Donnerstag, 2. Juni 2022
Schlechtes Zeugnis für Antidepressiva
Patienten haben laut einer Umfrage auch mit Medikamenten nur mäßige Lebensqualität
Dr. Angela Speth, Medscape


Die Wirksamkeit von Antidepressiva ist unter Experten umstritten, doch wie beurteilen die Anwender selbst ihr Befinden? Eine Umfrage ergab: Sie stufen ihre Lebensqualität als mäßig ein, und zwar als genauso mäßig wie depressive Menschen, die diese Psychopharmaka nicht nehmen. Und auch 2 Jahre später hat sich an dem Nulleffekt nichts geändert. Dieses Resultat einer Studie in den USA hat Aufsehen erregt und Kritik geerntet, vor allem kreiden Psychiater methodische Mängel an.

Über eine Arzneimittel-Datenbank ermittelten die Forscher, dass insgesamt 57% der Teilnehmer Antidepressiva genommen hatten. Bschor merkt an: ?Wer diese Wirkstoffe erhielt und wer nicht, beruht keineswegs auf Zufall, sondern auf Unterschieden in vielen Merkmalen ? wie Zugang zu medizinischen Angeboten, Krankenversicherung, Schweregrad der Depression, Bildung und Einstellung zu Medikamenten.?

Gleichberechtigung ist oft noch ein Wunschbild
Relevant ist offenbar auch der Faktor Geschlecht, denn 2 Drittel der depressiven Frauen wurden behandelt, dagegen nur gut die Hälfte der Männer. Nicht-Versicherte und ebenso Angehörige anderer ethnischer Gruppen erhielten ebenfalls seltener Antidepressiva.

Nach den Worten von Dr. Rebecca Sheriff, Psychiaterin an der Universität Oxford, wirft die spezielle Studienpopulation ein Licht auf ?die äußerst missliche Tatsache?, dass große Teile der Bevölkerung ? besonders Minderheiten ? in der medizinischen Versorgung und der Forschung unterprivilegiert sind.

Auffällig ist die anhaltende Stagnation
Im ersten Jahr nach der Diagnose und erneut 2 Jahre später hatten die Patienten den Fragebogen SF-12 ausgefüllt. Sowohl bei den Teilnehmern mit Antidepressiva als auch bei jenen ohne die Medikation zeigte der Ausgangswert von rund 44 Punkten eine moderate Lebensqualität an ? der Durchschnitt liegt bei 50 Punkten, das Maximum bei 100.

Am Ende der Beobachtungszeit hatte sich das körperliche Befinden in beiden Gruppen geringfügig um 0,35 Punkte verschlechtert, das psychische Befinden ebenfalls marginal und übereinstimmend um gut einen Punkt gebessert. Bschor resümiert: ?Unter realen Bedingungen bleiben die Defizite an Lebensqualität offenbar gleich.?

Die Autoren selbst räumen als Schwäche ihrer Studie ein, dass sie Art und Ausmaß der Depression nicht berücksichtigen konnten, weil diese Angaben in den Unterlagen fehlten.

Doch gerade wegen dieses Mankos ziehen manche Fachleute die Resultate in Zweifel. Die Kommentare lauten: Das sei ein gravierender Fehler, weshalb man aus der Studie keine Erkenntnisse gewinnen könne. Es gebe es zu viele Unbekannte für klare Schlussfolgerungen. Aus methodischen Gründen lasse sich nichts über die Wirksamkeit von Antidepressiva aussagen. Die Studie sei nicht mehr als der Vergleich zweier Kollektive. Patienten, die davon profitieren könnten, sollten sich keinesfalls entmutigen lassen.

Machten die Patienten eine Psychotherapie?
Prof. Dr. Eva-Lotta Brakemeier von der Universität Greifswald sieht eine weitere schwerwiegende Schwäche: In keiner der beiden Gruppen war nach einer Psychotherapie gefragt worden. Diese Methode jedoch sei in den USA sehr verbreitet und werde von sämtlichen Leitlinien als nachweislich wirksam und darum als erste Wahl empfohlen ? bei schweren Formen und chronischen Verläufen zusätzlich zu Antidepressiva.

Ein zusätzlicher Kritikpunkt: der Zeitrahmen von 2 Jahren. Er sei nicht angemessen, weil Depressionen meistens episodisch verlaufen, das heißt, sie verschwinden innerhalb etwa 9 Monaten von selbst.

Die Studie spiegelt die Praxisbedingungen wider
Bschor wiederum betrachtet gerade den langen Abstand als Qualität. Randomisierte Studien seien dagegen nur auf wenige Wochen angelegt und die Behandlung geschehe artifiziell, zum Beispiel mit der Zuteilung auf Verum oder Placebo. Sheriff hält die Daten ebenfalls für aussagekräftig, weil sie eine große Zahl von Menschen einschließen.


Doch was nun? Sollten Ärzte ihren Patienten Antidepressiva verschreiben oder nicht? Eine klare Antwort gibt es leider nicht, die Zustimmung oder Ablehnung der Experten spiegelt die widersprüchlichen Ergebnisse wider, auf die sie sich berufen.

Positionen kontra Antidepressiva
Almohammed und seine Kollegen zitieren Studien, wonach die Wirkung zu 80% auf Placebo-Effekten beruht und die Rückfallrate höher ist als mit Placebo. Sie empfehlen daher, depressiven Menschen zunächst Alternativen vorzuschlagen: Verhaltens- oder Gesprächstherapie, Angebote zu sozialer Unterstützung, Hilfe zur Selbsthilfe, Tagesstrukturierung oder Aufklärung.

Bschor pflichtet ihnen bei: Die Autoren plädieren zu Recht dafür, dass Ärzte mit der Verordnung zurückhaltender sein sollten ? auch weil sich Befunde mehren, dass Antidepressiva die Krankheit langfristig sogar verschlechtern. Es komme zu Chronifizierung und Rückfällen, was eine Dauerverschreibung notwendig macht. Einen ungünstigen Einfluss könnten auch die Nebenwirkungen haben, zum Beispiel starke Müdigkeit tagsüber oder Libidoverlust.

Sheriff verweist darauf, dass Aktivitäten gemeinsam mit anderen Menschen in Sport, Kunst und Kultur die gesundheitsbezogene Lebensqualität möglicherweise am meisten erhöhen.

Positionen pro Antidepressiva
?Wahrscheinlich waren die Menschen, die Antidepressiva verordnet bekamen, schwerer depressiv als nicht behandelte Teilnehmer?, argumentiert Prof. Dr. David Curtis von der Universität London. ?Daher hatten diese Medikamente offenbar sehr wohl eine Wirkung, ohne die Lebensqualität stärker zu beeinträchtigen. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Antidepressiva bei schweren Depressionen Symptome und Lebensqualität bessern.?

Wahrscheinlich waren die Menschen, die Antidepressiva verordnet bekamen, schwerer depressiv als nicht behandelte Teilnehmer. Prof. Dr. David Curtis
Dr. Gemma Lewis, ebenfalls von der Universität London, vertritt einen ähnlichen Standpunkt: ?Als die Studie startete, haben viele Menschen ihre Antidepressiva wahrscheinlich schon seit mehreren Jahren genommen. Zu Beginn der Einnahme hatten sie möglicherweise eine sehr schlechte Lebensqualität und waren schwer depressiv. In der ANTLER-Studie haben wir festgestellt, dass Antidepressiva langfristig das Risiko eines Rückfalls verringern und zum Erhalt der Lebensqualität beitragen.?


Nach dem Konzept der gesundheitsbezogenen Lebensqualität sind für den Erfolg einer Behandlung nicht mehr nur medizinische Befunde maßgeblich, sondern außerdem direkt die Einschätzungen der Patienten. Eine anerkannte Messmethode ist der Gesundheitsfragebogen Short Form-12, der aus 12 Fragen zur körperlichen und mentalen Funktionsfähigkeit besteht.

Haben Sie sich ruhig und friedlich gefühlt?
So sollen die Befragten ihren Gesundheitszustand bewerten, außerdem für die vergangenen 4 Wochen ankreuzen, wie sehr sie durch Schmerzen, gesundheitliche und emotionale Probleme im Alltag, bei der Arbeit und bei sozialen Aktivitäten eingeschränkt waren und wie oft sie sich jeweils zufrieden, niedergeschlagen und voller Energie gefühlt haben.

Wie depressive Patienten diese Fragen je nach Medikation beantworten, haben Prof. Dr. Omar A. Almohammed von der Universität Riad in Saudi-Arabien und seine Kollegen ermittelt [1]. Es handelt sich um die sekundäre Analyse einer Umfrage, die primär zur Abschätzung von Kosten gedacht war. Der wissenschaftliche Recherche-Verband Science Media Center hat deutsche und britische Psychiater und Psychologen um eine Stellungnahme gebeten.

Saudi-Arabien strebt internationale Forschung an
Prof. Dr. Tom Bschor von der Universität Dresden wundert sich über die ungewöhnliche Herkunft: ?Interessanterweise besteht das Autorenteam aus nur einer US-Wissenschaftlerin, die anderen 5 Forscher stammen aus Saudi-Arabien.?

Vorbehalte äußert er auch gegen die Motivation für die Analyse. So rechnen die Forscher in aller Ausführlichkeit vor, welche enormen Kosten depressive Erkrankungen verursachen, zumal wegen ihrer stetigen Zunahme. Beispiele: In den USA belief sich allein die Behandlung im Jahr 2005 auf rund 66 Milliarden US-Dollar, 2010 schon auf 80 Milliarden. Auch die Patienten selbst kommt die Störung teuer zu stehen, nämlich geschätzt rund 6.600 US-Dollar jährlich.

Fokus auch auf den kranken Menschen
Bschor kommentiert: Mit Blick auf das Thema ? die gesundheitsbezogene Lebensqualität ? hätte man erwarten dürfen, dass die Forscher nicht nur die ökonomische Last für die Gesellschaft anführen, sondern auch das Leid depressiver Menschen erwähnen, etwa ihre eingeschränkte Teilhabe am allgemeinen Leben.

Als Quelle diente Almohammed und seinen Kollegen eine US-Datenbank zu Depressionen: Medical Expenditures Panel Survey MEPS. Sie analysierten die Krankenakten von 17,5 Millionen Menschen ? rund 2 Drittel Frauen ? aus dem Zeitraum von 2005 bis 2016.

Überwiegend weiß und wohlhabend
Das Durchschnittsalter lag bei 48 Jahren. Fast 90% hatten eine helle Hautfarbe, jeweils 2 Drittel waren privat versichert und kamen aus Haushalten mit mittlerem bis hohem Einkommen. ?Die Teilnehmer dürften nicht repräsentativ für die USA sein?, gibt Bschor zu bedenken. ?Auf Deutschland hingegen, wo zum Beispiel fast alle Bürger krankenversichert sind, lassen sich die Ergebnisse schon eher übertragen.?

https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4911225?src=WNL_mdplsfeat_220602_mscpedit_de&uac=389796AZ&impID=4296666&faf=1#vp_3

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