Donnerstag, 2. Juni 2022
Cannabis - Fluch und Segen
Ute Eppinger, Medscape


Seit März 2012 können Patienten bei schwerwiegenden Erkrankungen auf Antrag Cannabis zur Therapie erhalten. Als ?Meilenstein für die Versorgung von Schmerzpatienten? bezeichnete Dr. Johannes Horlemann, Kevelaer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS), das Gesetz im Rahmen einer Pressekonferenz .

Die DGS habe das Gesetz begrüßt, erinnerte Horlemann: ?Wir waren alle froh und dankbar.? Wie gut und sicher ist die Versorgung mit Cannabinoiden dadurch geworden? Horlemann zog eine erste Bilanz und stellte eine Initiative seiner Fachgesellschaft vor, um die sichere Versorgung mit Cannabinoiden zu erleichtern.

Es hat sich herausgestellt, dass die Hauptindikation für Cannabinoide bei chronischen Schmerzen, meist neuro­pathischen Schmerzen liegt, besonders im Bereich von Rückenschmerz, Tumorschmerz und anderen Schmerzformen. Die Erkrankung muss ?schwerwiegend? sein: ein dehnbarer Begriff. Hinzu kommt, dass Ärzte zuvor alle anderen therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.

Die Ausschöpfung der Standardtherapie ist in vielen Anträgen ein Problem. Dr. Johannes Horlemann
Die meisten Verordner sind Hausärzte, Schmerzmediziner und Neurologen. Bislang gebe es keine Hinweise auf eine missbräuchliche Auslegung oder Anwendung des Gesetzes, so Horlemann. Die Versorgung mit Cannabinoiden bezeichnet er als ?segensreich für die allermeisten Patienten, die ich kenne ? sowohl aus eigener Praxis als auch aus den Berichten von Kollegen?.

Kassen bewilligen jeden 3. Antrag nicht
Allerdings wird ein Drittel der Anträge zur Versorgung mit Cannabinoiden abgelehnt. Manchmal sei die Bedingung, vorher alle anderen Therapien versucht zu haben, nicht erfüllt, berichtet Horlemann: ?Die Ausschöpfung der Standardtherapie ist in vielen Anträgen ein Problem. Unter dem Drittel der abgelehnten Anträge sind doch einige, bei denen die Berücksichtigung der Standardverfahren nicht ausreichend erfolgt ist.?

In anderen Fällen ist die Ablehnung nicht nachvollziehbar. Horlemann berichtet von einem Patienten, dessen Arm infolge einer Armplexusläsion nach einem schweren Motorradunfall bewegungsunfähig war und der sehr starke nervenabhängige Schmerzen aufwies. Der Patient war mit Opioiden, Antiepileptika und Antidepressiva erfolglos behandelt worden, auch nicht medikamentöse Möglichkeiten wie die transkutane elektrische Nervenstimulation waren ausgeschöpft.

Mit ärztlicher Unterstützung stellte der Patient einen Antrag bei seiner Krankenkasse. ?Zu unserem großen Erstaunen wurde der Antrag abgelehnt?, berichtet Horlemann. Das habe auch damit zu tun, dass man in Deutschland der Auffassung sei, dass Tumorpatienten eine größere Indikation für Cannabinoide aufweisen als Nicht-Tumorpatienten.

Horlemann betonte, dass auch Patienten, die nicht an Tumoren leiden, palliative Patienten sein können und eine Versorgung mit Cannabinoiden benötigten. ?Unsere Renitenz und die Verhandlungen mit der Krankenkasse haben dann dazu geführt, dass der Patient inzwischen Cannabis erhält. Vor einigen Monaten hat er mir gesagt, dass er dadurch ein völlig neues Leben geschenkt bekommt hat. Das ist eine wunderbare Erfahrung zwischen Arzt und Patient ? das wünsche ich allen Kollegen, die mit Cannabinoiden arbeiten.?

Selektivvertrag: Vorreiter auf dem Weg zur schnelleren Versorgung
Weil die Einschätzung zwischen verordnendem Arzt und Medizinischem Dienst der Kassen ? wie am Beispiel des Motorradfahrers gesehen ? gelegentlich abweicht, warten viele Patienten zu lange auf eine angemessene Versorgung. Um Abhilfe zu schaffen, hat die DGS Verhandlungen mit gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen.

Ziel der Initiative ist die Aufhebung des Genehmigungsvorbehaltes einer Erstverordnung durch die Kas­sen. ?Das bedeutet, dass die Therapieentscheidung ausschließlich beim Arzt in Absprache mit seinem Patienten liegen soll. Gleichzeitig soll ein nachvollziehbarer Qualitätsanspruch gewährleistet bleiben?, erklärt Horlemann.

Schule machen könnte dabei ein Selektivvertrag, den die DGS und die AOK Rheinland/Hamburg im Dezember vergangenen Jahres vereinbar haben. Ziel des Vertrages ist, den Patienten rasch eine gute Versorgung zukommen zu lassen.

Die Therapieentscheidung sollte ausschließlich beim Arzt in Absprache mit seinem Patienten liegen. Dr. Johannes Horlemann
?Ein solches Antragsverfahren aufzuheben setzt das besondere Vertrauen der Kassen in die Qualität der Versorgung voraus?, so Horlemann. Mit einem eigens entwickelten 40-stündigen Curriculum für die verordnenden Ärzte will die DGS das gewährleisten. Das Projekt soll von einer Studie begleitet werden. Horlemann hofft, dass sich der Selektivvertrag auf ganz Deutschland ausdehnen werde.

Um die Versorgung zu verbessern, hat die DSG auch ihre PraxisLeitlinie Tumorschmerz aktualisiert. Im 1. Quartal 2021 soll ein neuer Entwurf zur öffentlichen Kommentierung und Konsentierung publiziert werden.

PraxisRegister Schmerz unterstützt die Versorgungsforschung
Mit dem PraxisRegister Schmerz und der ihm zugrunde liegenden Online-Plattform iDocLive® bietet die DGS seit 2014 allen Mitgliedern und Schmerzpatienten eine Plattform zur vollelektronischen Do­kumentation.

Die Daten werden für die Behandlung der Patienten genutzt, sie ermöglichen aber auch Analysen für Versorgungsforschung und liefern Antworten auf epidemiologische Fragen.

PD Dr. Michael Überall, Nürnberg, Vizepräsident der DGS, stellte aktuelle Zahlen vor. Demnach beteiligen sich bundesweit 213 Einrichtungen mit 769 Schmerzmedizinern, 795 Ärzten anderer Fachrichtungen und 2.551 nichtärztlichen Schmerz­spezialisten am PraxisRegister Schmerz. Bis zum 31.12.2020 wurden über dieses System 302.617 Behandlungsfälle erfasst.

Neben der Dokumentation von Befunden wurde Ende 2020 erstmals auch ein Evaluationsalgorithmus in das System integriert, der anhand von Patientenangaben das Risiko für Morbus Fabry bewertet und den behandelnden Arzt informiert. So kann diese seltene Stoffwechselerkrankung möglicherweise frühzeitig diagnostiziert werden.

Mit dem PraxisRegister Schmerz unterstützt die DGS das weltweit größte Schmerzregister. ?Damit wurde erstmalig ein Weg gefunden, die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung gleichermaßen für den Einzelfall, wie auch für die Gemeinschaft der chronischen Schmerzpatienten zu nutzen und Daten­schutz sowie Gesunderhaltung und Heilung zu verbinden?, sagt Überall.

Unter dem Motto ?Sichere Ver­sorgung ? Versorgung sichern? findet der Deutsche Schmerz-und Palliativtag 2021 vom 9. bis 13. 2021 März online statt. Themen des Kongresses sind die interdisziplinäre Zusam­menarbeit mit anderen Fachgesellschaften, die koordinierte Übergabe von der Klinik in die ambulante Versorgung, die Implementierung von Komplementärverfahren und aktuelle PraxisLeitlinien.

Erstmals konkreter Nachweis im MRT: Cannabis-Konsum hinterlässt bleibende Schäden im Gehirn von Heranwachsenden

Anke Brodmerkel, Medscape


Für Jugendliche unter 25 Jahren, deren Gehirn noch nicht vollständig ausgereift ist, ist der Konsum von Cannabis besonders gefährlich. Das haben in der Vergangenheit bereits einige Studien gezeigt. Nun ist Wissenschaftlern mithilfe von MRT-Bildern erstmals der ganz konkrete Nachweis gelungen, welche bleibenden negativen Effekte die Droge im Gehirn von Heranwachsenden haben kann.

Wie das Team um Dr. Matthew Albaugh, klinischer Psychologe in der Abteilung für Psychiatrie am University of Vermont Medical Center, in JAMA Psychiatry berichtet, ist bei Jugendlichen, die Cannabis mehr oder weniger regelmäßig konsumieren, die Hirnrinde im Bereich des präfrontalen Kortex auffällig verdünnt [1]. Der beobachtete Effekt war umso stärker, je mehr Cannabis die Jugendlichen nach eigenen Angaben zu sich genommen hatten.

PET-Aufnahmen zeigten zudem, dass Veränderungen besonders deutlich an Stellen auftraten, die viele Cannabinoid-Rezeptoren vom Typ 1 (CB1) aufweisen. Hirnmorphologische Effekte von Cannabis beeinflussten der Studie zufolge auch das Verhalten der Jugendlichen. Ihre Aufmerksamkeit sei reduziert und die Impulsivität erhöht gewesen, schreiben Albaugh und seine Kollegen.

Ausdünnung der Hirnrinde im präfrontalen Kortex
?Das ist eine qualitativ hochwertige und somit auch verdient hochrangig publizierte Studie?, kommentiert Prof. Dr. Maximilian Gahr, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III des Universitätsklinikums Ulm, im Gespräch mit Medscape. Gahr, der sich ebenfalls wissenschaftlich mit den Folgen des Cannabiskonsums bei Jugendlichen beschäftigt, nennt vor allem 2 Stärken der Untersuchung: die Größe der Kohorte und der Einsatz bildgebender Verfahren.

Das ist eine qualitativ hochwertige und somit auch verdient hochrangig publizierte Studie. Prof. Dr. Maximilian Gahr
?Frühere Studien hatten bereits darauf hingedeutet, dass der Gebrauch von Cannabinoiden insbesondere bei Adoleszenten möglicherweise zu anhaltenden kognitiven Beeinträchtigungen führt ? die selbst dann weiter bestehen, wenn der Konsum beendet wird?, sagt Gahr. Die aktuelle Studie bestätige dies nun und zeige darüber hinaus die wahrscheinliche Ursache der geistigen Veränderungen auf: eine Ausdünnung der Hirnrinde im präfrontalen Kortex.

?Dieser Bereich des Gehirns ist ganz wesentlich an kognitiven Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Planen, Problemlösen, Priorisieren und Fokussieren beteiligt?, erläutert Gahr. Zugleich sei das Frontalhirn ein Bereich, dessen Entwicklung erst sehr spät abgeschlossen sei ? bei Frauen mit Mitte 20, bei Männern vermutlich noch später. ?Das ist möglicherweise der Grund, warum das Gehirn von Heranwachsenden so besonders empfindlich auf Drogen und andere Störungen von außen reagiert?, sagt der Psychiater.

Weitere Argumente für Ärzte
Gahr selbst veröffentlichte Ende 2020 gemeinsam mit seinem Ulmer Kollegen Prof. Dr. Carlos Schönfeldt-Lecuona im Journal of Clinical Psychopharmacology eine Studie, der zufolge die Zahl cannabisinduzierter Psychosen bei Jugendlichen in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist ? vermutlich aufgrund des immer höheren THC-Gehalts moderner Cannabiszüchtungen. THC (Tetrahydrocannabiol) ist der wichtigste psychoaktiv wirkende Inhaltsstoff der Hanfpflanze.

Dieser Bereich des Gehirns ist ganz wesentlich an kognitiven Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Planen, Problemlösen, Priorisieren und Fokussieren beteiligt.

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