Freitag, 6. März 2009
Die ironischen 90er Jahre
Blogauf, blogab ist immer wieder zu lesen, die 1990er hätten isich durch einen besonders ironischen Zeitgeist ausgezeichnet. Ob auf Dotcomtod oder beim Girl, bei Metalust&Subdiskurse oder Rebellmarkt, Melancholie Modeste oder Lanu, es ist immer mal davon die Rede, dass eine bestimmte Art von Ironie typisch für das Jahrzehnt gewesen sei. Nun glaube ich nicht, dass man den speziellen Humor des FFN-Frühstyxradio als typischen Zeitgeist der 90er Jahre bezeichnen würde, abgesehen davon, dass der weniger Ironie als vielmehr Slapstick kombiniert mit Bad Taste beinhaltet. Ich habe die 90er intensiv erlebt und in dieser Zeit intensiv gelebt, aber ohne von einer besonderen Ironie etwas mitzubekommen. Ich bewegte mich zwischen einer Wissenschaftswelt, einer Journalistenwelt und der linken Szene. In der Wissenschaftswelt war es wichtig, vor allem exakt und very much to the point zu sein, da spielte Ironie keine Rolle. Unter Journalisten ist ein ironischer Humor generell verbreitet, aber nicht an eine bestimmte Dekade gebunden; ansonsten fiel mir da eine gnadenlose Offenheit und geradezu aufdringliche Gesprächigkeit viel stärker auf. In der linken Szene überwog ein Sich-ständig-und-immer-moralisch-betroffen-Zeigen einerseits und eine tendeziell nach Zensur schielende PC-Moralinsäure andererseits, jenseits dieser Pole auch eine zum Glück immer auch verbreitete echte Lockerheit und echte Offenheit und ein von mir selber sehr gepflegter derber Verarsche-Humor, aber auch keine Ironie. Und wenn etwa Modeste eine "ironische Clubkultur" beschreibt, dann ist das nach meinem Dafürhalten eine Mentalität eines spezifischen Yuppie-Milieus, aber nicht der Zeitgeist eines Jahrzehnts.

Wo also wohnte sie, diese angebliche Ironie der 90er?

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Wie Du schon sagst:
Im Medienmilieu gehört eine gewisse Grundironie (manche nennen es Zynismus) auch in den 80ern und Nullerjahren zur Grundausstattung. Ein spezifisches 90er-Phänomen ist das nicht. Im Übrigen habe ich (obwohl politisch gar nicht sonderlich engagiert oder sonstwie allzu nah dran) den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien schon als eine entscheindene Zäsur dieses Dezenniums erlebt, der mit Ironie oder gar Metaironie beim besten Willen nicht beizukommen war. Schon allein deswegen stimmt das für mich mit dem ironischen Jahrzehnt so nicht. Und Clubkultur, nun ja...

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"Wo also wohnte sie, diese angebliche Ironie der 90er?"

Wenn, dann in der Popkultur von Quentin Tarantino bis Robbie Williams.

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....direkt an Herrn mark anfügend...
...sorry, aber die 90er waren nicht ironisch. Sie hätten es sein können, aus heutiger Sicht gar MÜSSEN (!), aber wenn ich mich mal schnell zurückbeame, gings meinereiner um nicht mehr als heute: Die Rente, die keine Sau bezahlt.

Und dann gabs da Jugoslawien, diesen Krieg dort unten, im "Hinterhof", der uns alle aber dennoch geprägt hat, dazu die Nazispacken in Hoyerswerda und Rostock, die heute nie wieder diese Medien kriegten, was aber nicht heißen mag, das Problem sei irgendwie erledigt....
...das war alles, aber nicht ironisch...

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Ach ja,
Mölln und Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen - diese Events hab ich auch noch prominent gespeichert als ironieresistente Wegmarken. Ruanda war zwar weiter weg, aber nicht weniger immun gegen Ironisierungsversuche.

Und popkulturell regierte in meinen Kreisen unter anderem König Kurt Cobain, der sich auch nicht gerade als der Großironiker der Unterhaltungsbranche profiliert hat.

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Na ja, gerade bezüglich des Jugoslawienkrieges habe ich damals allerdings geballte Ironie erlebt: "Ein bißchen Frieden, für ein paar Stunden, gemütlich laden, dann ist´s wieder gut."

Und den sehr speziellen Kurden-Humor. Aber das ist ganz bestimmt nicht das, was die Blogosphäre meint.

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Und irgendwie dann doch ironisch, aber auch wieder anders ironisch, war das Event von Uslar. Da griffen Nazis ein Flüchtlingswohnheim an, und Göttinger Antifas fuhren los, um Flüchtlings beizustehen. Als sie eintrafen, stießen sie auf schreiende, weinende und weglaufende, blutende Nazis. Flüchtlings hatten den Jägerzaun um ihr Wohnheim demontiert und mit den Latten zugehauen, sehr sorgfältig darauf achtend, mit der Nagelseite zu treffen. Dummerweise hatten die Nazis ein Wohnheim angegriffen, das geschlossen mit Palästinensern mit Guerrilla-Hintergrund belegt war. Die luden die Antifas dann hinterher zum Essen ein und schlachteten extra einen Hammel, nur waren die Antifas fast geschlossen Vegetarier.

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Ehrlich gesagt
habe ich nicht die leiseste Ahnung, was die Blogosphäre mit dem ironischen Jahrzehnt genau meinen könnte. Das muss sich auf irgendeiner Anhöhe des Metapopdiskurses abgespielt haben, auf die ich nur selten freie Sicht hatte. Also, vielleicht, dass das Geschwurbel in der Spex nicht mehr so krampfig ernstmeinend daherkam, sondern sich auch mal ein ein Augenzwinkern erlaubte. Oder dass bei irgendwelchen Techno-Raves Leute anfingen, in den Straßenarbeiter-Signalfarbenkitteln aufzulaufen. Der Boom an Comedy-Formaten im Fernsehen. Indizien kann man schon ein paar finden, wenn man genau guckt. Aber eigentlich nichts, was das Jahrzehnt wirklich prägt.

Ich habe in der Zwischenzeit auch paar Kollegen zu den ironischen Neunzigern befragt, so richtig konnte sich diesen Schuh keiner anziehen. Es ist wohl eher so, dass viele den Zeitraum 93-95 als ernüchternde Zäsur empfunden haben, die klargemacht hat, dass es nach dem Fall der Mauer und dem Ende des kalten Krieges eben doch nicht so eiapopeia weitergeht wie man zu Beginn des Jahrzehnts vielleicht hoffte.

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Gab es in den Vor-Nullerjahren (den von besonderer Langweiligkeit und Gekrampfe geprägten 90ern) nicht auch "neue" journalistische Trends, z. B. Gonzojournalismus, den man vielleicht als ironisch auffassen konnte? Gab es in den 90ern nicht diese, teils durchaus stilprägenden, sogenannten Zeitgeistmagazine (mit und ohne Tempo), und das nicht minder ironische Huldigen von postmodernen und an Wahrheit ostentativ desinteressierten "Wissenschaftlern", die für ihre schmalen Anhängerschaften weitgehend nutzlosen Wortmüll produzierten? Kam nicht in den 90er Jahren zugleich auch die Nulpenschwemme auf, mit allwissend sich gebenden Zukunfts"forschern" und mit fundamentalironischen Spitzenvertretern wie Norbert Bolz & Co?

Wie auch immer, betrachtet man die 90er Jahre aus der Perspektive derjenigen, die gerne alles unernst und locker nehmen, in ihrer typischen Mixtur aus Desinteresse und Gier, sowie aus der Perspektive von Leuten, denen das Verarschen anderer essentiell zur eigenen Lebensführung gehört, dann waren die 90er Jahre durchaus sehr ironisch.

Wie auch die 70er Jahre, die 80er Jahre und die Nullerjahre. Für bestimmte Leute mag Zynismus und ein stets ironisches Verhältnis zu Umwelt und Mitmensch bzw. eine bestimmte Form von "Humor" sogar zeitgeistprägend sein bzw. sie selbst empfinden es so.

Und ich? Meine 90er Jahre waren jedenfalls ausgesprochen unironisch - und doch, liebe mitlesende Grundironiker (sofern es euch noch gibt...), es waren keine schlechten Jahre.

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