Donnerstag, 29. Oktober 2020
Warum natürliche Herdenimmunität kein Weg ist, die Impfung aber helfen kann – 3 deutsche Experten zur Corona-Eindämmung
Sonja Boehm, Medscape


Mit den rapide steigenden Infektions- und Erkrankungszahlen an COVID-19 – nicht nur in Deutschland – nehmen auch die Diskussionen zu, was die besten Strategien sind, um der Pandemie Herr zu werden. Dies ganz besonders, da nun von der Regierung für den Monat November ein weitreichender Lockdown für das ganze Land verordnet worden ist. Könnte man nicht – ähnlich wie die Schweden – auf weniger strikte Kontrollmaßnahmen und auf Herdenimmunität setzen, dabei vor allem diejenigen schützen, die besonders gefährdet sind? Oder braucht es die strikten Kontaktbeschränkungen für alle, um so die Ausbreitung von SARS-CoV-2 möglichst effektiv in allen Bevölkerungsgruppen einzudämmen?

Für beide Ansätze gibt es auch unter Wissenschaftlern Befürworter und Gegner. So propagieren z. B. – wie berichtet – die Initiatoren der Great Barrington Declaration, eine Herdenimmunität unter den weniger vulnerablen jüngeren Altersgruppen mit natürlicher Durchseuchung zu erreichen, um so dann schließlich auch die älteren Risikogruppen zu schützen.

Die Wissenschaftler im sogenannten John Snow Memorandum betonen dagegen, dass es ungewiss sei, ob sich nach einer nur milde verlaufenden Corona-Infektion tatsächlich eine langfristige Immunität gegen den Erreger aufbaue. Ohne wirksame und sichere Impfungen auf eine baldige Herdenimmunität setzen zu wollen, halten sie für unverantwortlich.

Kein gangbarer Weg
Was sagen die aktuellen Daten dazu? Wie sehen dies deutsche Experten? Das deutsche Science Media Center hat 3 Wissenschaftler in einer Online-Pressekonferenz befragt [1]. Die Zusammenfassung ihrer Ansichten vorneweg: Alle 3 sind ebenfalls der Meinung: Auf eine „natürliche“, durch Infektionen erzielte Herdenimmunität in der Bevölkerung zu setzen, um darüber auch die vulnerablen Gruppen zu schützen, ist kein gangbarer Weg!

„Das ist ohne Impfung meines Wissens mit noch keiner Infektionskrankheit gelungen“ betonte Prof. Dr. Leif-Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Infektionsimmunologie und Impfstoffforschung und Oberarzt in der Medizinischen Klinik für Infektiologie und Pneumologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Es gibt Belege, dass dies über eine Impfung gelingen kann, etwa bei den Pneumokokken, aber dass dies auch über eine natürliche Infektion möglich ist – und man so die vulnerablen Gruppen auch schützen kann – dafür gibt es eigentlich keine Blaupause.“ Es sei für ihn „nicht vorstellbar“, wie es zu realisieren sei, eine Herdenimmunität auf diesem Weg zu erreichen und dabei die Risikogruppen wirksam zu schützen.

Und Sander hat noch einen Einwand: „Auf unseren Stationen werden derzeit auch eine relevante Anzahl von Patienten mit einem schweren Verlauf behandelt, die jünger sind.“ Junges Alter allein schütze nicht vor einem schweren Verlauf: „Wir kennen nicht alle Risikofaktoren.“ Lasse man das Virus durch die Bevölkerung laufen, riskiere man auch schwere Verläufe bei jungen Menschen, die man im Vorfeld nicht als Risikopatienten identifizieren könne.

Auch zunehmend jüngere Patienten auf der Intensivstation
Prof. Dr. Jacob Nattermann, Leiter der Arbeitsgruppe angeborene zelluläre Immunologie, Medizinische Klinik und Poliklinik I, Universitätsklinikum Bonn, pflichtet ihm bei: „Für mich als Arzt und Intensivmediziner ist es eine absurde Vorstellung, den Tod von Hunderttausenden – aller Altersstufen – in Kauf zu nehmen.“ Und er bestätigt: „Wir haben hier auf unseren Stationen, anders als in der ersten Welle, nun auch zunehmend jüngere Patienten mit schwerem Verlauf, die als einzigen erkennbaren ‚Risikofaktor‘ etwas Übergewicht haben.“






Und auch er bestätigt, dass er es für unmöglich hält, über natürliche Infektionen in der Bevölkerung einen so langfristigen Schutz aufzubauen, dass eine Herdenimmunität erreicht wird, die im Endeffekt alle schützt.

Optimismus in punkto Impfstoffen
Alle 3 Experten sind aber optimistisch, was die Entwicklung und Wirksamkeit von Impfstoffen gegen SARS-CoV-2 angeht. Die Tatsache, dass nun verschiedene Studien gezeigt haben, dass die Titer an neutralisierenden Antikörpern in den Wochen und Monaten nach einer Infektion wieder stark abnehmen, zum Teil sogar ganz verschwinden, spreche nicht generell dagegen, dass mit einer Vakzine ein langfristiger Impfschutz erreicht werden könne. Denn es gebe auch eine „starke T-Zellantwort gegen verschiedene Bereiche des Virus“ in den ersten Wochen nach der Infektion – und wohl auch nach einer Impfung, berichtete Prof. Dr. Robert Thimme, Ärztlicher Direktor der Klinik für Innere Medizin II, Universitätsklinikum Freiburg. Die T-Zellantwort bleibe nachweisbar, auch wenn die Antikörper verschwinden. Von anderen, ähnlichen Viren wie SARS-Cov-1, wisse man, dass die T-Zellen bis zu 10 Jahre nach der Erkrankung noch nachweisbar seien.

Ich bin optimistisch, dass dies (der Schutz durch Impfung) funktionieren wird – zumindest um schwere Verläufe zu verhindern. Prof. Dr. Leif-Erik Sander
Für alle derzeit in der Entwicklung befindlichen Impfstoffe – ob auf Vektor- oder RNA-Basis oder ob herkömmliche Ansätze, bei denen ein Protein als Antigen genutzt wird, – „sieht es nach bisherigen Daten so aus, dass sie gut funktionieren und eine starke Immunantwort generieren“, bestätigte Sander. Dies beziehe sich sowohl auf die Titer der neutralisierenden Antikörper, als auch auf die (schwieriger zu messende) T-Zellantwort. „Ich bin optimistisch, dass dies funktionieren wird – zumindest um schwere Verläufe zu verhindern.“

Natürliche Infektion oder Impfung – ein entscheidender Unterschied
Für Sander ist dabei auch von Bedeutung, in der Öffentlichkeit den Unterschied in der Immunantwort auf eine natürliche Infektion und eine Impfung deutlich zu machen: Bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 und einem eher milden Verlauf, betreffe die Infektion vor allem die Schleimhaut der oberen Atemwege. Die Immunantwort darauf falle entsprechend geringer aus – und es sei derzeit nicht geklärt, inwieweit dadurch eine andauernde Immunität erreicht werde.

„Das ist ganz anders bei einer Impfung, bei der das Agens in den Muskel eingebracht wird – das löst eine ganz andere Immunantwort aus“, betonte er. Und da könne man eher sicher sein, einen langfristigen Immunschutz zu erreichen. Auch bei Patienten mit schweren Verläufen von COVID-19, mit schweren Pneumonien, zeigten sich höhere Titer der Immunantwort als bei leichteren Krankheitsverläufen.

Es geht darum, die überschießende Immunreaktion zu verhindern
Inzwischen gehe man allerdings davon aus, dass schwere Verläufe von COVID-19 nicht die Konsequenz der Virusinfektion per se, sondern vielmehr die Folge einer überschießenden Immunreaktion seien, die zu Entzündungs- und auch Umbauprozessen, etwa in der Lunge, beitragen. „Wir kennen aber den molekularen Schalter bislang nicht.“

Eine wirksame Impfung müsse nicht unbedingt die Infektion selbst verhindern, sie könne aber den Infektionsverlauf eindämmen, bevor es zu der überschießenden Immunreaktion kommt. „Es kommt dann nicht zu der Ausbreitung des Erregers im Organismus, die eine solche Immunkaskade auslöst“, erläuterte Sander.

Es besteht Hoffnung, dass der Immunschutz einer Impfung besser ist als der Immunschutz durch die Infektion. Prof. Dr. Leif-Erik Sander
Auch Thimme betonte, dass man derzeit noch zu wenig dazu wisse, wer durch eine solche überschießende Immunantwort gefährdet sei. Neben anderen Faktoren spiele mit Sicherheit dabei auch „der genetische Hintergrund eine Rolle“, ergänzte Nattermann. „Es ist wichtig zu verstehen, was die Verläufe so unterschiedlich macht.“ Zumindest habe man nun mit den Steroiden „eine unspezifische Therapie, die etwas bringt“.

Kein Komplettschutz durch Impfung
„Einen Komplettschutz werden wir mit der Impfung nicht erreichen“, dämpfte Thimme allzu hohe Erwartungen. Das Virus werde wohl endemisch und „saisonal werden“, wie die 4 „normalen“ Corona-Erkältungsviren auch, sagte er. „Das Ziel muss eine grundlegende Immunisierung der Bevölkerung sein, um die Zahl schwerer Verläufe zu senken.“

Es ist wichtig zu verstehen, was die Verläufe so unterschiedlich macht. Prof. Dr. Jacob Nattermann
Es sei ja gerade der eher milde Verlauf der harmlosen Erkältungen mit herkömmlichen Coronaviren, der diese Erreger „so erfolgreich“ mache, erläuterte Sander dazu. „Sie verursachen eher milde Erkrankungen und entkommen damit – zu einem gewissen Grad – dem Immunsystem.“ Damit hinterließen sie aber auch keine dauerhaft sterilisierende Immunität – Reinfektionen sind möglich. Das sei bei einer Impfung aber ganz anders, denn dabei werde das Antigen dem Immunsystem direkt präsentiert. „Es besteht Hoffnung, dass der Immunschutz einer Impfung besser ist als der Immunschutz durch die Infektion.“

Es wäre wichtig, das Korrelat des Immunschutzes zu kennen
Und Thimme ist optimistisch, dass dies auch für ältere, durch SARS-CoV-2 besonders gefährdete Menschen gilt. Denn aufgrund der Erfahrungen, etwa mit der Grippe-Impfung, gibt es die Befürchtung, der Impfschutz könne gerade bei denjenigen, die ihn besonders benötigen, versagen. „Erste Daten dazu sehen gut aus“, verkündete Thimme. Sander ergänzte, dass nach den ersten Daten der klinischen Studien, mit den neuen Vakzinen auch hohe Antikörper-Titer bei älteren Menschen erreicht werden – dies gelte vor allem für die innovativen RNA- und Vektor-Vakzinen – der Vektor wirke quasi als „natürliches Adjuvans“.

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