Dienstag, 28. Januar 2020
Noch einmal Grundsätzliches zum Thema "Ökonomie der Endlösung" und zu Götz Aly
Die „Ökonomie der Endlösung“ hängt nicht in erster Linie oder hauptsächlich mit Profiten des Kapitals durch Arisierung und Zwangsarbeit zusammen, sondern ist ein Großprojekt einer ökonomischen Inwertsetzung des zurückgebliebenen Osteuropas durch die Nazis. Polen sei rückständig gewesen, habe sich deswegen der Logik kapitalistischer Ausbeutung und Durchdringung entzogen. Der Vernichtungskrieg der Deutschen im Osten, inklusive Judenvernichtung, erscheint bei Heim und Aly als notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer großangelegten Modernisierung und Strukturreform , der Massenmordd die Beseitigung eines vorher genau errechneten Bevölkerungsüberschusses. Wobei die deportierten Juden aus den von den Nazis beherrschten Teilen Gesamteuropas da sozusagen dazukamen, ihre Ermordung war beschlossen, aber nicht der alleinge Kern des Gesamtprogramms.

„Völkermord war hier eine Form, die soziale Frage zu lösen“, indem man die Bevölkerungsteile eliminierte, die die Nationalökonomie belasteten.

Damit erscheint die Ökonomie der Endlösung als etwas, das durchaus nicht nur auf das singuläre Ereignis der Shoah zu beziehen ist, sondern als etwas das mit Kontinuitäten in Vergangenheit und Zukunft verbunden ist.

Bezogen auf die Vergangenheit: Schon die "Euthanasie" spielte sich ab vor dem Hintergrund eines rassenhygienischen Diskurses der bis in den Ersten Weltkrieg reichte. Die Tatsache, dass in den Heil- und Pflegeanstalten die Mehrzahl der InsassInnen an Grippe gestorben oder verhungert war führte im Nachhinein dazu, dass Berechnungen angestellt wurden wieviele man hätte retten können wenn man die Unheilbaren getötet hätte. 1920 erschien dann Bindings und Hoches programmatische Schrift "Die Freigabe der Tötung lebensunwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form", das den weiteren Diskurs eintaktete.

Das Buch wurde zum Bestseller. Paranoide Vorstellungen von "Keimvergiftungen" bestimmten medizinische Diskurse, und es gab Plakate die zeigten wie "Geisteskranke" auf einem Joch saßen das deutsche Arbeiter trugen. Sogar die Innere Mission warb mit solchen Darstellungen für die Zwangssterilisierung von Anstaltsinsassen.

So waren es die Wehrlosesten der Wehrlosen, an denen der erste Massenmord verübt wurde. In sehr detailreichen Studien arbeiteten Aly, Heim, Roth, Hartmann, Ebbinghaus, Rössler und Schleiermacher heraus dass die Methoden der Begutachtung und Aussonderung der Opfer, orientiert am Vorbild der Triage in der Militär- und Katastrophenmedizin auf die Gefangenen in den KZs und die Behandlung ganzer Bevölkerungsgruppen übertragen wurden. Nach den Juden und den Sinti und Roma sollte die ländliche Armutsbevölkerung Polens und Weißrusslands dran sein.

An dieser Stelle möchte ich etwas zu den AutorInnen sagen. Während heute der Name Götz Aly prominent ist aber fast nur mit seinen Aussagen nach 2000 verbunden wird bewegte er sich damals im redaktionellen Umfeld der Schriftenreihe "Autonomie Neue Folge", des in den 1980ern wichtigsten Theorieorgans der westdeutschen Autonomen (heute "Materialien für einen neuen Antiimperialismus"), den Namen kannten eigentlich nur HistorkerInnen und Angehörige der autonomen Szene, und die Studien zur NS-Massenvernichtung und Gesundheitspolitik wurden von einem größeren Kollektiv getragen, siehe die oben genannten Namen. Ich selbst gehörte in meiner Studienzeit zum redaktionellen Umfeld der Materialien für einen neuen Antiimperialismus, bin daher also vielleicht gut geeignet das Weltbild dieser Gruppe darzustellen.

Der theoretische Ansatz bewegt sich innerhalb des politischen Theoriehorizonts der Autonomen (wobei die wenigsten Linken die sich heute so nennen davon eine Ahnung haben dürften, but sorry, wir waren das Original). Inhaltlich bedeutet dies eine sehr stark an aktuelle Klassenkämpfe angelehnte Marx-Interpretation, die auf den italienischen Operaismus zurückgeht in Verbindung mit Foucaults Dispositiven der Macht.

Der Operaismus knüpfte ursprünglich an Klassenkämpfen in Italien an, insbesondere an einer Welle wilder Streiks Anfang der 1970er z.B. bei FIAT in Turin, die sich von Arbeitskämpfen wie sie in Deutschland üblich sind total unterschieden: Es ging nicht um Lohnerhöhung, Partizipation und Mitbestimmung, sondern um einen Streik gegen die entfremdete Arbeit selber. In Interviews erklärten ArbeiterInnen, sie würden die monotone Fabrikarbeit, besonders den Akkord, als eine körperliche Gewalt wahrnehmen, die ihnen aufgezwungen würde und gegen die sie sich nun wehren würden.

Diese Wahrnehmung wurde zum perspektivischen Fluchtpunkt nicht nur des Operaismus und der Autonomen, sondern einer ganzen Richtung sozialhistorischer Forschung. Zu nennen wären hier neben der Hamburger Stiftung für Sozialforschung und Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts die Geschichtswerkstätten, das frühere Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte und die britischen Forscher E.P. Thompson und James Mason.

Der Begriff des Klassenkampfs erfuhr hier eine Ausweitung. Als Klassenkämpfe werden nicht mehr nur Streiks, sonstige Arbeitskämpfe und Aufstände begriffen, sondern auch Dinge wie krankfeiern, Werksabotage und Diebstahl am Arbeitsplatz, alles Akte der "moralischen Ökonomie", mit denen sich das entfremdete Individuum schadlos hält.


https://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/eigen-sinn


https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/zum-tod-von-alf-luedtke-forschung-zum-eigensinn-16025810.html


Und zum anderen wurde auch der Blick auf die Herrschaftstechniken ausgeweitet. Es findet nicht nur eine Auseinandersetzung Proletariat vs. Bourgeoisie statt sondern zunehmend Mensch vs. Maschine.


https://www.zvab.com/buch-suchen/textsuche/detlef-hartmann-leben-als-sabotage/

In diesem Kontext wurden "Euthanasie", Zwangsarbeit, KZs, Shoah und Vernichtungskrieg als eine extreme Verschärfung und Zuspitzung bürgerlicher Herrschaftstechniken angesehen, bei der eine negative Bevölkerungspolitik und eine Vernichtung der "überflüssigen Esser" im Mittelpunkt steht.

Dies endet nicht mit dem Untergang des NS. Entwicklungspolitische Programme die Kreditvergabe an Streichung von Brotpreissubventionen knüpfen oder der Versuch, in den 60er und 70er Jahren Armut in Entwicklungsländern durch negative Eugenik in Form von Massensterilisierungen zu bekämpfen, werden von den Materialien für einen neuen Antiimperialismus (neuer Antiimperialismus deshalb, weil er nicht mehr dem stalinistisch geprägten Befreiungsnationalismus und Antiamerikanismus des kommunistischen Internationalismus folgt sondern sich mit der Analyse von Herrschaftspraktiken in dem oben genannten Sinne beschäftigt) als Fortsetzung der Vernichtung der überflüssigen Esser mit anderen Mitteln betrachtet.

Und ebenso werden Konflikte wie der erste Golfkrieg Iran-Irak, der Jugoslawische Bürgerkrieg und der Bürgerkrieg in Ruanda als moderne Vernichtungskriege angesehen, bei denen wiederum die soziale und /oder ethnische Neuzusammensetzung der Bevölkerung durch Vernichtung unerwünschter Gruppen zu den Kriegszielen gehört.


Wichtig ist, und das ist sehr entscheidend, dass keine dieser Betrachtungsweisen monokausal oder monolithisch ist. Unterhält man sich mit Leuten aus der alten Autonomie-Redaktion bekommt man ständig den Ausdruck "Fluchtpunkt" zu hören. Es geht hier vielmehr um eine Betrachtungsperspektive von Herrschaftstechniken als um eine Ursachenerklärung.

So wird denn auch nicht bestritten, dass Hitlers Antisemitismus und die Wannsee-Konferenz den Grund für das Mordprogramm geliefert haben. Es geht bei der Ökonomie der Endlösung vielmehr darum, was NS-Technokraten an eigenen Zielen verfolgt haben (hier stellten Heim und Aly den "Ideologen" wie Hitler, Himmler Heydrich und Co. die namentlich weit unbekannteren Planer, Rassenhygieniker, Ökonomen usw. gegenüber, deren Verbrecherbiografien Teil ihrer Forschungen sind). Und eben darum dass die Herrschaftstechniken als solche - Selektion sozialer Gruppen oder ganzer Bevölkerungen nach dem Muster der Triage, Vernichtung "überflüssiger Esser", negative Eugenik und negative Bevölkerungspoilitik - mit dem Ende des NS nicht verschwunden sind sondern weltweit weiter Anwendung finden.


BTW Es gab mal eine Zeit da diskutierten Linke über Themen wie dieses und nicht über befindlichkeitenorientiertes Privilegienchecking.

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Zu jener von Aly und anderen vertretenen These muß man dazu sagen, daß sie in der Forschung der Historiker nicht unumstritten ist.

Im Sammelband von Wolfgang Schneider (Hrsg.): „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland
wurde sie debattiert.

"„Völkermord war hier eine Form, die soziale Frage zu lösen“, indem man die Bevölkerungsteile eliminierte, die die Nationalökonomie belasteten."

Dieser Aspekt setzt freilich die Frage nach der Gewichtung der Motive voraus. Und es stellt sich in diesem Kontext auch die Frage nach der Bedeutung und den Inhalten der Wannseekonferenz und den dort debattierten Punkten sowie den Ergebnissen.

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Ich bitte um etwas Geduld, ich bin mit meinem Beitrag noch nicht fertig.

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Kein Problem. Es geht mir bei meinen Fragen auch weniger ums "Widerlegen", sondern um eine breit gefächerte Perspektive in einer komplexen Sache, die zu dem mit Entsetzlichsten geführt hat, was Geschichte je hervorbrachte: eine industriell organisierte Hölle.

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"Die Ökonomie des 3. Reiches beruhte auch auf der Beraubung der Juden."

Der Anteil der jüdischen an der gesamten deutschen Bevölkerung lag 1933 bei 1%.
... und damit sind 99% "reich" gemacht worden ?

Wenn man eine Bevölkerungsgruppe gegen eine andere aufhetzt, ist damit sicherlich auch persönliche, egoistische Vorteilsnahme verknüpft ... liefert aber INSGESAMT keinen schlüssigen Erklärungsansatz.

2016 erschien ein Artikel in New Republic, wo behauptet wurde ein entscheidender Unterschied zwischen dem Massenmord an den Juden und dem an den Armeniern liege darin, daß die meisten Türken und Kurden keinen "Haß" empfunden, sondern "nur" an Hab und Gut ihrer armenischen Nachbarn interessiert waren.

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@herold: Was mit "Ökonomie der Endlösung" gemeint ist wird oben ja erläutert, inzwischen bin ich fertig. Der Genozid an den Armeniern, ebenso später Saddams Massaker an den Kurden unterscheiden sich auch dadurch von der Shoah, dass dort Leute nicht nur wegen ihres So-Seins ermordet wurden sondern aus konkreten Kriegs-Frontverlaufssituationen heraus.

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„Völkermord war hier eine Form, die soziale Frage zu lösen“, indem man die Bevölkerungsteile eliminierte, die die Nationalökonomie belasteten.
Zunächst galt es Raum im Osten zu erobern. Die Nazis sorgten sich sehr um die sogenannte Heimatfront. Hitler selbst hatte ja die Erfahrung im Ersten Weltkrieg gemacht, daß eine schlechte Versorgung der Heimat im Krieg das Volk dazu bringt, diesen Krieg und seine kriegführende Regierung in Frage zu stellen. Deshalb war ihm sehr daran gelegen, die Versorgung im Deutschen Reich unter allen Umständen sicherzustellen. Man hat beschlossen, landwirtschaftliche Erträge auf Kosten der Ostvölker zu requirieren. Hinzu kommt, daß im Osten die Front versorgt werden mußte, und die Infrastruktur unterentwickelt war, so daß man die Front "aus dem Land" versorgen mußte. Die Naziführung entschloß sich daher zum sogenannten Backeschen Hungerplan, der im Prinzip das Aushungern des Ostern vorsah.

Das hat wenig mit Sozialpolitik als vielmehr mit Kriegswirtschaft zu tun. Zu deren Erfordernissen gehörte auch die Zwangsarbeit. Die Nazis überzogen wegen ihrem Krieg schon maßlos den Staatshaushalt. Die Nazis haben viel Kraft aufbringen müssen, um unter diesen Umständen die Inflation aufzuhalten. Unter anderem haben sie der gegenwärtig häufig diskutierten Modern Monetary Theorie (MMT) vorgegriffen, und Rüstungsgüter mit den sogenannten Mefo-Wechseln bezahlt. Das ist so etwas ähnliches wie Salvinis mini-bots. Zu den Maßnahmen, die Inflation unter Deck zu halten, gehörte auch die Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Wären die in der Rüstungsindustrie beschäftigten Kräfte angemessen bezahlt worden, hätten diese Kräfte die Inflation angeheizt, zumal die Konsumgüterproduktion zurückgefahren wurde, und überall Knappheit herrschte, weil die Männer an der Front waren und die Resourcen im Krieg zerstört wurden etc.

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Was bedeutet eigentlich Völkermord im industriellen Maßstab, das die Singularität des Holocaust begründet? Unter industriellem Maßstab verstehe ich nach kapitalistischen Maßstäben orientierte betriebswirtschaftliche Organisation, Reduktion von Kosten und Maximieren von Gewinnen. Also eben um Kapitalismus und nicht nur Antisemitismus.

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Juden und Zigeuner konnte man prima mißhandeln. Im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen, können erstere keinen Anspruch auf anständige Behandlung durch politisch Verantwortliche stellen, denn sie sind Randexistenzen. Das Ausrauben und Ermorden von ihnen löst keine Proteste und keine Wellen von Solidarität aus. Mit ihnen konnte man also mit dem Völkermord beginnen.

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Der Anteil der jüdischen an der gesamten deutschen Bevölkerung lag 1933 bei 1%.
... und damit sind 99% "reich" gemacht worden ?
Im Osten Europas waren Juden keine 1% starke zu vernachlässigende Minderheit sondern machten je nach Gegend bis zu einem Viertel der Bevölkerung aus. Wie gesagt, der Holocaust begann so richtig erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion. Vorher hat man die Juden nicht umgebracht sondern ausgeraubt, ihrer sozialen Stellung beraubt und aus dem Land gejagt.

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Es geht doch: Da hat der sozi bedenkenswerte und teils richtige Aspekte genannt. Der erste ist der Krieg im Osten und die Möglichkeiten, einen solchen Krieg zu führen, und zwar auch als Vernichtungskrieg. Für die Vernichtung und Auslöschung der Juden, insbesondere der aus Deutschland und Österreich, aber auch anderer westeuropäischer Länder, brauchte es einen Raum, der möglichst weit weg war. Sogenannte "Räume der Gewalt", die eine besondere Struktur aufweisen, Borderlands eben. (Den Begriff der "Bloodlands" von Snyder würde ich nicht gebrauchen, weil hier zu viel über einen Leisten geschlagen wird und dann in diesen Verallgemeinerungen die Sache analytisch unscharf wird.)

In den besetzten Gebieten in Polen begannen ab 1939 bereits die Ghettosierungen, wobei man dazu sagen muß, daß das Primat zunächst in der Ausrottung der polnischen Intelligenz und der Ausrottung jeglichen polnischen Widerstandes bestand. Die ersten Opfer des Überfalls auf die Polen waren zunächst die Polen. Klare Zeichen: Widerstand zwecklos. Dann kam die Sonderbehandlung der Juden und deren Zusammenpferchung in Ghettos.

Daß das zentrale Motiv immer der Antisemitismus war, wenn auch teils ein taktischer, zeigten die Aktionen im Reich. Dort setze die Ausgrenzung der Juden bereits 1933 ein - sofort nach der Machtergreifung. Es gab noch bei der Aussonderung der Juden aus dem Staatsdienst und auch aus anderen wichtigen Positionen, die sogenannte Hindenburg-Ausnahme, die zur Beruhigung des Reichspräsidenten eingeführt wurde: daß Juden die am ersten Weltkrieg teilgenommen hatten oder einen Vater oder einen Sohn dort verloren hatten, ausgenommen waren. Sobald Hindenburg tot war, wurde auch diese Ausnahme zurückgezogen. Dieser durchs ganze Reich sich ziehende Antisemitismus der radikalen Ausgrenzung aus dem sozialen Leben, von großen Teilen des Volkes mitgetragen, steigerte sich in Phasen. Direkte Aktionen gegen Juden, also öffentliche Zerstörungen wie 1938 waren im Volk weniger beliebt, die Nazis testeten immer wieder, wie weit sie gehen konnten. Und die Selektion durch Tötung wurde vorgetestet an Behinderten, mittels der von che genannten Euthansieprogramme. Hier verquickten sich auf unheilvolle Weise, Rassedenken, Hygienekonzepte und Antisemitismus. In einer dritten Phase dann, die sich den Krieg und die neugewonnenen Räume im Osten zunutze machte, erfolgte die Deportation und dann die anschließende Vernichtung der reichsdeutschen und auch der übrigen westeuropäischen Juden - entweder durch direkten Tod oder durch Tod durch Arbeit. Diese Art von Vernichtung wäre ohne diese neugewonnenen Todesräume nicht denkbar gewesen.

Was bedeutet eigentlich Völkermord im industriellen Maßstab, das die Singularität des Holocaust begründet? Unter industriellem Maßstab verstehe ich nach kapitalistischen Maßstäben orientierte betriebswirtschaftliche Organisation, Reduktion von Kosten und Maximieren von Gewinnen. Also eben um Kapitalismus und nicht nur Antisemitismus.

Nicht ganz. Industriell heißt hier: nach einem rationalen und möglichst effizienten Verfahren in großem Umfang zu vernichten. Einfaches Erschießen und dann das Vergraben von Hundertausenden funktionierte nicht. Auch das hatte man in den östlichen Gebieten versucht. Aber die Vielzahl der Leichen quoll irgendwann aus der Erde heraus und verwandelte die Landschaft in eine stinkende Menschendrecksbrache. Anderer und effiziente Lösungen mußten her. Auch einfaches Verbrennen von Leichen reicht nicht aus. Wie einem jedes Krematorium bestätigen kann. Es mußten spezielle Verfeuerungsanlagen gebaut werden. Und das ist dann mit der industriellen Vernichtung gemeint, eine instrumentelle Rationalität, so wie wir hier rein instrumentell diese Dinge aufzählen und nennen und mal eben so dahererzählen. Dieses Verfahren ist nicht spezifisch kapitalistisch, sondern es hat mit einer betimmten Form von Denken zu tun, womit wir dicht bei Adornos/Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“, bei Heidegger Kritik des abendländischen Denkens und bei Foucaults kritischem Denken und seiner Archäologie und Genealogie des Wissens sind. In diesem Sinne würde ich für dieses Vorgehen nicht den Begriff kapitalistisch anwenden, denn es wurde ja industriell keine Ware produziert, sondern Menschenasche, wo man, willkommener Nebeneffekt, noch das Zahngold abnahm und das Menschenhaar, sondern hier greift besser der Begriff der Technik. Mittels Effizienz von Maschinen zu töten. Eine Kulturleistung sozusagen.

„Juden und Zigeuner konnte man prima mißhandeln. Im Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen, können erstere keinen Anspruch auf anständige Behandlung durch politisch Verantwortliche stellen, denn sie sind Randexistenzen.“

Richtig. Wobei man eben noch sehen mußte, daß die Nazis peinlich genau darauf achteten, wie weit man gehen konnte und wie die Stimmung in der Bevölkerung war und wie man sie anheizen konnte. Zerschmissende Schaufenster kamen nicht so gut an. Mal eben einen Juden von der SA verprügeln, wenn kaum einer hinsah, ging besser. Ebenso das Ausgrenzen aus dem Vereinsleben. Bei Juden war das nicht immer ganz leicht, weil das der ganz normale Mann von nebenan war. Der nicht einen Deut anders aussah. Nicht wie die Gebetsjuden oder die Ostjuden, und auch nicht wie das „fahrende Volk“, wo es deutlich leichter war. Insofern testen die Nazis. Eine These der Forschung besagt übrigens, daß viele der Deutschen nicht primär Antisemiten waren, sondern erst weil die Nationalsozialisten wurden, auch den Antisemitismus annahmen. Wobei ich bei den Abel-Papieren in der kursorischen Durchsicht sehr häufig antisemitische Stereotypen las. Aber auch da muß man vorsichtig sein: Zwischen Ausgrenzung und Ausrottung liegen nochmal ein paar Schritte. Hier ging die Sache vermutlich, wie so häufig, stücken- und scheibchenweise: immer einen kleinen Schritt weiter zur Entgrenzung hin. Und der Krieg tat dann ein übrigens, daß ab 1941, wo die ersten größeren Deportationen von reichsdeutschem Gebiet aus begannen, kaum einer fragte, warum denn plötzlich die Wohnungen leer waren. Und viele begnügten sich mit fadenscheinigen Erklärungen.

„Im Osten Europas waren Juden keine 1% starke zu vernachlässigende Minderheit sondern machten je nach Gegend bis zu einem Viertel der Bevölkerung aus.“

Richtig. Und bei der Vernichtung im Osten auf den eroberten sowjetischen Gebieten spielte sich die Vernichtung nicht rein nach ökonomischen Gesichtspunkten ab: Juden und Russen, die gleich arm waren, wurden zu großen Teilen unterschiedlich deportiert: die Juden gingen sofort weg oder wurden vor Ort noch umgebracht Wobei man zu der Enthemmung im Töten eben auch noch den Kommissar-Befehl vom Juni 41 mitnennen muß: Politkommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern sofort zu erschießen.

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Noch ein Nachtrag: Wer einen sehr guten Überblick über all diese Fragen zur NS- und Holocaustforschung haben will, von der Frage nach den Totalitarismus- und Faschismustheorien über den Zusammenhang von NS und Kapitalismus, der Rolle der Shoah und deren "Anordnung" (die es in dieser Form als Führerbefehl nie gab), bis hin zur Goldhagen-Debatte, dem empfehle ich von Ian Kershaw das Buch "Der NS-Staat". Unbedingt zu lesen. Darin wird auch zahlreiche Primärliteratur und der Stand der Forschung bis in 1990er Jahre genannt.

Lesenswert, weil einen schnellen Überblick liefernd, und auch, weil darin der Mord an den Sinti und Roma thematisiert wird: Wolfgang Benz: Der Holocaust.

Einen guten Überblick zur Forschung findet sich auch bei Frank Bajohr/Andrea Löw (Hg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung.

Ein weiteres Standardwerk, neben Raul Hilbergs Standardwerk, ist Christian Gerlach: Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen

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Bemerkenswert, dass Du Kershaw nennst. Poulantzas´Definition des Faschismus als bürgerlicher Ausnahmestaat, die wir auf diesem Blog kürzlich beim Wickel hatten wird dort nämlich ausführlich behandelt.


Ich hatte dieses Buch unmittelbar nach Erscheinen von meiner Fachschaft zum Geburtstag geschenkt bekommen und dann sofort verschlungen.

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Übrigens, am Rande vielleicht interessant, ein älterer Beitrag:

https://che2001.blogger.de/STORIES/772071/

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Das Buch ist insofern interessant, weil es unterschiedliche Positionen der Forschung nennt, ohne zu scharf zu werten. In diesem Sinne liefert es einen prima Überblick.

Was den (Deutschen) Faschismus und den Kapitalismus betrifft, so ist das eine verschlungene Sache und nicht monokausal abzuleiten.

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Der "Kommissar-Befehl" ist ruckzuck von der Wehrmacht einkassiert worden. Darf man erwähnen.

Auch immer schön daran denken ... bis zur Regierungsübername 1933 hatte es in der Sowjetunion bereits mehrere Massenmorde gegeben. Mehrere soziale Gruppen sind vernichtet worden.

Backe-Plan ?
st der umgesetzt worden ? Gab es die "zig Millionen Hungertoten" ? Hatte Rosenberg nicht etwas Anderes gefordert ?

Wie sah denn so die "angemessene Bezahlung" in den Gulags aus ?

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P.S.

Wolle Benz war 1989 eine kleine Null am IfZ, den kein Schwan kannte.
Dann bekommt er im zarten Alter von 49 Jahren einen Lehstuhr und gleich ein ganzes Institut in die Hand gedrückt. Selbstverständlich ohne Habil. Ehrlos sei ...

Seine (Medien-)Karriere begann erst nach der Jahrtausendwende, als man der "Linken" als Trostpreis für Sozialabbau und Angriffskriege den "Kampf gegen Rechts" schenkte.

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Na, Herold, da haste aber ein wenig zu viel von dem Pulver genommen, was da von Falco in jenem Kommissar-Lied besungen wurde.

„Der "Kommissar-Befehl" ist ruckzuck von der Wehrmacht einkassiert worden. Darf man erwähnen.“

Das wurde im Nachklapp später dann, als die willigen Gehilfen Hitlers, vulgo die Kommandanten in Verhören saßen, gerne behauptet. Leider war es nicht so. Man kann es sogar auf Wikipedia nachlesen. Es gab einige wenige, die diesen Befehl nicht befolgten. Das würde ich kaum „einkassiert“ nennen, sondern bei großen Teilen der Wehrmacht handelte es sich um Hitlers willige Vollstrecker, insbesondere bei deren Beteiligung an Kriegsverbrechen bzw. Beihilfe zum Völkermord.

Den Hungerplan finden wir z.B. bei der Belagerung von Leningrad. Es wurde nicht angegriffen, sondern man ließ die Einwohner verhungern. Die Belagerung Leningrads ist leider eines der in Deutschland lange Zeit völlig unterbelichteten Kapitel. Auch hier finden wir eine von vielen Ausrottungsstrategien der Nazis.

Stalins Lager sind hier nicht das Thema. In diesem Threat geht es um die Beteilgung an einem Genozid bzw. um die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, der SS, des Reichssicherheitshauptamtes und auch um die Verbrechen, die von vielen ganz gewöhnlichen Leuten begangen wurden, wenn man Christopher Brownings Buch "Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen" nimmt. Und der Gulag macht zudem die deutschen Lager nicht um einen Deut besser, sie entschuldigen nichts, sie relativieren nichts, selbst wenn sie, wie manche raunen und orakeln, eine Reaktion auf Stalin sein sollten, wofür es keine Quellenbelege gibt – davon ab, daß es für viele der Juden und auch für viele der russischen Offiziere keine Lager gab: sie wurden beim Überfall auf die Sowjetunion auf der Stelle erschossen.

Uns interessiert nicht der Werdegang von Benz, sondern der Inhalt seines Buches. Es bietet für alle, die nicht den ganzen Hilberg und den Gerlach lesen wollen und all die übrige Sekundärliteratur, einen guten Zugang. Am Ende würde ich aber jedem zum Hilberg und zum Gerlach raten. Und beim Überblick zu Ian Kershaw.

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Die Ökonomie im Nazionalsozialismus war ein sehr schlechter Witz. Einen zeitlich begrenzten Boom auslösen, indem man sich über beide Ohren verschuldet, hat IMMER nur eben zeitlich begrenzt funktioniert, um dann in einer Katastrophe zu enden.
Hier übrigens ein interessanter Artikel aus der taz zur Kriegswirtschaft: https://taz.de/!868132/

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Also ... bis 1938(?) lag die Staatsschuldenquote ziemlich genau bei der von 1933: ca. 20%
In BRD liegt sie heute bei rd. 55%.

Die "große" Verschuldung im Deutschen Reich gab es erst ab 1938(?).
Kleines Detail: we owe it to ourselves.
Bis zm Krieg "gehörten" die zusätzlichen Schulden Deutschlands den Deutschen ... praktisch keine Auslandsverschuldung ... und hätten jederzeit durch Steuern abgeschöpft werden können.

Der taz-Aritkel ist wertlos.
Die deutsche Wirtschaft war weniger auf Massenproduktion, denn auf Einzelfertigung ausgerichtet. Damit hat man die "Produktionsschlacht" im Krieg verloren und den "Wirtschaftskrieg" in der Nachkriegszeit gewonnen.

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P.S.
Die große Joan Robinson, Schülerin von John Maynard Keynes, erklärte mal, daß während Keynes noch über staatliche Eingriffe zur Behebung der Wirtschaftskrise nachdachte, Hitler sie überwunden hatte.

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Ja, eine interessante Darstellung. Insofern es sich um Perspektivierungen und bestimmte Hinsichten handelt, ist das ein richtiger Blickwinkel. Zumal es eben für die Shoah keine monokausale Erklärung gibt und auch die Entwicklung von 1933 bis zum Holocaust nicht kontinuierlich verläuft. Den Einschnitt brachte sicherlich, wie der sozi zurecht schrieb, der Krieg gegen die Sowjetunion. Denn da konnten plötzlich Räume und Regionen im Osten geöffnet werden, wo man ungehindert töten konnte, auch so, daß das eigene Volk nicht zusehen mußte, und es wurde zudem durch die Morde an der Front und durch die nachrückenden Einsatzgruppen die Spirale der Gewalt weiter hochgesteigert, so daß auch bestimmte Hemmungen sanken. Beim ersten Mal tut es noch weh, beim zweiten Mal nicht mehr.

„Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ‚Das jüdische Volk wird ausgerottet‘, sagt ein jeder Parteigenosse, ‚ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‘ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei –abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zuschreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt – bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges – noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen.“ (Reichsführer SS Heinrich Himmler, Posener Rede, am 4. und 6. Oktober 1943 gehalten im Rathaus von Posen)

[Was Himmler da mit seinem "einen Juden" aufgreift, findet sich übrigens bei Hitler schon in "Meien Kampf", wenn er zur Judenfrage schreibt.]

Insofern fließen in diesen Betrachtungen dazu, wie es zu diesem Genozid an Juden, an Sinti und Roma und wie es zur Shoah kam, unterschiedliche Perspektiven zusammen. Es gab eben nicht den einen Führerbefehl. Diese Verqickungen beschreibt auch Kershaw gut und in diesem Sinne sind auch Alys Ausführungen instruktiv und öffnen eine weitere Perspektive.

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Interessant sind dann auch die Kritiken an Aly bzw. wie ich lieber sage dem Materialien-Ansatz: Die einen kritisieren die vorgenommene Quellenauswahl oder die Gewichtung (die Vierjahrsplanbehörde und die Organisation Todt wären viel weniger wichtig als das Reichssicherheitshauptamt gewesen etc.) der Quellen, das ist eine fachliche, diskursinterne Kritik.

Darüberhinaus wird Heim, Aly und Co. eine zu starke Forcierung auf die Ökonomie angekreidet.

Andere Kritiken sind selber hochideologisch. So kritisieren orthodoxe Marxisten, der Materialien-Ansatz werfe den Klassenkamp auf den Müllhaufen und schaffe mit dem Mensch vs. Maschine - Dualismus einen ontologischen Vitalismus. Hardcore- Antideutsche unterstellen einen strukturellen Antisemitismus der darin bestehen würde dass der irrationale Judenhass und dessen Bösartigkeit nicht im Auge des Betrachters sind.

Die Kritiken Grigats und Mellenthins enthalten von diesen unterschiedlichen Gesichtspunkten alle etwas und wurden deshalb von mir angeführt, rein ideologische Kritiken hingegen würde ich hier nicht zitieren.


Wobei Grigat mit steigendem wissenschaftlichen Renommee seriöser und sauberer geworden ist. Früher war der ein fanatischer Antideutscher, der Sachen formulierte wie der heutige Kategorische Imperativ sein ein Adornoscher Imperativ der darauf hinausliefe die Politik Israels bedingungslos zu unterstützen etc.


Inzwischen wurden entsprechende Blogeinträge teils gelöscht und teils völlig umformuliert. Der scheint seine Auffassungen also überarbeitet zu haben.

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@Wolfgang Benz: Und KommilitoInnen von mir verfassten dereinst eine Schrift mit dem Titel "Gegen Leggewiesierung und Heitmeyerei im Antifaschismus" und der Kernaussage dass Neonazis keine abgehängten Modernisierungsverlierer sind sondern zu bekämpfende Feinde.

Und vor 1989 konnte man für das Sprühen bestimmter Parolen sogar ein 129a) Verfahren bekommen, ich erinnere mich da auch noch an "Wenn Sie zu flüchten versuchen machen wir von der Schusswaffe Gebrauch" bei einer Graffity-Sprühaktion.

Beides aber hat mit diesem Thread hier nichts zu tun.

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Was die "Kleine Null" angeht: Seine Dachauer Hefte waren neben den Schriften Klees und eben denen von Heim, Aly, Roth etc. in der zweiten Hälfte der Achtziger vielbeachtete Studien zum NS. Also jedenfalls gehörten sie in meinem Studium, das sich von 1984 bis Anfang Neunziger abspielte zum Lehrstoff am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte.

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was unterscheidet aly von abdallah zekri? nix
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/islamkritik-in-frankreich-ich-sage-was-ich-denke-ich-bin-keine-rassistin-16608795.html

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Was unterscheidet bitcoinziwo von herold? Nix.
Beide führen Pseudoargumente in einen Diskussionsstrang ein die mit diesem nicht zu tun haben, mit deutlich rechtslastiger Gewichtung.

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