geschnitzt. Victor beabsichtigte mit seinen Pentagon-Papieren einen Diskussionsprozess in Gang zu bringen, der auf Thematisierung der deutschen Wiedervereinigung von links abzielen sollte. Er hielt es damals noch für möglich, die gesamte Mobilisierungsstärke der nach Stationierung der Atomraketen themenlosen Friendensbewegung auf dieses Ziel auszurichten. Aus den ihm vorliegenden Informationen wusste er, dass die DDR dabei war zu implodieren, sein Ziel war es, die Bewegung dahin zu bringen, für eine deutsche Wiedervereinigung im Zeichen der Neutralität oder Blockfreiheit zu kämpfen, raus aus der NATO, rein ins Vergnügen, und somit der US-Militärmaschinerie in Europa eines ihrer wichtigsten Standbeine wegzuhauen.


Kaum jemand in der Szene verstand ihn oder nahm ihn ernst. Die Schlapphüte wohl dann umso mehr. Als er viele Jahre später, nach erfolgter Wiedervereinigung, seine Stasi-Akte einsehen wollte wurde ihm mitgeteilt, dass die nicht greifbar sei, weil sie sich in Moskau, in der Lubjanka, befinde.

Ein letztes Mal bekam ich mit den Themensträngen, um die es hier geht auf empfindsame Weise zu tun, als ich zusammen mit einem sehr guten Freund, nicht Victor, der da schon nicht mehr in Göttingen weilte, bei einer nächtlich-vermummten Aktion festgenommen wurde, die der Staatsschutz mit dem damals laufenden Hungerstreik der RAF in Zusammenhang brachte. Da wir die Aussage verweigerten übernahm das LKA die Ermittlungen, und in der Folgezeit wurde es echt lustig: Ein gelbes Einsatzfahrzeug der Post begleitete eine Mitbewohnerin im Schríttempo zum Müllcontainer und zurück. Briefe für mich kamen eine Stunde später an als bei den übrigen Hausbewohnern, und zwar geöffnet. Unser Telefon wurde abgehört, meinem Auto folgten anderen Fahrzeuge, die einander ablösten, nachdem man sich über Funk verständigt hatte. Als ich Freunde besuchen war notierte sich ein Uniformierter alle Namen auf dem Klingelschild des Hauses. Ein Vertreter einer Messer- und Scherenschleiferfirma die es in Wirklichkeit gar nicht gab klingelte an der Wohnungstür, bot uns seine Dienste an und fragte, ob es Waffen im Haus gäbe. Ich übergab alle verdächtigen Gegenstände in meinem Besitz - Adresslisten, RAF-Texte, meine Gaspistole, die wie ein scharfer Colt 44 aussah - der Freundin eines Mitbewohners, die sie an einem mir unbekannten Ort aufbewahrte.

Im Gegensatz zu ihr und ihrem Lover reagierten Teile der Szene hysterisch, und binnen kürzestem wusste ein Kreis von 300 Leuten von unserer Festnahme, über die unterhaltsame Versionen kursierten. So hieß es, die Bullen hätten mich gefoltert, oder unter Drogen gesetzt, ich hätte Szeneinterna ausgeplaudert, und sie hätten bei mir eine kommentierte Adressenliste der gesamten autonomen Szene gefunden. Die eigene Subkultur bereitete mir zu dem Zeitpunkt mehr Ärger als der Staatsschutz.

Das Verfahren endete dann mehr als glimpfllich. Für eine von uns begangene Sachbeschädigung hatten wir privat Schadenersatz geleistet, und mittlerweile war die Justiz dazu übergegangen, RAF-Gefangene zusammenzulegen, die Forderung nach Zusammenlegung konnte daher nicht mehr als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verfolgt werden. Gegen Zahlung eines Ordnungsgeldes wurde das Verfahren eingestellt. Dieses entsprach in seiner Höhe genau dem Schmerzensgeld, das ich für meine Misshandlung im Zusammenhang mit der JUZI-Razzia erhielt. Der Staat und ich waren in dieser Runde miteinander quitt.

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