Sonntag, 19. September 2021
Einige Überlegungen zum Ursprung der slawischen Sprachen
Die indogermanischen Sprachen Europas werden in einige große Gruppen eingeteilt: Die balkanische oder graecoillyrische Sprachgruppe, die romanischen, die keltischen, die germanischen und die slawischen mit den verwandten baltischen Sprachen. Die romanischen Sprachen teilen sich in zwei Untergruppen, die altromanischen Sprachen mit Latein, Venezianisch, Rätoromanisch und Rumänisch sowie den ausgestorbenen italischen Sprachen und die neuromanischen Sprachen, diese dürfte von allen die jüngste Sprachgruppe sein und umfasst u.a. Portugiesisch, Spanisch, Katalanisch, Französisch, Italienisch und verschiedene Pidginsprachen. Bei den neuromanischen Sprachen handelt es sich vom Ursprung her um Kreolsprachen aus Latein und germanischen Sprachen, der Begriff "romanisch" bezeichnet eigentlich genau das, nämlich eine Mischung aus römisch und germanisch.


Am Wenigsten erforscht und bekannt ist der Ursprung der slawischen Sprachen, und die gängigen Theorien hierzu halte ich für höchst zweifelhaft.

Eine besagt, es hätten sich zunächst durch Lautverschiebung die baltischen aus den germanischen Sprachen abgespalten und dann durch eine weitere Lautverschiebung die slawischen aus den baltischen. Wenn das stattgefunden hätte wäre also eine West-Ost-Wanderungsbewegung von Germanien zum Baltikum und weiter nach Belarus und Russland Voraussetzung, oder von Skandinavien zum Baltikum und weiter. Archäologisch oder aus der Überlieferung gibt es hierfür keinerlei Belege.

Während diese Theorie rein sprachtheoretisch begründet ist, geht die zweite von historisch bekannten Wanderungsbewegungen aus und verortet die Urheimat aller Slawen in den Pripjetsümpfen, also in der Umgebung von Tschernobyl. Auch diesen Ansatz halte ich für hochproblematisch.

Das Problem bei den slawischen Stämmen ist die Tatsache, dass diese sozusagen in der Geschichte plötzlich auftauchen. Während die Kelten und Germanen seit der Bronzezeit belegt sind, erscheinen Slawen erst in byzantinischen Quellen aus der Zeit um 600 n. Chr.

Die Pripjet-Theorie folgt einem Erklärungsmuster, das in der Ur- und Frühgeschichte und Anthropologie einmal sehr verbreitet war und letztendlich sehr völkisch daherkommt.

Völkische Wissenschaft

Dies nicht in einem antisemitischen Sinn, sondern so, dass ethnische Gruppen aus der Isolation her begriffen werden als Abstammungsgemeinschaften, die an einem bestimmten Ort sich bilden und von da aus sich ausbreiten, als in sich geschlossene "Volkskörper" mit einem gemeinsamen Selbstverständnis. Sozialdarwinistische Vorstellungen von Völkern als biologische Abstammungsgemeinschaften wurden verbunden mit einer Rückprojektion von Nationenbegriffen des 19. Jahrhunderts auf längst vergangene Zeitalter, in denen völlig andere Kategorien galten. Diese Denkweise prägte die Anthropologie bis in die 1960er Jahre, die Ur- und Frühgeschichte eher noch länger und die Populärwissenschaft, zu denen ich auch die Konversationslexika rechne bis in die 80er.


Das bekannteste Beispiel ist der Mythos von der germanischen Völkerwanderung.


Während die lange Zeit vorherrschende Auffassung davon ausging, dass hier geschlossene, in sich konsistente Völker wanderten zeichnet die heutige Geschichtswissenschaft ein völlig anderes Bild.

Ich möchte das an einem der prominentesten "Völker" deutlich machen, den Goten. Die populäre Geschichtsdarstellung, das, was ich noch in der Schule lernte war die Vorstellung eines in Südosteuropa siedelnden germanischen Volks der Goten, das sich in Westgoten (Siedlungsraum Donaudelta bis Djnestr) und Ostgoten (Siedlungsraum Djnestr bis Donez, außerdem Krim) aufteilte, wobei beide Gruppen nach dem Einfall der Hunnen jeweils geschlossen nach Westen wanderten, die Einen als Gegner, die Anderen als Zwangsverbündete der Hunnen.

Heutige historische Forschungen gehen davon aus, dass es ein solches Volk der Goten niemals gab. Was es gab waren die germanischen Stämme der Terwingen, Greutungen und Gepiden, die eine gemeinsame Sprache und Kultur teilten und die Region Rumänien nördlich der Donau, Ukraine bis zum Donez und Krim sowie Teile der Slowakei besiedelten.

Unter dem Eindruck der von Osten her vordringenden Hunnen und nach Verhandlungen mit den Römern über das Recht, auf Reichsgebiet zu siedeln drang eine Gruppe von Terwingen nach Westen vor, etwas zeitverzögert als Verbündete der Alanen und zeitweilige Bundesgenossen der Hunnen Greutungen. In beiden Fällen wanderten keine Völker oder kompletten Stämme, sondern Heeresverbände mit den Frauen und Kindern der Krieger im Troß. Die Mehrheit der Greutungen, Terwingen und Gepiden blieb also in der Heimat zurück. Die Ethnogenese vollzog sich erst auf der Wanderung, Terwingen wurden auf der Westwanderung zu Westgoten und Greutungen zu Ostgoten, benannt nach der "Getika", der römischen Bezeichnung für Südosteuropa nördlich der Donau. Das "Westgotenreich" in Spanien und das "Ostgotenreich" in Italien waren also keine ethnischen Reichsgründungen bestimmter Germanenstämme, sondern nur dynastische Herrschaften, die von Königen dieser Stämme und ihrem kriegerischen Gefolge gestellt wurden.

Also gab es auch keinen "Völkertod", wie ihn sich die in rassenhygienischer Tradition stehenden AnthropologInnen Schwidetzky und Mühlmann herbeifantasierten, sondern nur ein unspektakuläres Abtreten von Herrscherhäusern und einem Aufgehen ihrer Gefolgegruppen in der Umgebungsbevölkerung.

Das bedeutet aber auch, dass keine sogenannten Goten aus ihrer Heimat in Rumänien und der Ukraine komplett abwanderten. Sie verschwanden aber aus der Geschichte, ebenso wie die alten Völker des Balkan. Die Thraker, die den europäischen Teil der heutigen Türkei, den äußersten Nordosten Griechenlands östlich von Thessaloniki und das heutige Bulgarien bewohnten, die Daker, welche das heutige Rumänien bevölkerten, die Geten am Goldstrand und im Donaudelta, die Mösier (ein thrakischer Stamm) in den westlich daran anschließenden Donauauen waren alles graecoillyrische Völker mit Sprachen, die dem Griechischen so ähnlich waren wie sich Spanisch, Italienisch und Okzitanisch oder Dänisch, Norwegisch und Isländisch ähneln.

Das heutige Albanien, Kosovo, Montenegro und Bosnien wurden von Illyrern bevölkert, die eine archaische Form des Albanischen sprachen, während in Pannonien, dem heutigen Serbien, Ungarn, Burgenland und Oststeiermark eine keltische Sprache gesprochen wurde. Oder möglicherweise auch eine Kreolsprache aus keltisch und einer graecolillyrischen Sprache.

Außer dem Illyrischen verschwanden diese Sprachen nach 500, seit etwa 600 tauchen in byzantinischen Berichten in der Region Slawen auf. Das Altslawische hatte eine sehr dem Griechischen ähnliche Grammatik mit sieben Fällen und Wortstämme, die sich mit "Germanisch mit Lautverschiebung" ganz gut beschreiben lassen. Hat hier eine ethnische Verschmelzung stattgefunden?

Das Russische dürfte auf eine Jahrhunderte später stattfindende Verbindung des Altslawischen mit dem Altnordischen zurückzuführen sein.

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Der Unternehmer Suat Kaya erhält den "Dr. Matthias-Lange Fluchthilfepreis"
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V. verleiht den diesjährigen Fluchthilfepreis an Suat Kaya. Der Unternehmer und Mitinhaber der Firma ?M & S Gebäudeservice GmbH? setzte sich während des syrischen Bürgerkriegs dafür ein, dass 48 Familienangehörigen von 17 seiner Mitarbeiter:innen im Rahmen des damals geltenden Landesaufnahmeprogramms legal nach Deutschland fliehen konnten. Er unterschrieb Verpflichtungserklärungen, damit den Familienangehörigen seiner Mitarbeiter:innen Visa erteilt werden konnten, und sorgte dafür, dass die Familienangehörigen nicht nur gefahrlos nach Deutschland einreisen, sondern auch bei der Aufnahme und während ihres Asylverfahrens in Deutschland vernünftig untergebracht und versorgt wurden. Damit ging er ein hohes finanzielles Risiko ein. Im Rahmen einer feierlichen Zeremonie wurde der Fluchthilfepreis in Anwesenheit von Oberbürgermeister Belit Onay im Neuen Rathaus der Landeshauptstadt Hannover übergeben.

In ihrer Eingangsrede erinnerte die Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Claire Deery, noch einmal den 2006 verstorbenen Namensstifter des Fluchthilfepreises, Dr. Matthias Lange, der unter Bezugnahme auf Hannah Ardendt ?eine Politik der Zivilisierung jenseits von identitätspolitischen Konstruktionen? gefordert hat, ?die den Vergleich und die Differenz gleichermaßen aushalten kann und lebendig werden lässt?. Die aktuellen Diskussionen um die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan und Kürzungen der Landesmittel für die Migrationsberatung müssten ihm, wäre er noch am Leben, wie ein Déjà-vu erscheinen.

Oberbürgermeister Belit Onay zog Parallelen zur aktuellen Situation: ?Ein Preis für Fluchthilfe ? was könnte angesichts der humanitären Krise in Afghanistan aktueller sein?? Onay forderte die Bundesregierung auf, legale Fluchtwege zu ermöglichen und hierzu Vereinbarungen mit den Nachbarstaaten zu treffen. Auch das Land Niedersachsen sei gefordert, endlich ein Aufnahmeprogramm aufzulegen, wie dies auch 2014 für Familienangehörige von Geflüchteten aus Syrien geschehen sei. Der Familiennachzug müsse entbürokratisiert und beschleunigt werden, ein Bleiberecht für hier lebende afghanische Geflüchtete sowie ein kategorischer Abschiebungsstopp nach Afghanistan seien überfällig. Anders als vor 20 Jahren gebe es heute eine breite zivilgesellschaftliche Unterstützung von Geflüchteten durch viele Kommunen und Bürger:innen: ?Der Fluchthilfepreis setzt ein Zeichen für die Menschen, die anderen in Not helfen und dabei persönliche Risiken eingehen. Das wird wieder deutlich am Einsatz von Herrn Kaya für Menschen aus Syrien. Hannover ist eine soziale, eine solidarische Stadt. Gemeinsam heißen wir die zu uns kommenden Menschen willkommen.?

Vorstandsmitglied Dündar Kelloglu würdigte in seiner Laudatio die Lebensleistung des Preisträgers: Die Familie von Suat Kaya stammt aus Kars im Nordosten der Türkei, nahe der Grenze zu Georgien, Armenien, Aserbaidschan und dem Iran. Viele Einwohner aus Kars sind Nachkommen von Flüchtlingen, die im Rahmen des 1. Weltkriegs aus der Region Kaukasus dorthin vertrieben wurden. Kars gehöre noch heute zu den liberalsten Provinzen der Türkei. Die Eltern von Suat Kaya zogen auf der Suche nach Arbeit zunächst nach Ankara um, wo sie in den 70er Jahren als Arbeiter für das Continentalwerk in Hannover angeworben wurden. Wie viele andere Arbeitsmigrant:innen wollte der Vater eigentlich nur für kurze Zeit in Hannover arbeiten und wieder in die Türkei zurückkehren. Deshalb sollte Suat Kaya in Ankara bleiben und zur Schule gehen. Als klar war, dass es doch kein Zurück gibt, wurde Suat Kaya mit 15 Jahren zu den Eltern nach Hannover geholt. Trotz der späten Einreise gelang es Suat Kaya, schnell die deutsche Sprache zu erlernen. Er machte in Hannover Abitur und schloss das Studium der Betriebswirtschaft mit Erfolg ab. Gemeinsam mit seinem Bruder gründete er die Forma ?M&S Gebäudeservice GmbH?, sie beschäftigt heute 250 Mitarbeiter:innen. Dündar Kelloglu: ?Mich hat beeindruckt, dass Suat Kaya für seine Mitarbeiter:innen auch ein Vorbild ist. Er sorgt dafür, dass seine Mitarbeiter:innen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial und sprachlich in Deutschland ankommen und an der Gesellschaft teilhaben. Nahezu alle 17 Familien, denen Suat Kaya die Aufnahme ermöglicht hat, stehen inzwischen auch wirtschaftlich auf eigenen Beinen und sorgen mit ihren Steuerzahlungen dafür, dass es uns allen gut geht.?

Suat Kaya griff diesen Gedanken in seiner Dankesrede auf: ?Wir sollten die neuen Migrant:innen, die nach Deutschland kommen, weil sie im Herkunftsland bedroht sind, Willkommen heißen. Sie werden hier heimisch werden, wie ich heimisch geworden bin.?

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