Sonntag, 8. Mai 2011
Geleitwort zum 08. Mai
Der Tag der Befreiung vom Faschismus ist heute 66 geworden. Die deutsche Nachkriegszeit ist selber ins Rentenalter gekommen. Und statt dem üblichen "Nie Wieder!" möchte ich daher diese Zeit einmal selbst betrachten, hat sie sich doch sehr gewandelt. Während heute die Generation derjenigen, die den Nationalsozialismus noch aktiv miterlebt hat allmählich im Altersheim angelangt ist oder langsam ausstirbt war das in meiner Kindheit noch die Mehrzahl aller Erwachsenen, und für aufmüpfiges Benehmen, aber auch Unordentlichkeit oder Langhaarigkeit musste man sich alle Nasen lang "Ihr gehört ins Lager" oder "Unter dem Führer hätte es so etwas wie Dich nicht gegeben" anhören. Tatsächlich ist meine Selbstwahrnehmung durch so etwas noch geprägt, einschließlich einer verinnerlichten Vernichtungsdrohung, wenn man nicht funktioniert wie man soll und einer Haltung zur Arbeit, die mehr etwas mit symbolischen Unterwerfungsakten als mit tatsächlicher Effizienz zu tun hat.

Meine Kindheit kannte auch noch nicht geräumte Trümmer, Kriegsruinen, die überall herumstanden (konnte man herrliche Abenteuerspiele drin machen, durfte sich aber nicht erwischen lassen. Uns wurde da mal ein Lagerfeuer zum Verhängnis. Toll auch Schnitzeljagd im Bunker) und ganz generell dreckige, nach Russ und Kohle stinkende Städte. Die heutigen aufwändig restaurierten Fassaden die ganze Stadtbezirke prägen sind ja fast samt und sonders ein Produkt der 1990er. Der Zweite Weltkrieg war in meiner Kindheit jedenfalls noch sehr präsent. Ich erinnere mich an eine große Familienfeier bei meiner Lieblingstante, die in einer Traumvilla lebte (mit eigenem Antikenzimmer u.a. mit einem Schwert aus der Bronzezeit, das sie aus dem Iran mitgebracht hatte). Zu der tollen durchsichtigen Glaskuppel meinte das sei keine reine Freude, im Kriegsfall müsste man die abdunkeln, damit kein Bomber nachts das Licht sähe, und ein Onkel erzählte, dass er zwei Weltkriege mitgemacht hätte. In der Schule fanden regelmäßig Luftschutzübungen statt, und wir lernten noch den Unterschied zwischen allgemeinem Fliegeralarm und ABC-Alarm.


Die Bonner Republik, der rheinische Kapitalismus fiel schon in verschiedene historische Phasen - die Ära Adenauer, geprägt von wirtschaftlicher Prosperität direkt aus dem Nachkriegselend heraus und preußischer Repressivität sowie rückwärtsgewandter Sexualmoral, eine Art elektrifiziertes Biedermeier, die Zwischenzeit unter Ehrhardt und Brandt/Kiesinger, eine ambivalente Phase, in der mein Vater seine geistigen, politischen und lebensweltlichen Wurzeln hat, die Revolte 1967-69 und die Ära Brandt, eine Reformphase mit hochfliegenden Hoffnungen und heute nicht mehr vorstellbarem Zukunftsoptimismus, aber auch Repression, Berufsverboten, Terror und Terroristenhatz, schließlich die bürokratische Konsolidierungsphase unter Schmidt (übrigens die Zeit, in der es den meisten Sozialstaat gab), dann die Wende unter Kohl und bis zum Zusammenbruch der DDR die peinlichste Phase der westdeutschen Geschichte, deren Chronistin die "Titanic" wurde.


Die Berliner Republik, das Deutschland im globalisierten Turbokapitalismus lässt sich auch problemlos in drei Phasen einteilen, die Ära Kohl, die Ära Schröder und die Ära danach, wobei 1993 noch einmal eine besondere Zäsur darstellte. In diesem Jahr wurde der Rassismus der Straße, der sich bis dahin in fremdenfeindlichen Pogromen geäußert hatte, gegen die sich in Form von Lichterketten und Straßenfesten ein letztes Mal das linksliberal-basisdemokratische Lager massenweise mobilisierte Regierungspolitik: Mit der Abschaffung des einklagbaren Asylrechts und einer folgenden Reihe rassistischer Sondergesetze wurden die Grundlagen einer sozialen Segregation geschaffen, die den Sozialstaat nicht, wie die Neoliberalen es gewollt hatten, abschaffte, sondern ihn aushöhlte und deformierte, indem sie bestimmte Gruppen ausschloss. HartzIV ist nichts Anderes als die Anwendung der Logik des Ausländerleistungsgesetzes auf langzeitarbeitslose Deutsche. Und die Dumpfspacken, die damals "Ausländer raus" gefordert hatten haben bis heute nicht gemerkt, dass sie sich da gerade von ihrer eigenen Zukunft entsolidarisierten. Der Gleichheitsgrundsatz, der einmal Grundlage des westdeutschen Sozialstaats gewesen war ist längst einer versteckten sozialen Apartheid gewichen.

Von daher heute nicht "Nie wieder Krieg", sondern "endlich wieder Klassenkampf".

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Der Klassenkampf, der tatsächlich stattfindet, ist der zwischen Prekariat und Proletariat und geschürt wird dieser Konflikt vom politischen und medialen Mainstream. Nichts wäre für oberen 10% in dieser Gesellschaft fataler, als daß sich diejenigen mit Arbeit bewußt würden, daß sie nur sehr wenig unterscheidet von jenen ohne Arbeit und aus Sicht der oberen 10% gar nichts. Teile und herrsche, sähe Zwist und überlebe...

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Ich glaube, wir bewegen uns auf eine Zeitenwende zu, bei der sich überhaupt noch nicht abzeichnet, was danach kommt.
Gleich 4 der die letzten 20 Jahre dominierenden Projekt-Karren stecken im Dreck:
a) Die Pax Americana, für die die Amis weder Geld noch Unterstützung haben.
b) Die Liberalisierung der Internationalen Finanzmärkte hat sich als dumme Idee herausgestellt. Während selbst konservative Schwellenländer immer weiter versuchen, sich von den Blasen-Boys zu schützen, hat man in den ehemaligen (?) Industrieländern den Schuß offenbar immer noch nicht gehört. Eine weitere große Turbulenz und wir werden eine wirklich massive Re-Politisierung der Gesellschaften erleben.
c) Der Euro ist in Südeuropa gescheitert und die sich daraus hier in Deutschland ergebenen Kosten werden bei gleichzeitigen Sparbemühungen zu einer weiteren Entfremdung zwischen Volk und den im Namen des Volkes Regierenden führen.
d) Der übertriebene Glaube in die Rationalität des Marktes ist empirisch gegen die Wand gefahren. Diejenigen, die noch an die Richtung glauben, können sich unter der Fahne von "Austrian Economics" neu formieren. Allerdings widerspricht eine letztlich auf kreative Zerstörung orientierte Gedankenwelt den Erwartungen und Wünschen einer auch älter werdenden Bevölkerung.

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Die "Austrian Economics" mit ihrer ausgesprochen rassistischen und antidemokratischen Attitüde (Demokratie=Kommunismus, sagt Hoppe) sind zwar nur eine bizarre Außenseiterthese, könnten aber im Schlepptau der Tea-Party an Bedeutung gewinnen. Tatsächlich sind diese economics weniger Austrian, als American.

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Diese bizarre Außenseiterthese war etwa 4 Jahre lang auf einer langen Rolle von Blogs Mittelpunkt der Weltsicht und eine Art Glaubensbekenntnis.

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Letztlich ist das auch nur eine Denkschule. Angesichts der Vielfalt der ökonomischen Schieflagen kann deren Gedankenwelt Sinn machen. Problematisch wirds, wenn Leute die Modell-Gedankenwelt mit der Realität verwechseln.

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No war but the class war
Und ich warte weiterhin entschlossen ab ...

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Mein klasse Kampf.
Herzlichen Dank für diesen launigen Schweinsgalopp durch die Jahre der Bonner Republik!

Als nicht-durchgehend-inner-BRD aufgewachsenem nick sind einem Formulierungen wie:


"... und für aufmüpfiges Benehmen, aber auch Unordentlichkeit oder Langhaarigkeit musste man sich alle Nasen lang "Ihr gehört ins Lager" oder "Unter dem Führer hätte es so etwas wie Dich nicht gegeben" anhören. Tatsächlich ist meine Selbstwahrnehmung durch so etwas noch geprägt, einschließlich einer verinnerlichten Vernichtungsdrohung, wenn man nicht funktioniert ..."


bis zur Erfüllung jedes dummen Vorurteils komisch. Die Discountversion des Weltschmerz, die tiefe deutsche Provinz als kabarettreife Veranstaltung von braunen Wiedergängern, ewigen Spiessern und darob deformierten Jugendseelen, die als Therapieersatz ihr Heil im lebenslangen Antiirgendwas suchen. Man lacht Tränen.

Klasse! Da sage noch mal einer die deutsche Comedy hätte keinen nahrhaften Boden.


Grossartiges Posting, Chapeau, Danke!

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Besonders lustig war das alles nicht. Und einige von uns sind ja auch tatsächlich von der Staatsmacht getötet worden. Und eine Haltung des zumindest inneren Widerstands als Lebensprogramm ist angesichts der gesellschaftlichen Realität das einzig wirklich Vernünftige.

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Getötet - wegen "Langhaarigkeit" ?
Von der Staatsmacht?
Wüste Sitten herrschen da, in der Provinz.

Da ist ja was an mir vorbei gegangen.

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Nicht fürs Langhaarigsein, sondern dafür, extrem Kurzhaarigen mit dem Knüppel entgegengetreten zu sein, was mit dem rechten Pöbel verbündete Polizeibeamte zum Anlass nahmen, eine Menschenjagd zu veranstalten. Als meine Genossin Conny dabei ums Leben kam sprühten Faschos Fadenkreuze mit dem Subtext "Tote Conny=gute Conny. Wir danken unserer Polizei!". Günter wurde in Frankfurt vom Wasserwerfer überrollt,Klaus-Jürgen in Berlin vor eine S-Bahn gejagt, Erna in wackersdorf von einer Tränengasbombe getroffen, die man aus 50 m Höhe von einem Hubschrauber abgeworfen hatte und erlitt einen Herzinfarkt. Wer auf die Straße geht, um sein Recht auf freie Meinungsäußerung auch in brenzligen Situationen in Anspruch zu nehmen, sollte nicht so spießig sein, zugleich auch noch auf sein Recht auf körperliche Unversehrtheit zu pochen.

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Ah, Conny Wessmann. Sagt selbst mir noch was, wenn auch dunkel. Beileid den Hinterbliebenen, die nur ihre Trauer haben.

Und doch, oder gerade deswegen sollten wir keine unnötige Legendenbildung zu unserem eigenen Gesinnungs-Nutz und -Frommen veranstalten. Die Kurzhaarigen waren von der Polizei ja schon lange in den Linien-Bus (!) raus aus der Stadt gesetzt worden, das ganze "Entgegentreten" lief eh ins Leere.

Ein besonders widerwärtiger und letztlich leider wohl auch sinnloser Tod einer jungen Frau.

So erscheint es jedenfalls dem teilfremden Betrachter.

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Wäre "Günther" der ebenfalls ikonische Günther Sare ?

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Davon, dass die Naziskins schon im Bus saßen wusste die Gruppe um Conny aber nichts, sie, nicht die Nazis wurden von der Polizei verfolgt. Diese Schieflage ist auch geradezu archetypisch für das, was sich damals eigentlich immer abspielte. Als Naziskins Schwarze zusammenschlugen und Zivilbeamte feixend danebenstanden und über Polizeifunk ihre Witze machten waren es übrigens Antifas, die einem Wutbürger das Gewehr entwanden, das dieser bereits auf Faschoskins angelegt hatte. So war das damals.

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hier:
http://www.zeit. de/1972/13/der-kleinbuerger-in-hans-obser

ruhig mal lesen. das ist 1970 tatsächlich so in konstanz passiert.

die sitten in der provinz waren damals anders als heute, eigentlich ein erfolg derer, die sie veränderten.

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was die sitten in der provinz in früheren zeiten angeht, hier: http://www.zeit. de/1972/13/der-kleinbuerger-in-hans-obser

das ist so in konstanz anno 1970 tatsächlich passiert.

ruhig mal lesen, was damals war, aber auch, wie damals in liberalen blättern über derartige vorkommnisse berichtet wurde.

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Ja, der Biedermann als Brandstifter, genau das war es ja...

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Herzlichen Dank für die Hintergründe.

Mir fehlen ja grössere Teile der neueren deutschen Geschichte in der persönlichen Wahrnehmung. Ein Migrantenschicksal, halt.

Nochmals Danke und mit der Bitte um Entschuldigung falls ich angeeckt haben sollte.

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Ich kenne ja Deinen Hintergrund ein wenig. Wer davon allerdings nichts weiß dürfte von sehr vielen Deiner Äußerungen reichlich irritiert sein.

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Nun ist das mit dem Klassenkampf ja auch schon einmal ziemlich in die Hose gegangen, wenn auch schon etwas früher, in den 1920er/30er Jahren, als die Selbstorganisation der Unterdrückten, je stärker sie wurde, umso mehr anitrevolutionären Führern verfiel: staatstreuen Sozialdemokraten, moskautreuen Stalinisten und endlich den militanten Putschisten von 1933.
Insofern würde ich Aufklärung dem Klassenkampf vorziehen. Im Vergleich zu anderen Weltgegenden gehts den Leuten, glaub ich, hier noch relativ gut, sogar den Asylsuchenden. Aber wenn das Wissen über die Lebensumstände der jeweils anderen Gesellschaftsgruppen weiter so rapide abnimmt wie gleichzeitig ja auch die Qualität unserer Medien, wird das sicher nicht lange so bleiben, die Segregation zunehmen.
"Soziale Apartheid" ist meines Erachtens nur möglich, wenn der Andere nur als anonyme Masse wahrgenommen wird. Dagegen gilt es anzugehen.

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Ich weiß nicht, wie oft ich denn noch den Begriff des Klassenkampfs erklären muß. Heute mache ich es mal nicht.
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"Aber wenn das Wissen über die Lebensumstände der jeweils anderen Gesellschaftsgruppen weiter so rapide abnimmt (...) wird (...) die Segregation zunehmen."
Ja, damals, ich denk mir auch schon immer, wenn die Herrschenden wüßten, wie schlecht es den Beherrschten geht, dann würden sie garnicht mehr herrschen wollen.

"'Soziale Apartheid' ist meines Erachtens nur möglich, wenn der Andere nur als anonyme Masse wahrgenommen wird. Dagegen gilt es anzugehen."
Das geschieht doch bereits. Mit der Volkszählung zeigt der Staat viel guten Willen, der Anonymisierung entgegen zu treten.

Du siehst: Für manches ist doch gesorgt, und vieles wird gut. Du mußt Dir daher nicht so viel Kopfzerbrechen machen – das wird schon.

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Ja, es kann sein, dass meine vielleicht auch ein bisschen gespielte Naivität durch Ironie aufgestachelt gehört.
Ich mein es aber trotzdem ernst. Der Punkt ist, dass ich mir gar nicht wünsche, dass die Herrschenden "garnicht mehr herrschen wollen". (denn irgendwer herrscht immer, wenn nicht die einen, dann die anderen) Es kommt darauf an, wie sie herrschen. Und das Wie der Herrschaft könnte schon besser sein, wenn die Herrschenden wissen, wie es den Beherrschten geht. Und natürlich auch umgekehrt! Wenn ich sehe und erlebe, dass der Herrschende zu freiem Denken und freiem Handeln fähig ist, kann ich ihn gern als Herrschenden akzeptieren. (Volkszählungsdaten über sein Vermögen oder seine Religion helfen mir da wenig).
Nun könnte es natürlich sein - und ich glaube, das meint che - dass irgendeine Art Klassenkampf nötig ist, um diese Transparenz zu erzwingen. Ich wollte bloß meine Skepsis zum Ausdruck bringen, ob so ein Erzwingen tatsächlich funktionieren kann.

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Man kann schon davon ausgehen, dass ich Klassenkampf meine, wenn ich Klassenkampf schreibe, und es auch immer noch die Dynamik von Klassenkämpfen ist, die die Geschichte in Gang hält.

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"Wenn ich sehe und erlebe, dass der Herrschende zu freiem Denken und freiem Handeln fähig ist, kann ich ihn gern als Herrschenden akzeptieren."

Der Herrschende ist als solcher zu freiem Denken und freiem Handeln fähig. Es entspricht seinem Begriff, dies zu sein. Eben darum nennt man ihn "den Herrschenden".

Du machst Dir auch hier wieder ganz unnötig Sorgen.

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Deine Herrscher sprechen zu Dir.
Vernehmt den Willen Eurer Herrscher:

http://www.youtube.com/watch?v=QCAQ7YL2o1M&feature=player_embedded

Das Parlament wirbt für seine weitere Entmachtung. So, das selbst Ihr das versteht. Die Lobbyisten wollen nur Euer "Bestes".

http://www.europarl.europa.eu/en/headlines/

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