Samstag, 25. April 2009
Genialität als pathologisches Symptom
Momorulez hatte sich kürzlich hiermit auseinandergesetzt

http://trinity73.beepworld.de/adhsbeierwachsenen.htm


und mit dem mechanistischen, Output-orientierten Menmschenbild, das dahintersteht sowie dem Mißbrauch von Psychopharmaka als Leistungsdrogen. Ich habe mir nun einmal den Spaß gemacht, die hier aufgelisteten Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen einmal bei historischen Persönlichkeiten abzufragen und zu sehen, bei wem sich da am Meisten finden lässt.


Die Antwort lautet: Leonardo da Vinci. Hätte der nur brav sein Ritalin und Prozac genommen, die Welt hätte wohl nie eine Mona Lisa bekommen, die Farbenlehre sähe anders aus und die Ingenieurwissenschaften hätten sich vielleicht langsamer entwickelt. Psychiatrie schafft es schon, Menschen aufs Mittelmaß zu schrumpfen. Weswegen ich unter einer freieren, gleicheren, gerechteren Gesellschaft mir auch nur etwas vorstellen kann, das verbunden ist mit dem Grundrecht eines JEDEN Menschen, genial und wahnsinnig zu sein.

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teils-teils
"Weswegen ich unter einer freieren, gleicheren, gerechteren Gesellschaft mir auch nur etwas vorstellen kann, das verbunden ist mit dem Grundrecht eines JEDEN Menschen, genial und wahnsinnig zu sein."

letzteres könnte man aus einer bestimmten perspektive auch zb. einem hitler attestieren. und darum:

"(...) aber wie schon gesagt: ich halte trotz allem immer weniger davon, das, was als "wahnsinn" in dieser kultur bezeichnet wird, zu verharmlosen oder zu glorifizieren. eine besonders aus den linkeren teilen des politischen spektrums stammende sichtweise, die sich teils auch in der sog. antipsychiatrie manifestiert hat (und theoretisch stark von leuten wie michel foucault beeinflusst wurde), hat sicher in bestimmten bereichen der psychiatriekritik notwendiges geleistet. aber mit der konstruktion eines bildes vom wahnsinnigen menschen als quasi heroischem outdrop, der mit seiner verrückten art ein mörderisches system ins leere laufen lässt, an die stelle berechtigt demontierter mythen letztlich nur neue gesetzt. und das könnte ein gewaltiges eigentor in der hinsicht gewesen sein, dass sich eine progressiv gemeinte linke psychiatriekritik damit unfreiwillig an der vernebelung äußerst bedrohlicher gesellschaftlicher entwicklungen beteiligt.(...)"

http://autismuskritik.twoday.net/stories/885912/

oder auch aktueller: schau dir mal die hier beschriebene doku

http://autismuskritik.twoday.net/stories/themenabend-psychopathen-bei-arte-der-tv-tipp-fuer-sonntag-1904/

an, und dann würde ich gerne wissen, ob du bei bei diesem standpunkt bleibst. und ein verlassen desselben negiert in meinen augen übrigens noch lange nicht die nötige psychiatriekritik.

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Ich "bleibe" nicht bei diesem Standpunkt, weil ich ihn gar nicht erst vertrete. Soziapathische oder antisoziale Verhaltensweisen halte ich nicht für tolerabel; aber nicht, weil sie in bestimmten Denksystemen pathologisiert werden, sondern weil sie Anderen Schaden zufügen. Das ist einfache "Was Du nicht willst das man Dir tu"-Logik. "Genial und wahnsinnig sein" ist eher im Sinne von Beuys´"Jeder Mensch ist ein Künstler" gemeint (original geht es auf Debord zurück) und vor allem eine Absage an die stereotype Pathologisierung von Verhaltensweisen wie in dem oben gezeigten Beispiel. Ich würde deswegen nicht auf die Idee kommen, Wahnsinn an sich zu heroisieren oder zu bagatellisieren, und auch Schizophrene und Manisch-Depressive bleiben in einer Vielzahl der Fälle für mich Kranke. Die Art und Weise, wie wild und willkürlich rumdiagnostiziert wird und die Verbindung dieses Handelns mit Herrschaft ist das, was ich primär kritisiere.

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Eine Bekannte von mir erzählte letztens, dass "Kindsein" im offiziellen Krankheitskatalog auftauchen würde; die Symptome wären u. a. Kleinwuchs und verminderte Intelligenz. Schon schockierend: die meisten 4.-Klässler kommen nicht über den IQ eines 10jährigen hinaus. Die Übliche Behandlungsmethode sei "Beobachten", da zumeist von allein eine Verbesserung der Symptomatik erfolge.

Keine Ahnung ob es stimmt, aber amüsiert habe ich mich ganz wunderbar. Es gibt halt keine gesunden Menschen, nur ungenügende Anamesen und unerkannte Krankheiten :)

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Früher meinte die Kriminalphysiognomie noch, man erkenne den Einbrecher an der fliehenden Stirn, heute weiß man, dass man ihn am fliehenden Gang erkennt.

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Was ich an dieser Stelle mal wieder nicht verstehe, ist das offenkundige Zerwürfnis zwischen Dir und momorules. In der Sache seit Ihr doch eigentlich auf der gleichen Seite?!

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Prognoseversuch
Sonntag - als Tag des Friedens - könnte ein guter Zeitpunkt zum Einstellen der Feindseligkeiten sein.

Im Ernst, ich glaube, die beiden werden sich wieder vertragen.

(es gibt so wenig Gründe, die dagegen sprechen)

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Das sind ja keine Feindseligkeiten
Jedesmal, wenn ich so etwas wie Selbstzufriedenheit äußere, stolz auf eigene Leistungen oder Erfolge bin oder meine eigenen sportlichen Ambitionen als Ausdruck von Sinnlichkeit und Lebenslust bezeichne, kommt das bei ihm als Selbstüberhöhung bei gleichzeitiger Mißachtung Anderer an, ich weiß nicht warum. Und darauf wird dann abwechselnd mit Ironie oder heftiger Anpisse reagiert. Und dann unterstellt er mir das Betreiben von Sonstwas-Legimitationsversuchen mit meiner Bloggerei und wittert in dem, was ich so schreibe verborgene Absichten. Stattdessen blogge ich vollkommen strategiefrei; abgesehen vom Vertreten von für wichtig erachteten politischen Standpunkten ist es das pure Mitteilungsbedürfnis, das mich bloggen macht. Das ist ein Kommunikationsknoten, der sich nicht mehr auflösen lässt.

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Der Zappelphilipp
Übrigens wurde mir, als ich ein Kind war, zwar ADHS nicht attestiert, sondern nur "Verdacht auf", es wäre aber niemand auf die Idee gekommen, mir Ritalin zu verschreiben. Stattdessen nahmen meine Eltern mich eine Jahrgangsstufe zurück, um den Druck zu senken. Das half zwar, aber als jemand, der oft zappelte, immer wie unter Strom wirkte und selbst dann äußerlich einen hektischen Eindruck machte, wenn er sich selbst völlig entspannt fühlte war ich das beliebte Opfer bei Schulhofprügeleien. Eltern und Ärzte überlegten sich, ob man mich nicht zum autogenen Training schicken sollte. Als ich dann von mir aus zum Bergsteigen kam verringerte sich das Problem, ich wurde insgesamt körperlich ausgeglichener, und den Kameradenschindern begegnete ich mit Judo. Dennoch blieb meine Motorik etwas ungewöhnlich, und diesem Umstand war wohl die Tatsache zuzuschreiben, dass sich in meiner Schulzeit hinsichtlich sexueller Kontakte nichts bei mir abspielte. Dazu wirkte ich in meiner Art, mich zu bewegen einfach zu unerotisch. Das kam alles erst in der Studienzeit. Und trotz des völlig veränderten Körpergefühls, das ich mir mittlerweile dank intensivem und vielfältigem Training zugelegt habe, ein Rest von der alten Hibbeligkeit ist immer noch übrig geblieben. Nur würde ich so etwas nicht als Krankheit, sondern als Marotte betrachten.

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Che, du bist aber sicher kein Apostheotiker. Wenn die Mütze bei dem einen brennt, tja, dann ist da nur schwer löschen. Warum auch immer. In diesem Fall tippe ich aber darauf (ich denke vielleicht sogar noch heute), dass sich alles wieder einrenkt.

Wäre ja schade sonst. Auch so eine kleine internette Plaudergemeinschaft hat ihren Wert.
Die Mütze brennt, man ist verletzt, das Herz verkrampft
Und man weiß jetzt nicht, wie man nun zurück gelangt
Doch wisse, zurück kommt man fix und insoweit
durch ein beharrlich versöhnliches Wort zu zweit.
Was diese Psychodebatte betrifft, nun, also. Ich würde es vom Leidensdruck abhängig machen. Ritalin kann in Einzelfällen wahre Wunder wirken.

Gewisss, nicht jedes unruhige Kind ist ein Behandlungsfall. Bei den meisten Fällen, die mir begegnet sind, sind es eher die Eltern, die zu behandeln wären. Und hier wiederum wären garnicht so selten - vielleicht sogar zuallererst - die unsicheren Lebensverhältnisse in Behandlung zu nehmen.

Manchmal befällt mich auch der Gedanke, dass ein wenig Seelsorge - und im Austausch ein echtes kleines Plus an christlichen Glauben - sinnvoll wären.

Und das sage ich als Nichtchrist.

Jedenfalls ist es mein Eindruck, dass man im Fall der ADSH-Kinder sehr oft mit unsicheren, verunsicherten oder geradezu verängstigten Eltern zu tun hat.

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Che, wenn Du Dich mit einem alten Weggefährten warum auch immer nicht mehr unterhalten kannst, lass es bleiben und räsonniere (kein Wortspiel mit rayson) darüber auch nicht mehr. Man sieht sich immer zweimal, und irgendwann findet Ihr Euch wieder zusammen. Vielleicht auch erst nach Jahren. Mir kommt diese ganze Auseinandersetzung völlig absurd vor. Und es scheint ja nur um falsch verstandene Formulierungsfragen zu gehen. So als Außenstehender finde ich das alles schade, aber auch überflüssig und lächerlich.

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Hm, ...schreibst Du hier im Sinne einer V. Woolf, eines Kafka, eines Nahacz, eines Kants...? Ich glaube, hier stimmt etwas nicht. Das geht so nicht. Waren die glücklich, zu sein? Mit einer Genialität? Ich weiss nicht. Das greift zu kurz, vielleicht, hier, hm? Das Thema ist sehr doof, wenn man Dich zum befriedigenden Funktionieren gebracht hat, Du dich selbst... ist ja schön und gut, ...aber eine Lanze brechen...ist nichts, das man so unbedingt braucht, und so. Denke ich. Ein Therapeut ist schon schön. Für so ein bißchen Sommer oder solche Dinge. Einen Tagesablauf, um überhaupt klarzukommen, denkend, sozial... und doch gar nicht klarkommend. Ich glaube, ...um Berechtigung geht es da weniger. Ob Kafka nicht auch lieber 1 normaler Jurist gewesen wäre?

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Konservenfabrik, ich verstehe Dich nicht. Kannst Du das anders erklären?

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Niemand wird dadurch gesund, dass man ein Kranksein als gesund bewertet.
Etwas anderes ist es, den Gesunden ein Recht auf's Gesundsein zu geben.

Aber niemand braucht ein Recht, krank zu sein.

Ich verstehe die Forderung also einfach nicht. Wem hilft ein Grundrecht, genial und wahnsinnig zu sein?
Vielleicht kann man das Gesunde, das Kranke und wie und wo es vorkommt als Wahnsinn, als Genialität, nicht so einfach bestimmen/als bestimmt voraussetzen.
"Jeder Mensch ein Künstler" hat dann mit Geisteskranksheitsthema schon wieder recht wenig zu tun, das wäre dann mehr Gesundheit für die Gesunden.

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Der Haken ist doch der, dass ein angenommener biologischer Normalzustand vorausgesetzt wird und alles, was davon abweicht als pathologisch gilt. Und dann lassen sich alle Verhaltensweisen, die von einer postulierten Durchschnittsnorm abweichen pathologisieren. Sprunghafte, impulsive, visionäre Persönlichkeiten -alle krank. Schwule, Lesben, BDSMer -krank. Surrealisten, Dadaisten, ausgeflippte Künstler - auch krank. Es gibt da eine dominante Vorstellung von Normalität, die äußerst repressiv gesamtgesellschaftlich wirksam ist. Darum geht es hier.

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Niemandes Kopfweh wird dadurch besser, dass man ihm einen klaps auf den Rücken gibt, erklärt, das sei schon ok so und es einfach als Normalzustand definiert. Und das tut auch niemand, denke ich.

Krankheit ist, worunter der Betroffene leidet und/oder als Einschränkung empfindet.

Es geht darum, dass der Bereich, der gesellschaftlich akzeptiert ist, schmaller wird.

Als ich Kind war, gab es für "zappelige Kinder" eine ganz einfache Lösung: RAUS! geh spielen! Und sie funktionierte- nachdem die Kids ausgetobt waren klappte es auch mit dem Stillsitzen.
In den Schulpausen wurde getobt was das Zeug hielt. Es muss einen Grund haben, weshalb heute einige Schulen dazu "Aminationslehrer" brauchen oder mindestens zu brauchen meinen.

Dazu kommen teilweise die beengten Wohnverhältnisse für Familien. Grosse Wohnungen kosten Geld (Überraschung!), und das fehlt in Familien mit vielen Kindern eben öfter mal.
Rausgehen ist auch manchmal schwierig: unser Vermieter zB (in seiner ganz eigenen Welt hat er gesetzgeberische Kompetenzen) erlaubt den "Aufenthalt" von Kindern auf den Grünflächen nur zwischen 10 und 12 (da ist meist Schule) und dann von 16 bis 18 Uhr. Und das auch nur "sozialverträglich" und auf gar keinen fall Ballspiele.
Und dann wundern sich die Leute, warum die Lütten vor'm Fernseher hängen, nicht ausgetobt sind und rumzappeln.

Che, ob das auf Lesben, Schwule etc immer noch zutrifft bezweifle ich.
BDSM ist was anderes: da sehe ich die Gefahr der Pathologisierung, denn wenn das Vorhandensein einer entsprechenden Bildsammlung als relevant für school-shootings gesehen wird (Winnenden) und als Beleg für "frauenfeindliche Tendenzen" genommen und verabsolutiert wird ist die gesellschaftliche Ausgrenzung im Laufen.
Wie viele Frauen auch entsprechende Bilder haben ist dann unwichtig. Oder wie viele Kerle gern ihre Freundin fesseln ohne sie deswegen gleich umzubringen.

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Hm. Überlege gerade, wie ich das alles mit der Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 1948) unter einen Hut kriege: "Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen."

Vermutlich ist Gesundheit was anderes als Normalheit. ;-)

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Die Alkoholismusdefinition der WHO ist auch eine andere als die der meisten Selbsthilfegruppen. In beiden Fällen bevorzuge ich die Sichtweise der WHO

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"Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen"

ich werde dann mal die nächsten Tage versuchen, jemanden WHO-Gesundes oberhalb des Alters von 2 zu finden. Könnte allerdings dauern...

Wenn ich daraus was schliessen sollte, dann, dass Gesundheit nicht das Gegenteil von Krankheit ist.

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Die WHO-Gesundheitskonzeption ist aber verbunden mit Menschenrechten und Menschenwürde (dem Recht, Rechte zu haben) und hat daher einen eigenen utopischen Gehalt. Ich finde das sehr gut so.

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selbst in der utopisch angenommenen perfekten Gesellschaft wird es für die Mehrheit der Menschen immer etwas geben, dass nicht stimmt. Diejenigen, die sagen "yupp, ich bin perfekt glücklich und völlig beschwerdefrei!" sind wahrscheinlich frisch verliebt und deswegen nicht voll zurechnungsfähig.
Körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden ist nun mal extrem schwer zu erreichen. Leider.

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@Alkoholismusdefinition
Warum sollten Selbsthilfegruppen mit der Definition Probleme haben?

Bezüglich der Definition von Gesundheit durch die WHO stimme ich Dir zu. Jenseits des utopischen Gehalts ist so ein umfassender Begriff aber auch in ganz realen gesundheits-/sozialpolitischen Auseinandersetzungen hilfreich.

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Die WHO-Definition bezeichnet Menschen als Alkoholiker, die regelmäßig und in großen Mengen Alkohol trinken, die Kontrolle über den eigenen Konsum verloren haben, körperlich oder sozial dadurch beeinträchtigt sind (oder beides) und seit mindestens einem Jahr darunter leiden. Soweit mir das bekannt ist, aber da kenne ich mich nicht richtig gut aus, lasse mich also gern eines Besseren belehren, schwanken die Definitionen von Selbsthilfegruppen zwischen überhaupt regelmäßig Alkohol trinken (auch zwei Bier am Abend) und körperlicher Abhängigkeit mit Entzugssymptomen wie Delirium tremens.

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Ist "leiden" nicht eher ein schleichender Prozess, von dem es schwerfällt zu sagen "ab dem 1. 3. annodunnemals"?
Und wer leidet, will (häufig) JETZT Hilfe, und nicht erst in ein paar Monaten, wenn er seine "Leidensfrist" abgelitten hat.

Könnte es nicht sein, dass Alkoholismus für verschiedene Menschen verschiedenes ist? Der eine beginnt, sich abhängig zu fühlen, wenn er merkt, das er ohne sein Feierabendbier nicht kann oder auch nur will, der andere säuft den Hardalk runter, setzt sich ins Auto und sieht nicht mal das Problem.

Abgesehen von den verschienenen Toleranzen für das Zeug- ich habe eine extrem niedrige Toleranz und trinke deswegen gar nichts mehr, kenne aber durchaus Leute, die nach einer 3/4 Flasche Rum noch gerade stehen, frohgemut nach Hause laufen und am nächsten Morgen fit sind. Ich weiss nicht, wie sich solche körperlichen Unterschiede im "Wegstecken" auf das Suchtpotential auswirken. Weiss jemand, ob das einen Unterschied macht und wen ja, welchen?

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Von allen Selbsthilfegruppen weiß ich das natürlich auch nicht. AA aber bestimmt nicht, ob jemand Alkoholiker ist. Wer denkt, er hat ein Trinkproblem, der kann kommen und darüber reden. Irgendwann muss er dann entscheiden, ob er Alkoholiker ist. Die Menge z.B spielt also keine besondere Rolle. Man findet dort daher auch das ganze Spektrum. Vom gepflegten Weintrinker bis zum Hardcore-Säufer, der erst nach der morgendlichen Flasche Korn auf Touren kam. Entzugserscheinungen wie Delirium tremens sind schon ein deutlicher Hinweis. Meiner Meinung nach. Aber auch heftige Trinker müssen nicht unbedingt Alkoholiker sein.

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Ich weiß nicht,
ob es noch Stand der Forschung ist, die Alkoholiker in unterschiedliche Typisierungen zu sortieren von alpha bis epsilon (sog. Quartaltrinker). Dass jemand, der mehr abkann, per se suchtgefährdeter ist, war früher mal gängige Auffassung, aber ich glaube nicht, dass das heute noch so vertreten wird.

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Alpha, Beta ...
Ist das nicht dieses Jellinek-Schema? Das wird bis heute genutzt. Glaube ich.

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Das ist Jelinek
Und der hat auch Recht damit. Ich kenne aber ganz andere Alkoholismusdiskussionen, die grauenhaft sind. Zumindest als ich meinen Zivildienst in der Neuro machte, also in den tiefsten Achtzigern, vertraten nicht wenige Ärzte die Auffassung, Alkoholiker sei, wer körperlich abhängig sei und bei Entzug ein Delirium oder Prädelir erleide und sonst niemand. Und andererseits vertraten im gleichen Zeitraum viele Selbsthilfegruppen die Position, wer regelmäßig Alkohol trinke sei immer Alkoholiker, vollständige Trockenheit sei das anzustrebende Ziel (und nicht Temperenz oder Angewöhnung einer Trinkkultur) und Alkoholismus sei keine heilbare Krankheit sondern ein lebenslanger Zustand, ein Alkoholiker könne also nur trocken werden, aber nicht zu einem ehemaligen Alkoholiker. Und rund um die Debatten, die noch vor einigen Jahren von Teilen der Arranca!-Redaktion geführt wurden haben jedenfalls Diskutanten solche Positionen immer noch vertreten.

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Ich bin kein Fachmann
auf diesem Gebiet und vermute, dass der medizinische Suchtbegriff stark auf bestimmte biochemische Verarbeitungsprozesse im Stoffwechsel fokussiert. Da es aber viele Formen von Sucht und Gewohnheitsbildung gibt, ist diese Verengung des Blickwinkels genauso wenig hilfreich wie andererseits das Trockenheitsideal.

Die Auffassung, bereits eine Schnapsbohne aus der Pralinenschachtel würde einen trockenen Alkoholiker wieder mit komplettem Kontrollverlust und Absturz-Trinkerei bedrohen wird soweit ich weiß im Umfeld diverser Selbsthilfegruppen nach wie vor vertreten, auch wenn die Forschung mittlerweile ein differenzierters Bild liefert.

Als Ex-Raucher und jemand, der auch, ähem, mit anderen Substanzen als ethanolhaltigen Getränken Erfahrungen gesammelt hat, würde ich sagen, die entscheidene Resultante des Leidensdrucks ist der damit einhergehende Kontrollverlust, vulgo die Frage, wie stark hat einen das Zeug bereits im Griff. Nun wird zwar allenthalben behauptet, es sei das Wesen jeglicher Sucht, den Blick ebendafür zu vernebeln. Aber ich denke, wer sich und sein Konsumverhalten wirklich ernsthaft prüft, kann sich eigentlich kaum dauerhaft in die Tasche lügen. Als ich irgendwann den Eindruck gewann, bestimmte Stimulanzien hätten einen zu großen Stellenwert in meinem Leben, habe ich daraufhin die Finger davon gelassen und fertig aus.

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Und eben für genau solche Aussagen - denen ich zustimme - würden Dich Leute von Synanon oder anderen dogmaterischeren Gruppen aus dem AA-Umfeld beißend geißeln.

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Ja, ich weiß.
Meine Mutter war lange bei Al-Anon aktiv. Ich würde auch nicht bestreiten, dass aus dieser Ecke wichtige und richtige Impulse kamen, um mit dem Alkoholproblem, das mein Vater zweifellos hatte, besser umgehen zu können. Aber irgendwann nahm das 12-Punkte-Programm und die Dogmatik drumherum bei meiner Mutter zum Teil schon Dimensionen einer Ersatzreligion an, die so ein bisschen das Vakuum stopfte, das eine zunehmende Entfremdung vom Katholizismus bei ihr gerissen hatte.

Hilfreich fand ich das ganze da, wo es darum ging, die eingeschliffenen Verhaltensweisen als Co-Abhängiger zu hinterfragen und zu ändern. Mit dem Gedöns um die "höhere Macht" konnte ich in dieser Form indes eher wenig anfangen.

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Die Auffassung, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, teile ich (wie die WHO und das Bundessozialgericht) natürlich auch. Von einer allgemeingültigen Erklärung der Ursachen sind wir aber wohl noch ein Stück weit entfernt. AA hat sich dazu übrigens nie „offiziell“ geäußert. Was an der Struktur liegt und auch in der Präambel festgelegt ist. Man beteiligt sich nicht an öffentlichen Debatten. Trotzdem versuche ich jetzt mal, die Position zusammenzufassen (hab im Zug gesessen und hatte Zeit). Hoffentlich nicht ganz verkehrt. Aus den AA Schriften kann man ja schließlich einiges herauslesen.

Alkoholismus wird natürlich auch von AA als Krankheit betrachtet. Der Alkoholiker trinkt unkontrolliert. Er ist abhängig. Er gilt AA als körperlich, geistig und seelisch krank. Trinkt er weiter, verschlimmert sich sein Zustand. Gleichzeitig wird die Auffassung vertreten, die Krankheit könne nur zum Stillstand gebracht werden. Voraussetzung dafür (den Stillstand) ist die Trockenheit und eine Änderung der Lebensführung (Abschied von nassem Verhalten). Das ist dann der Zustand der Genesung. Gibt der Alkoholiker die Trockenheit auf, fällt er über kurz oder lang in das abhängige Trinken zurück. Alkoholiker bleibt er also sein ganzes Leben.

So dürfte man das wohl beschreiben können. Denke ich. Bezüglich der Trockenheit teile ich die Auffassung von AA übrigens. Kontrolliertes Trinken funktioniert nicht. Beispiele von Leuten, die das nicht geschafft haben, dürfte es zahlreich geben. Beachtenswert finde ich zudem, dass all dies ausschließlich von Betroffenen stammt. Die Auffassung basiert also auf Erfahrungswerten von den Experten in Sachen Suff. Sollte es Gegenbeispiele geben, dürften es zu vernachlässigende Ausnahmen sein. Alkoholiker saufen sich kaputt oder verblöden. Wenn sie saufen. Saufen sie nicht, haben sie nur den gleichen Mist am Hals wie alle anderen auch.

Womit die Sauferei wieder anfängt, mit der bewusst gegessenen Schnapsbohne oder dem Glas Sekt auf Omas Geburtstag, ist dabei egal. Es ist der Weg zurück in nasses Verhalten und zurück an die Flasche. Also auch hier, Finger weg! ;-)

@Mark: Um das ganze Programm (höhere Macht, 12 Schritte usw.) wird sich in vielen AA-Gruppen nicht sonderlich geschert. In anderen schon. Da sollte man sich aussuchen, was passt.

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Ich denke, es geht vor allem darum, eine Entscheidung zu akzeptieren. Wenn jemand sagt "Ich möchte keinen Alkohol trinken", aus welchen Gründen auch immer, ist NIX beschissener als "ach komm, ein Gläschen kannst du!" oder wenn Leute, denen die Sonne aus dem Arsch scheint vor lauter Humor, dir das Zeug unterschmuggeln.

Wie bereits erwähnt, ich vertrage wirklich keinen Alkohol. Bei mir kann 2 Mal am Wein nippen ausreichen. Von daher finde ich es auch nicht lustig, wenn mir jemand sagt "aber da ist doch nur ein ganz bisschen drin!" und es nicht begreift.

Respekt vor dem anderen und seinen Entscheidungen- wenn ein AA-Mitglied sagt "nie wieder einen Tropfen" dann muss das so ok sein. Er muss damit immerhin zurechtkommen, nicht der andere.

Das "nie wieder" mag nicht der Weg für jeden sein (weiss ich nicht), aber er scheint es für eine Menge Leute zu sein. Vielleicht müssen wir, wie so oft, einsehen: "Menschen sind unterschiedlich"

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Ist auf jeden Fall ein vielschichtiges Thema.
Gerald Weinberg spannt in seinen Secrets of Consulting Büchern diesen Widerspruch auf, dass man als Consultant im Namen der Produktivität in die (sagen wir) Wirts-Organisation integriert sein sollte, nur eben nicht zu sehr. Hat nix mit Genialität zu tun, sondern damit, dass menschliche Organisationen immer ein gewisses oft unproduktives Beharrungsvermögen besitzen. Man ist auf die Wirts-Organisation angewiesen, aber eben nicht zu sehr. Seine Bücher haben mir auf jeden Fall geholfen, um diese Widersprüche aufzudecken, denen ich in absolut jedem Projekt begegne.

Dann ist der Konflikt Individuen <-> sich irgendwann ja auch spontan organisierte soziale menschliche Organisationen ganz sicher auch ein Anknüpfungspunkt zwischen Libertäre und Anarchie.
Arbeite zur Zeit mit einer Vertrieblerin zusammen, die zum Anlaß ihres Sohnes eine Art Dauerkrieg gegen Schulbehörden führt, die heute nach ihren Aussagen offenbar ziemlich schnell auf Medikamentierung drängen. Die ist von ihrer Grundeinstellung wohl libertär.

Letztlich gibts in meinem Bereich der IT einen Druck hin zu Strukturen mit verteilter Verantwortung (mit allen Vor- und Nachteilen). Dies erfordert dann aber gleichzeitig eine steigende Notwendigkeit nach sozial-stabilisierenden Verhalten. Oder es war immer so und mir ist das durch steigende Verantwortung, Erfahrung und Komplexität nur bewußter geworden. Weiß nicht.

Bei Libertären hab ich immer das Gefühl, dass sie theoretisch ein recht ungebrochen romantisches Verhältnis zum prometheus-mässigen Individuum haben, dann aber in ihrer Arbeitsrealität schon stark die Sicherheit suchen. Gilt sicher nicht für jeden.

Denke, dass das Recht auf produktiven Wahnsinn da draussen irgendwie auch beschränkt ist. Fand zum Beispiel Ackermanns Äußerung vom Wochenende völlig zum kotzen. Hätt das vor 5 Jahren vielleicht anders gesehen.
In der Zwischenzeit hab ich aber in mindestens 2 Projekten als Menschen-Verletz-Blinder Mr. Innovation eine blutige Nase geholt. Recht hatten je nach Perspektive jeweils beide Konfliktparteien. In jedem Fall sind solche Konflikte oft unnötig und unproduktiv. Empathie für die irgendwie auch sympathischen Verletzbarkeits-Punkte von anderen ist für mich heute in jedem Fall eine menschliche Qualität.

Für Recht gibts halt keine einfachen Gesetze.

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