Donnerstag, 8. Oktober 2020
Ist Trump ein Opfer des VIP-Syndroms? „Er hat Therapien erhalten, die Sie nicht bekommen würden – und das ist besser für Sie!“
Dr. F. Perry Wilson

Übersetztes Transkript des englischen Videos-Kommentars von Dr. F. Perry Wilson:

Willkommen bei Impact Factor, dem wöchentlichen Kommentar zu einer medizinischen Neuigkeit auf Medscape.com . Ich bin Dr. F. Perry Wilson von der Yale School of Medicine.

Zum Zeitpunkt dieser Aufzeichnung, am 5. Oktober, befand sich der Präsident der Vereinigten Staaten wegen COVID-19 noch immer im Krankenhaus des Walter Reed Medical Center. Pressemitteilungen zufolge geht es ihm trotz einer vorübergehenden Hypoxämie relativ gut.

Dennoch hat er nach Angaben seines Hausarztes folgende Medikamente erhalten:

Remdesivir

Melatonin

Zink

Famotidin

Aspirin

Vitamin D

Einen monoklonalen Antikörper-Cocktail von Regeneron als Compassionate Use

Und, ganz aktuell, Dexamethason

Wenn Sie sich dieses Behandlungsschema ansehen, ohne den Patienten zu kennen, würden Sie annehmen, dass es sich um jemanden handelt, der an der Schwelle des Todes steht und beatmet wird. Zeit für einen letzten verzweifelten Therapieversuch.



Wenn Sie sich dieses Behandlungsschema ansehen, ohne den Patienten zu kennen, würden Sie annehmen, dass es sich um jemanden handelt, der an der Schwelle des Todes steht und beatmet wird. Dr. F. Perry Wilson
Sicherlich scheint der Präsident nicht besonders krank zu sein. Seien wir doch ehrlich: Wenn Sie oder ich COVID hätten und so krank wären wie der Präsident, würden wir auf keinen Fall diese Art von Behandlung bekommen. Und Fakt ist: Wir sind damit wahrscheinlich besser dran.

Im Augenblick könnte der Präsident Opfer eines gut beschriebenen medizinischen Phänomens sein, das als `VIP-Syndrom´ bezeichnet wird.

Als ich noch am Anfang meiner Ausbildung war, wurde eine „sehr wichtige Person" in unser Krankenhaus eingeliefert. Ich kann Ihnen den Namen dieser Person nicht nennen, aber vertrauen Sie mir, es war ein VIP.

Irgendwann während der Behandlung musste ihm eine Thoraxdrainage gezogen werden. Der Chef der Herz-Thorax-Chirurgie kam, um ihm die Ehre zu erweisen. Bevor wir eintraten, wandte er sich an uns und sagte: „Das letzte Mal, dass ich eine Thoraxdrainage gezogen habe, ist 15 Jahre her".

Sehen Sie, die Person, von der Sie die Thoraxdrainage gezogen bekommen möchten, ist der Assistenzarzt im 3. Jahr, denn der macht das 10 Mal am Tag. Aber für den VIP kommt dafür den Chef der Abteilung. Ironischerweise werden VIPs oft schlechter versorgt.

Das erstmals 1964 von Walter Weintraub beschriebene VIP-Syndrom ist nichts Neues. Unser 1. Präsident mag tatsächlich ein Opfer davon geworden sein.

Am 13. Dezember 1799 wurde George Washington im Alter von 67 Jahren von einer Art bakterieller Epiglottitis befallen. Über einen Zeitraum von 12 Stunden wurde er 4-mal Aderlass-Prozeduren mit insgesamt 80 Unzen Blut unterzogen. Das war damals Stand der Medizin, entspricht aber einem Blutverlust von 2,5 Litern. Er erlag der Krankheit am 14. Dezember, kurz nachdem er seinen Ärzten für ihren außergewöhnlichen Einsatz gedankt hatte.




Fairerweise muss man sagen, dass das VIP-Syndrom in Wirklichkeit eine Anekdote ist. Nur wenige schlüssige Studien haben versucht, das Phänomen zu bewerten.

Nichtsdestotrotz erscheinen Fallberichte und Fallserien in einer Vielzahl von medizinischen Fachzeitschriften. Selbst das gepriesene New England Journal of Medicine streifte 1988 die Aspekte der Notfallversorgung für VIP-Patienten.

Die Ärzte, die sich um den Präsidenten kümmern, beneide ich nicht. Dr. F. Perry Wilson

Die Ärzte, die sich um den Präsidenten kümmern, beneide ich nicht. Was sollen sie machen? Wir kennen nicht alle Einzelheiten seines Zustands, aber nehmen wir an, dass er nur leicht erkrankt ist, dann bestünde die Standardbehandlung in der Linderung der Symptome.

Wenn er hypoxämisch wäre, könnten Sie wahrscheinlich auf der Grundlage der RECOVERY-Studie ein Argument für Steroide finden. Für die Gabe von Remdesivir ebenfalls – vorausgesetzt, es gäbe einige Hinweise auf eine Beteiligung der unteren Atemwege.

Doch der Antikörper-Cocktail? Ein Medikament, das Sie nur im Rahmen des Compassionate Use erhalten können? Das gehört nicht zur Standardbehandlung.

Wir haben noch nicht einmal eine Phase-2-Publikation zu diesem Cocktail, geschweige denn eine Phase-3-Studie. Es gibt diese eine veröffentlichte Studie an Makaken, die vielversprechend zu sein scheint.

Doch was auch immer Sie vom Präsidenten halten – er ist kein Makake. Dr. F. Perry Wilson
Doch was auch immer Sie vom Präsidenten halten – er ist kein Makake.

Was wir im Moment über den Regeneron-Cocktail wissen, stammt aus einer Pressemitteilung, die über die Ergebnisse bei knapp 300 Patienten berichtet und zeigt, dass – zumindest bei denjenigen mit schwachen nativen Antikörperreaktionen – die Viruslast mit dem Cocktail schneller abnahm. In Ordnung.

Doch verstehen wir mit diesen wenigen Probanden wirklich die Risiken? Monoklonale Antikörper haben eine lange Geschichte. Doch es können seltsame Reaktionen auftreten: Allergien gegen das Produkt, unbeabsichtigte Nebeneffekte. Sie wissen, wie das läuft.

Schauen Sie, ich setze hier nicht auf knallharte Gleichmacherei. Hätten wir eine magische Pille, die COVID-19 ohne Nebenwirkungen heilen könnte, aber 10 Millionen Dollar kosten würde, dann geben sie diese sicherlich dem Präsidenten, auch wenn der Rest von uns sie nicht bekommen kann. Beim VIP-Syndrom geht es nicht wirklich um den Aspekt Ungerechtigkeit.

Das Risiko ist vielmehr, dass die VIPs Medikamente und Kombinationen von Medikamenten erhalten, über die wir nicht genug Kenntnisse haben. Die Ärzte wissen, dass die Standardversorgung die beste Versorgung ist. Deshalb ist sie Standard.

Der Hail Mary Pass (das ist im American Football ein sehr langer Vorwärtspass mit nur geringer Aussicht auf Erfolg) ist dem 4. Viertel vorbehalten, also wenn Ihre Mannschaft kurz vor der Niederlage steht. Er ist nicht der Auftakt. Aber bei VIPs werden solche wesentlichen Tatsachen vergessen.

Ich kann mir aber vorstellen, was in diesen Ärzten vorgeht.

Was wäre, wenn sich der Zustand des Präsidenten verschlechtern würde? Was wäre, wenn der Präsident sterben würde? Würden Sie als Mediziner dann nicht sagen wollen, dass Sie absolut alles getan haben, was Sie hätten tun können?


Hier zeigt sich ein kognitiver Bias in der Medizin, der oft mehr schadet als nützt: die Notwendigkeit zu handeln, oder in diesem Fall, alles zu tun, auch wenn die Daten dies noch nicht unterstützen. Weil man nicht für ein schlechtes Ergebnis verantwortlich sein will.

Aufgrund der aggressiven Behandlung kann es aber zu schlechten Ergebnissen kommen. Etwa, wenn der Präsident eine seltene Reaktion auf den Antikörper-Cocktail zeigt. Sagen wir, er entwickelt eine Autoimmunreaktion, dann könnten die Ärzte, die ihn behandelt haben, zu Recht kritisiert werden.

Aber wissen Sie was? Ich bezweifle, dass das passieren wird. Unsere Voreingenommenheit ist so stark zugunsten der Behandlung ausgerichtet, dass wir – träfe dieses seltene Ereignis tatsächlich ein – es als ein Risiko abtun würden, das es wert gewesen war, einzugehen. Um dieses besondere Leben zu retten.

Natürlich verdient am Ende jeder die bestmögliche Versorgung. Die Ironie dabei ist, dass Donald Trump, weil er Präsident ist, möglicherweise schlechter medizinisch versorgt wird als Sie oder ich. Manchmal ist es gut, ein Niemand zu sein.

Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert

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