Montag, 29. Oktober 2012
Notizen aus der Knochenmühle 2
Ein Meister eines führenden PKW-Herstellers erzählte mir Folgendes: Ein Schichtleiter machte ihn an, weil seine WerkerInnen in der Feinabdichtung bei den Karosserien schlampen würden, sie müssten präziser arbeiten und im 58-Sekunden-Takt jede Karosserie - es handelt sich um den Touran - deutlich besser abdichten. Als er nach etlichen Widerworten, es ging da um minimalste Unterschiede das den Leuten vermittelt hatte bekam er mit, dass die Fahrzeuge weiter unten am Band zerdengelt und in die Schmelze gegeben wurden. Als er aufgebracht den Schichtleiter fragte, warum denn seine Leute so schikaniert würden wenn die Fahrzeuge gar nicht montiert würden erwiderte der Schichtleiter: "Weil ich die Macht dazu habe!"

Aha. Das erklärt echt Alles. Und ist viel relevanter als manch ausufernde Diskussion.

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Völlig schlapp
Bei meiner letzten Klettertour hatte ich ein Problem: Als mir die Beine in der Luft hingen, war ich nicht mehr in der Lage, mich mit einem Klimmzug über den Überhang zu ziehen, ein Kamerad musste mich raufziehen. Was ich da schon geahnt hatte bestätigte sich beim Fitnesstraining: Bislang hatte ich beim Hanteltraining locker 110 Kilo gerissen, jetzt mach ich bei 70 schlapp. Offensichtlich Muskelabbbau aufgrund von Trainingsmangel. Muss dringend wieder was tun.

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Wahnsinn und Verstand XII
Auf der Flucht

Trotz allem ist Britt der erste Anlaufpunkt. Sie wohnt alleine in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, Altbau, in Poppenbüttel. Erfreut, wenn auch ziemlich überrascht über den unerwarteten Besuch, der sicherheitshalber nicht telefonisch angekündigt wurde, empfängt sie die Genossen. Und nachdem sie beim Kaffee in ihrer Küche erfahren hat, worum es geht, hat sie sofort eine Idee parat. "Wenn es ums Verstecken geht, sind die Connections von Franco erste Sahne. Bei ihm selber oder seinen engsten Freunden geht es nicht, weil die Bullen offensichtlich ein Auge auf ihn geworfen haben. Aber er weiß bestimmt eine Möglichkeit."

Franco weiß. In einer WG in St.Georg findet Azad ein Unterkommen. Die Leute, die dort wohnen, sind so schrill wie fast alle Bekannten von Franco, aber polizeilich gänzlich unbekannt und auch in keiner Politszene. Es handelt sich um Miranda (die eigentlich ganz harmlos Maike heißt), Lutz und Volker. Miranda arbeitet in einer Töpferwerkstatt, ist früher einmal Fotomodell gewesen und gibt nebenbei Taekwon-Do-Kurse in einer Kampfsportschule. Entsprechend unkonventionell sieht ihr Zimmer aus, das mit fertigen und halbfertigen Krügen, Vasen und Amphoren vollgestellt ist, neben Punchingbällen, Hanteln, asiatischen Kampfstöcken und allerlei koreanischem Nippes. Lutz ist ein Bär von Mann, über und über tätowiert und sieht wie eine Kiezgestalt aus, ist aber Diplom-Sozialwirt, der eine Umschulung zum Tätowierer macht. Volker schließlich ist Comiczeichner und ein eher stiller und unauffälliger Mensch. Alle drei erscheinen Azad auf Anhieb sympathisch, wenn auch von allen etwas Fremdartiges, Bizarres ausgeht. Azad kann so lange bei ihnen wohnen, wie nötig ist. Geld wollen sie dafür keins sehen.
Die WG ist geräumig und komfortabel. Außer den Zimmern der drei Leute gibt es noch ein Wohn- und ein Gästezimmer, das Azad bezieht. Platz ist also genug vorhanden. Henning bleibt vorerst bei Britt, während Alfie bei Massoud, einem Freund von Ibrahim, unterschlüpfen kann. Der bringt auch Manfreds Wagen zurück.
Der erste Morgen in der neuen Wohnung. Ein Sonntag. Azad ist gerade aufgestanden, als er kurze, kräftige Schreie und Schläge aus Mirandas Zimmer hört. Alarmiert läuft er hin, reißt die Zimmertür auf, ohne anzuklopfen - und prallt förmlich zurück. Vor ihm steht Miranda, nackt bis auf die Unterhose, schweißüberströmt, vor einem Punchingball. "Was ist?" fragt sie ihr Gegenüber. Azad zerläuft fast vor Verlegenheit. "Äh, ich wollte nicht stören...ich hab dich gehört und dachte, hier passiert etwas...na..was Schlimmes!" "Nein, ich trainiere nur!" entgegnet sie gleichmütig und kickt mit ihrem Fuß gegen den Punchingball, daß es nur so wackelt. Fasziniert sieht Azad das Spiel ihrer durchgebildeten Muskeln - eine derartig muskulöse Frau hat er noch nie gesehen - gleichzeitig ist es ihm fürchterlich peinlich, überhaupt hinzusehen. Fluchtartig verläßt er das Zimmer.
Später, beim gemeinsamen WG-Frühstück, bringt Miranda das Ereignis schmunzelnd zur Sprache. "Also, wenn du dich schämst, meine Intimsphäre verletzt zu haben, vergiß es einfach!" meint sie. "Du bist neu hier, also kannst du nicht wissen, wie es hier zugeht. Franco hat mir schon erzählt, daß die neuen Freunde von Britt alle ein bißchen brav sind." Protest will sich in Azad regen. Die hardcore-politfighter-Szene und brav! Aber er kommt nicht zum Zuge. "Also" - Miranda beginnt die meisten ihrer Sätze mit einem ruhig-überlegenen `Also' - "wir sind hier ein etwas wilder Haufen. Wir gehen sehr offen miteinander um, und die normaloüblichen Etiketten und Berührungsängste sind hier nicht angesagt. Es kann dir passieren, daß Lutz einen Kunden zum Tätowieren da hat, dann benimm dich diskret und fall nicht weiter auf. Ansonsten sei locker. Wir fressen dich nicht, und solange du keinen Scheiß baust, will niemand wissen, woher du kommst und was du tust. Und klopf vorher an die Tür. Alles klar, Alter?!" Sie lacht ihn an, und Azad wirft sein charmantestes Grinsen zurück. Tolle Frau!

Am gleichen Nachmittag ist Ina zu Besuch, die Freundin von Volker. Sie wirkt weit weniger locker als die WG, eher klassisch-moralisch-PC-mäßig, wie Azad aus seiner heimischen Szene nur Allzuviele kennt. Heimisch! - dabei ist seine Heimat ganz woanders. Mit einem Mal erscheint ihm diese streckenweise durchgeknallte Studiszene, in die er sich nie so richtig integrieren konnte, fast als sein Millieu. Zu fremd ist ihm diese WG in Hamburg St.Georg, deren Räumlichkeiten er sicherheitshalber nicht verläßt.
Und im späterem Verlauf des Abends, nach einigen Joints, vertraut er sich Ina an und erzählt ihr unter vier Augen von der Hausbesetzung und warum er hier ist. Er berichtet ihr auch von der morgendlichen Begegnung mit Miranda und davon, daß ihm das Ganze immer noch hochnotpeinlich ist. Ein verhängnisvoller Fehler.
Szenenwechsel. Wir sind in Alfies WG, eine Woche später. Für Alfie, Heike und Kalle sind Vorladungen von der Bullei gekommen, für die sich der Papierkorb als einzig angemessener Platz erwies. Kunze-Schröder macht plötzlich die Wilde. Nachdem sie offensichtlich von der Polizei die Adresse der WG erhalten hat, hat sie die Leute angeschrieben und wegen "baulicher Veränderungen" Schadensersatz zu dem Phantasiepreis von 17.000 Mark verlangt. Es soll beratschlagt werden, was zu tun ist. Außer der WG sind Herbert, Dorit, Ines und Curt anwesend. Und die Ex-Freundin von Curt, Ina, wegen eines früheren Jobs auf einer Baumwollfarm in den USA Cotton-Ina genannt. Ina lebt eigentlich in Hamburg, war aber plötzlich, nachdem sie über ein Jahr nichts von sich hatte hören lassen, bei Curt aufgetaucht und hatte ihm von ihrer Begegnung mit Azad berichtet. Kurz entschlossen hatte Curt sie zu dem Treffen mitgenommen.
"Also, es ist ja wohl arschklar, daß wir auf nichts reagieren werden!" erklärt die wie üblich in solchen Situationen wortführende Heike. "Solange wir keine Anklageschrift haben oder eine Vorladung vor den Ermittlungsrichter, können die Bullen uns sonstwo. Kunze-Schröder hat ein Rad ab. Mal unabhängig von der absurden Höhe ihrer Forderungen, kann sie nur dann gegen uns vorgehen, wenn wir rechtmäßig wegen der Hausbesetzung verknackt sind, über ein anschließendes Zivilverfahren. Das dauert. Wir haben also viel Zeit."
"Problematischer ist die Rock-Geschichte und vor allem die Sache mit Azad." wirft Kalle ein.
Das ist das Stichwort für Cotton-Ina. "Für Azad würde ich keinen Finger krümmen." schaltet sie sich ein. "Das ist ein Sexistenarsch." "Wie bitte?" blankes Entsetzen und völliges Unverständnis in den Gesichtern der Anderen.
Heike poltert los. "Was erzählst'n da für eine Scheiße? Der ist ein alter und sehr guter Freund von mir, den ich kenne wie meine Westentasche. Ständig bekomme ich mit, daß Leute auf ihm rumhacken. Letztlich, weil er kein Deutscher ist. Und irgend einen besonderen arabischen Machismo findest du bei ihm jedenfalls nicht."
"Vielleicht nicht in dieser Stadt, wo er unter euren Augen ist." erwidert Ina bedächtig. "Aber in Hamburg hat er eine Frau sexuell belästigt. In der WG, wo er untergetaucht ist. Er hat's mir selber erzählt und war stolz darauf. Die Frau ist völlig eingeschüchtert und bringt kein Wort heraus."
Die Reaktionen sind ebenso unterschiedlich wie bezeichnend.
Dorit entfährt: "So ein Schwein!", Herbert: "Der braucht was auf die Fresse!", während Heike wortlos den Kopf schüttelt und der Rest nichts sagt, sondern erstmal nachdenkt. Nach einigen Minuten beklommenen Schweigens ergreift Ines das Wort. "Also, ich finde, wir sollten das so nicht stehen lassen." meint sie. "Ehe ich die betroffene Frau und Azad nicht gehört habe, verändert sich für mich nichts." "Verstehst du nicht?!" fuchtet Ina los. "Die Frau kann nicht darüber reden! Sie ist viel zu eingeschüchtert!" "Woher weißt du es denn?" "Habe ich schon gesagt, Azad hat es mir selbst erzählt. Und ich habe das Gesicht der Frau gesehen. Die ist fertig mit der Welt." "Ich kenne dich nicht." mischt sich Heike ein. "Ohne mit den Betroffenen gesprochen zu haben, fälle ich kein Urteil, da schließ'
ich mich Ines an. Es muß also jemand von uns nach Hamburg und die Sache klären." Und da bekommt Ina plötzlich weiche Knie. Sie weigert sich jedenfalls konsequent, "diesem Schwein" nochmal gegenüber zu treten. So sind es Heike, Kalle und Curt, die am folgenden Wochenende mit dem Zug nach Hamburg fahren. Unterwegs erzählt Curt ein paar Sachen über Ina, die kein so gutes Licht auf die Frau werfen. "Also, in unserer Beziehung hat es so ein paar Punkte gegeben, wo ich mich fragte, spinne ich jetzt oder sie.
Ständig mußte ich mich für irgendetwas schuldig fühlen, sie sagte mir aber nie, warum. Stattdessen hieß es immer: `Wenn du das nicht selber weißt, kann ich dir auch nicht helfen.'
Die Frau ist so moralisch, wie kein anderer Mensch, den ich je gekannt habe. Aber moralisch nicht so Jeanne D'Arc-mäßig, ehrlich, aufrichtig, kämpferisch, sondern auf 'ne verquere Art. Alle Welt ist böse und schuldig und weiß es selber nicht - anders kann ich es nicht ausdrücken." "Etwas konfus!" bemerkt Heike sachlich. "Du hast sie nicht erlebt." entgegnet Curt. "Ich müßte sehr ins Detail gehen, um es näher zu erklären. Die Frau ist gleichzeitig moralisch und tückisch. Sie hat mir zum Beispiel von dieser ganzen Azad-Geschichte erstmal gar nichts erzählt, sondern nur, daß sie ihn in seiner Unterschlupf-WG kennengelernt und die Geschichte gehört hat, warum er da ist. Deswegen wollte sie mit zu unserem Treffen." "Um kalt berechnend die Bombe platzen zu lassen!" ergänzt Kalle. "Scheint so!" "Nevertheless," beendet Heike vorerst die Debatte, "ich will die Frau hören, ich will Azad hören, und dann sehen wir weiter. Vorher maße ich mir kein Urteil an."
Nachdem Britt die drei mit Azad und Miranda zusammengebracht hat und sie die Ina-Story erzählt haben, gibt es ein großes Hallo. Miranda lacht sich kaputt.
Verschüchtert und fertig wirkt sie wirklich nicht, eher gut aufgelegt und extrem selbstbewußt.
"Also, das war völlig anders." erklärt sie spöttisch. "Ich habe in meinem Zimmer am Punchingball Taekwondo-Tritte trainiert, und die Geräuschkulisse alarmierte Azad." Ich dachte, in ihrem Zimmer geht ein Kampf ab." setzt dieser hinzu. "Deshalb stürzte er herein, ohne anzuklopfen, sah, daß ich fast nackt war, starrte mich verdutzt an, schaute aber wohl auch ganz gerne hin und verließ dann fluchtartig mein Zimmer, um meine Intimsphäre nicht weiter zu stören." "Und das Ganze war mir unheimlich peinlich." ergänzt wieder Azad. "Diese Begebenheit habe ich am nächsten Abend Ina erzählt." "Und wohl Einiges mehr." setzt Kalle sachlich hinzu. "Sie weiß alles über deine Flucht und die Vorgeschichte." "Stimmt."
"Das war ein schwerer Fehler." stellt Curt fest. "Ich war mal mit der Frau zusammen und kenne sie sehr gut. Sie hat ein loses Mundwerk und ist mit Sexismus-Vorwürfen immer schnell bei der Hand. Außerdem kann sie Situationen und Stimmungen schlecht beurteilen. Anders ausgedrückt: Die ist ein lebendes Pulverfaß."
"Dann ist es das Beste, wir machen eine Ausnahme von der Regel, nicht zu Hause anzurufen." wirft Heike ein. "Wir sollten schnell eine Entwarnung durchgeben, ehe da eine furchtbare Spackenaktion vom Zaun gebrochen wird. Ich hab's im Urin, daß was im Busche ist."
Heikes Intuition bestätigt sich.
Als sie bei Ines anruft, hat sie statt ihrer Ibrahim am Apparat. "Hör zu," erklärt sie kurz angebunden, um keine unnötigen Informationen rauszulassen. "Wir sind in Hamburg und haben die Belästigungs-Angelegenheit abgeklärt. Da ist nichts dran. Ein harmloses Mißverständnis. Sag bitte allen Bescheid, daß die Story nicht stimmt und hier alles bestens läuft!" "Dafür ist es zu spät!" gibt Ibrahim zurück. "Ina hat zusammen mit Herbert und Dorit eine Art Steckbrief gebastelt, wenn auch ohne Bild. Die fordern dazu auf, den Mann nicht zu unterstützen, weil er ein Vergewaltiger wäre. Über seinen Aufenthaltsort steht zum Glück nichts drin." "Was?! Sind die wahnsinnig? Wie kommen die Spinner dazu?" Heike verliert die Nerven. Sind die denn gänzlich übergeschnappt? "Ich habe versucht, sie zu hindern." antwortet Ibrahim hilflos. "Da mußte ich mir was von arabischer Macker-Solidarität anhören. Die plakatieren das Ding in mehreren Kneipen." "Das ist doch nicht zu glauben!" wütet Heike. "Sind die von allen guten Geistern verlassen? Diese Spackenpäpste! Wir kommen sofort zurück und stellen das richtig! Und sag denen schon mal, daß sie sich auf einen ziemlichen Einlauf gefaßt machen können! Ist das klar?" "Klar." erwidert Ibrahim matt. "Nun denn. Wir rollen an."
Auf der Rückfahrt sind Britt und Miranda mit dabei. Miranda hatte auch Volker aufgefordert, mitzukommen, doch der will eine solche Konfrontation mit seiner Freundin nicht haben.
Curt ist deswegen auch etwas klamm zumute, aber er hat die Absicht, diese Sache auszutragen. Zu lange hat er sich vor Inas überzogenem Moralismus versteckt.
Auf der Fahrt bringen sie sich gegenseitig in Rage.
"Jetzt gehören endlich mal ne ganze Menge Sachen aufgearbeitet, die in unserer Szene rumspuken." meint Heike. "Dieser verlogene Antisexismus von Männern wie Herbert, die privat die größten Machos sind, und sich nach außen als Antipat-Helden gebärden, ebenso wie die dumpfe Klischeedrescherei von Dorit. Versteht mich recht: das sind nicht nur die, das ist eine ganze Struktur, die dahintersteht." "Nur zu oft selbst erlebt." bekräftigt Britt. "Ich weiß, warum ich in Szenestrukturen nur noch teilweise verkehre. Es könnte so vieles gut laufen, wenn es diese Pseudomoralfraktion nicht gäbe. Und wenn wirklich harte Sachen passieren, wo sich Intervention lohnt, verkrümeln sie sich. Alles mit den Huren erlebt." "Das ist nicht die Szene, das ist Ina." wirft Curt ein. "Ich kenne sie gut genug. Die hat ganz persönlich 'nen Schatten. Das Dumme ist, daß du es nicht so schnell merkst." "Im Zweifelsfall kriegt sie von mir was aufs Maul." äußert sich Miranda. "Dann kann sie mal über den Unterschied zwischen Opfer und Täterin meditieren!"
Als sie "Spackentown", wie Heike die Stadt auf der wutentbrannten Heimfahrt getauft hat, eintreffen, düsen sie sofort in die zentrale Szenekneipe, die Operngrotte. Prompt werden sie fündig: Der Steckbrief prangt neben dem Eingang. Britt reißt ihn kurzentschlossen ab. Es mag eine jener absoluten Unwahrscheinlichkeiten sein, die das Leben so richtig spannend machen, aber in diesem Augenblick kommt Dorit aus dem Schankraum.
"Was macht ihr da für eine Scheiße?" schreit Heike sie an. "Hat euch wer ins Gehirn geschissen? Azad ist völlig unschuldig!" Dorit ist total überrumpelt. Hilflos starrt sie Heike an. "Ich bin die Frau, um die es geht." sagt Miranda ruhig und gefaßt. "Azad hat mich nicht belästigt. Das Ganze ist entweder ein Mißverständnis oder eine Intrige."
Dorit braucht einen Augenblick, um die Situation zu checken. Dann meint sie: "Besprecht das mit Ina. Die hat die ganze Aktion vom Zaun gebrochen. Sie sitzt drinnen."
"Laßt sie mir!" entscheidet Miranda und geht rein. Ina sitzt mit Herbert und ASTA-Jörg am Tisch und kehrt Miranda den Rücken zu. Diese schleicht sich heran, baut sich hinter ihr auf und sagt mit schneidender Schärfe: "Hier ist die, die so verschüchtert ist, daß sie kein Wort mehr rausbringt!" Ina dreht sich um und starrt Miranda an, als ob sie ein drittes Auge auf der Stirn hätte. "Ich zitierte dich wörtlich. Lügen haben kurze Beine." fährt Miranda so laut fort, daß alle Leute an den Nebentischen sie trotz der Kneipenmusik hören können. "Also, für alle zum Mitschreiben: Azad hat mich weder sexuell noch sonstwie belästigt und du hast ein Rad ab!"
Ina steht langsam auf und macht ihren falschesten Fehler. "Ich weiß nicht, wer du bist!" ruft sie ebenso laut. "Ach nee? Aber den Volker, den kennst du wohl noch?! Ich hielt es bis eben immer noch für möglich, daß da ein Mißverständnis vorliegen könnte, aber das scheint nicht der Fall zu sein. Gut, dann gehen wir mal raus und regeln das unter Frauen. Ich meine damit: unter vier Fäusten!"
Eine absurde Szene: Eine Frau, groß, kräftig gebaut, kurze, schwarze Haare, in für diese Szene-Kneipe zu eleganter Kleidung, steht in aggressiver Haltung, die Hände wie bei einer Western-Showdown-Szene in die Hüften gelegt, vor einer etwas dicklichen, wesentlich kleineren Frau mit langen, rot gefärbten Haaren in abgewetzter Jeanskluft. Die ganze Kneipe blickt auf die beiden. Im Eingang stehen Britt, Kalle, Curt, Heike und Dorit, die die ganze Szene neugierig beobachten. Patrick, der Thekenmann, fragt laut in den Raum "Noch'n Bier?", was völlig unpassend kommt.

Ina geht langsam zurück. "Laß mich in Ruhe!" ruft sie. "Ich habe dir nichts getan!" "Kommt dir in den Kopf, daß du wem anderem sehr viel angetan hast?" brüllt Miranda zurück. "Und mich als Opfer einer Vergewaltigung zu bezeichnen, wie ihr mittlerweile in eurem Schwachsinnsschrieb behauptet - dafür brauchste was auf die Fresse!" Ina versucht, die Kneipe zu verlassen, wird aber von Britt und Co zurückgehalten.
"Okay!" faucht sie, den Tränen nahe. "Ich gebe zu, daß ich Scheiße gebaut habe. Aber ich bitte euch, laßt uns drüber reden." "Hier gibts nicht mehr viel zu reden." erwidert Miranda eisig. Jetzt interveniert Heike. "Leute, bitte alle etwas mehr Sensibilität!" wirft sie ein. "Gehen wir an einen ruhigen Ort und besprechen das. Vorher müssen wir diese blödsinnigen Steckbriefe entfernen. Wo überall habt ihr sie aufgehängt?"
Dorit und Ina sagen es ihnen. Gemeinsam ziehen sie los und reißen sie überall ab. In der Kneipe kocht an diesem Abend die Gerüchteküche wie ein Geysir.
Zwei Stunden später sind sie in der WG von Kalle, Heike, Henning und Alfie versammelt. Herbert, den Dorit telefonisch verständigt hat, ist auch dabei.
Die beiden sind sichtlich bestürzt und genau so wütend auf Ina wie der Rest. Immerhin haben sie die Aktion guten Glaubens mitgemacht. "Also, dann pack mal aus!" fordert Miranda sie auf. Ina zittert am ganzen Leib und ist am Stottern. "Ich,...ich...äh, ich habe ernsthaft geglaubt, daß...daß...daß das alles so war!" "Wie, so war?" "Na, wie ich's erzählt habe!" "Und woher kommt dann der Scheiß, daß ich völlig eingeschüchtert wäre?" fragt Miranda zurück.
"Ich hab's mir zusammengereimt. Da war dieser Abend. Ich war schon etwas angehauen, weil ich gekifft hatte. Und da habe ich Azads Erzählung so interpretiert, daß er dich massiv sexuell belästigt hätte. Anders konnte ich mir nicht erklären, wieso ihm das Ganze so furchtbar peinlich war." "Du lügst immer weiter!" kommt es jetzt ausgerechnet von Dorit. "Uns hast du erzählt, er wäre stolz drauf!" "Ja, um euch zu motivieren, etwas zu tun! Ohne ein Feindbild macht doch niemand eine Aktion." "Also, das ist schlicht und einfach schäbig!" stellt Miranda richtigerweise fest. "Und ich will genau von dir wissen, warum du mich für verschüchtert hieltest." "Diese Fighter-Frau kann es scheint's nicht verknusen, als unstraight wahrgenommen zu werden!" schießt es Heike durch den Kopf. Ein schneller Blick zu Britt. Die scheint das Gleiche zu denken, denn sie verdreht die Augen und schaut kurz in die Runde, mit einem Gesichtsausdruck wie: "Muß das jetzt sein?"
"Du hast nichts davon gesagt." erklärt Ina. "Eben!" "Laß mich doch mal ausreden! Du warst an dem Abend da und hast dich ganz normal benommen. Daraus schloß ich, daß du die ganze Geschichte verdrängt hättest. Wie die meisten Mißbrauchsopfer, die nicht in der Lage sind, über das zu reden, was ihnen angetan wurde." "Mein Gott! Du hättest mich fragen können. Stattdessen setzt du Gerüchte in die Welt." "Es tut mir leid!" erwidert Ina, und diesmal rinnen ihr tatsächlich Tränen übers Gesicht.
"Hört zu," sagt sie nach einer allgemeinen Pause, ich bringe das in Ordnung, soweit es noch geht."
"Und was hast du vor?" fragt Britt in fast versöhnlichem Tonfall. "Ich muß mich ja wohl jetzt selber outen." erklärt Ina traurig. "Ich werde einen Gegenbrief verfassen, den ich überall da aushänge, wo wir den Steckbrief plakatiert haben. Ich bin bereit, die Gegendarstellung namentlich zu unterzeichnen. Und dann verschwinde ich nach Hamburg. Ich werde eure Kreise nie wieder stören."
Die Runde reagiert etwas überrascht und ist erstmal sprachlos. "Das ist alles, was man verlangen kann." meint dann Miranda.
Ina hält Wort. Am nächsten Abend wirbelt sie herum und verklebt überall eine namentlich unterzeichnete Erklärung, in der sie die ganze Angelegenheit als "Mißverständnis" und "Überreaktion" bezeichnet und sich bei allen Beteiligten entschuldigt. Einen Tag später verschwindet sie nach Hamburg, wie auch Miranda, Heike und Curt, die sorgsam darauf geachtet haben, mit einem anderen Zug zu fahren.

Am nächsten Abend findet in Mirandas WG eine erneute Besprechung statt.
"Nach allem, was vorgefallen ist, halte ich dieses Versteck, oder überhaupt Hamburg, nicht mehr für sicher." eröffnet Heike. "Azad, kennst du eine Alternative?" "Leider nicht." erwidert dieser. Er wirkt nervös, sogar zittrig. "Fest steht, daß ich mich nicht stellen werde." "Wie wäre es mit einem mittelfristigen Abstecher ins Ausland?" schlägt Alfie vor. "Ich habe einen Freund in London. Wir könnten mit der Fähre rüber, und Azad kann dort vielleicht ein paar Wochen oder Monate unterschlüpfen." "Ich weiß nicht." zweifelt Britt. "Das ist sehr aufwendig. Wir müßten erst falsche Papiere besorgen. Kann Franco natürlich, aber so wat dauert..." "Und wenn wir's auf die billige Tour machen?" antwortet Alfie. "Ich besorg' mir einen unauffälligen Wagen mit großem Kofferraum, verzichte auf das bequeme Schiff von hier aus, fahre stattdessen nach Calais und setze dort über. An den Grenzen und bei der Überfahrt geht Azad hinten auf Tauchstation. Ungemütlich und riskant, kann aber klappen."
Nach eineinhalbstündiger Diskussion, in der die Fürs und Widers erwogen und verschiedene alternative Ideen gewälzt werden, ist Alfies Vorschlag beschlossene Sache. Ein geeignetes Auto wird zwei Tage später beschafft. Es handelt sich um einen älteren Mercedes-Diesel, der Massouds Cousine gehört.
Die Fahrt verläuft ohne Zwischenfälle. Falls die Bullen Alfie auf dem Schirm haben, reicht es zumindest für eine Durchgabe an den BGS oder gar Interpol nicht aus. Selbst die Überfahrt mit dem Hovercraft verläuft problemlos.
Die größte Schwierigkeit während der gesamten Reise stellt tatsächlich der britische Linksverkehr und insbesondere das unsägliche Chaos in der Londoner Innenstadt dar; vor allem, weil Alfies Freund Ocko, oder Phänotypus, wie sein Spitzname lautet, so zentral wohnt, wie irgend denkbar: mitten in Soho.
In einer Seitenstraße der Wardour Street ist seine Wohnung. Alfie hatte seine Ankunft telefonisch angekündigt, sicherheitshalber von einem öffentlichen Apparat, aber wohlweislich vermieden, zu erwähnen, warum er Phänotypus besuchen will und daß er nicht allein kommt.
Phänotypus ist gebürtiger Holländer, lebt aber seit etlichen Jahren in London. Als gelernter Grafiker finanziert er sich hauptsächlich über das Entwerfen von Logos für Polit- und Menschenrechtsgruppen, das Erstellen von Computersimulationen zur Darstellung sozialer Entwicklungen und die Produktion von Plakatvorlagen. Daneben ist er noch zu spezielleren Sachen befähigt. Direkter gesprochen, ist er ein Fälscher für alles, was gebraucht wird. Er empfängt Azad und Alfie herzlich, wie immer verschmitzt grinsend und mit einer großen Kanne Phänotypus-Spezial-Kaffee, Cappucino mit Salz und Kandis am Start.
Azads Geschichte ist schnell erzählt. Phänotypus hat keine Probleme damit, ihn für ein paar Wochen zu beherbergen. Außerdem fallen ihm auf Anhieb sehr hilfreiche Dinge ein. "Ich kann dir einen englischen Paß machen, wenn du willst." schlägt er vor. "Kein Problem. Aber was mich viel mehr interessiert: Warum sind sie wirklich hinter dir her?"
Azad ist etwas baff. "Was heißt das? Ich habe keine Ahnung!" "Echt nicht? Also, ich habe hier meine Kontakte zu linken Widerstandskreisen aus verschiedenen nordafrikanischen Ländern. Und ich weiß, daß es so eine Art Todesliste - nein, sagen wir besser - Fangliste des marokkanischen Geheimdienstes gibt. Die suchen vor allem Leute, die die Polisario mit Waffen beliefern." Azad kaut angestrengt an seinen Nägeln, dann entfährt es ihm: "Natürlich! Atif Ben Badir!" "Wer?" fragt Alfie verblüfft, während Phänotypus zustimmend nickt. "Das ist ein ganz omimeser Typ!" "Ominöser!" verbessert Alfie überflüssigerweise. Manchmal kann er das akademen und Deutschsein nicht lassen. Azad fährt unbeirrt fort. "Ein Waffenhändler, der die Polisario über viele Jahre illegal beliefert hat. Soll angeblich in Deutschland unter falschem Namen leben. Es gibt ein Auslieferungsersuchen von Marokko gegen ihn." "Du denkst an eine einfache Namensverwechslung?" fragt Alfie erstaunt. "Geheimdienste sind nicht immer schlau." antwortet Phänotypus an Azads Stelle. "Die gucken erstmal in den Computer. Gut möglich, sowas." "Azad Sadir, Atif Ben Badir... als Tarnname taugt der Unterschied nicht, aber ne Verwechslung wäre möglich." sinnt Alfie. "Dann müßten die aber ziemlich blöd sein!" "So blöd auch wieder nicht!" erwidert Azad. "In irgendeiner Westsahara-Widerstandsdatei bin ich ja wohl ohnehin drin!"
"Wir müßten also ziemlich genaue Informationen zusammentragen, um zu erfahren, was in punkto Westsahara-Waffenhandel und deutsch-marokkanische Kooperation im Augenblick so läuft." folgert Phänotypus. "Auf der Grundlage läßt sich dann vielleicht Azads Unschuld beweisen, ohne denen einen Tip in Richtung Ben Badir zu geben." "Klingt erstmal sehr abstrakt und theoretisch." meint Alfie. "Trotzdem ein gutes Vorhaben. 'Müssen uns überlegen, wie wir das umsetzen."
"Mal was anderes!" meint Phänotypus mit lustigem Augenzwinkern. "Wir sind in Soho, dem spannendsten Stadtviertel Europas! Laßt uns auf Tour gehen! Alfie, wie lange hast du Zeit?" "In zwei Wochen beginnt mein Semester." antwortet dieser. "Ich muß langsam mal Examen machen - klingt dumm bei all den Ereignissen, ist aber so.
Das heißt, ich werde übermorgen zurückfahren. Aber für einen Zug durch Soho bin ich immer zu haben!" "Alles klar." entgegnet Phänotypus und wendet sich an Azad. "Nun zu dir. Hast du Geld?" Azad ist etwas irritiert. Mit der Frage hätte er nicht gerechnet, und der Tonfall von Phänotypus ist teilweise etwas rauh und abrupt. "Ich...weiß nicht, was die Frage soll." antwortet er daher vorsichtig. "Na, ganz, einfach. Du kannst, wie ich schon gesagt habe, für'n paar Wochen bei mir wohnen. Aber ich würd's schon okay finden, wenn du dein Essen selber bezahlst und mir für den englischen Paß eine kleine Aufwandsentschädigung gibst. Sagen wir, fünfzig Pfund." Azad lächelt zurück. "Kein Problem, mein Freund! Soviel hab' ich dabei."
"Gut. Dann laßt uns losgehen, in die Stadt! Soho erwartet uns."
Soho ist so faszinierend, wie ein Stadtteil nur sein kann. Rund um den Bereich Piccadilly-Circus/Leicester Square stoßen mehrere Stadtviertel zusammen, die eigentlich nicht so sehr viel miteinander zu tun haben, aber eine heiße Mischung abgeben. Da ist zum einen Chinatown, das einzige zusammenhängende genuin chinesische Stadtviertel Europas, und direkt daneben ein Rotlichtbezirk, der nach Frankfurter oder gar Hamburger Maßstäben erstens klein und zweitens etwas provinziell, fast brav wirkt, dafür aber seine wirklich dunklen Ecken hat. Beides grenzt wiederum an Theatreland, wo Schauspielhäuser, Opernbühnen und luxuriöse Kinopaläste, alles in bombastischem Neoklassizismus, so dicht gestreut sind, wie gleich nebenan, in der Kneipenmeile von Covent Garden, die Pubs. Es herrscht ein Menschengewimmel wie beim Sommerschlußverkauf, und jede zweite Person, die herumläuft, ist außereuropäischer Herkunft. Afghanen in Turban und besticktem Jutemantel, Schwarzafrikaner, Malayinnen, Chinesen, ein Ghurka im grünen Dschungeldress, ernste, würdevolle Inder im Maßanzug, zerlumpte JamaicanerInnen im Raggamuffin-Outfit, das ganze Commonwealth auf wenigen Quadratkilometern.
Es stimmt; hier fällt Azad niemandem auf, geht unter in einer babylonischen, millionengesichtigen Masse.
"Das müßt ihr erst mal nachts sehen!" ruft Phänotypus gutgelaunt. "Dann wird es hier wirklich spannend. Aber laßt uns etwas essen, und danach schauen wir uns Speaker's Corner an."
Gegessen wird in einem Deep-Pan-Restaurant, ganz brav Pizza mit grünem Salat, bevor es mit der Subway weiter Richtung Hide-Park geht.
An Speaker's Corner ist Einiges los. Ein halbes Dutzend Redner und Rednerinnen wetteifert um die Aufmerksamkeit des Publikums mit Beiträgen zu politischen, religiösen und sozialen Themen, die Bandbreite schwankt zwischen "brilliant" und "durchgeknallt". Der Tonfall zwischen den Vortragenden und dem sich heftig beteiligenden Publikum ist rauh und sarkastisch. "Where you' re going?" fragt beispielsweise einer der Redner, als sein bisheriger Hauptkontrahent unter den Zuhörenden sich plötzlich abrupt abwendet. "To call your ambulance!" entgegnet dieser heftig. "You have to be knocked down!" Natürlich ist das alles Show, die Spielregeln stehen fest, und das Amüsement ist auf allen Seiten. Azad, der nur arabisch, französisch und deutsch versteht, läßt sich von Phänotypus und Alfie übersetzen. Er amüsiert sich köstlich.
Von speaker's corner aus bummeln sie durch den Hide Park, durch Knightsbridge und Chelsea und fahren am frühen Abend zurück nach Soho. Nach einem tibetanischen Abendessen in Chinatown geht es zum Saufen in die Nähe von Covent Garden.
Am Schluß steht für Alfie wie für Azad fest, daß es einer der großartigsten Abende der letzten Zeit war. Azad, das zweite Mal in seinem Leben auf der Flucht und im Exil, hatte bis jetzt unter einer bis an die Grenze zum körperlichen Schmerz stehenden Anspannung gestanden. Nun erst wird er wieder locker. Der Streß von Wochen ebbt ab. Und in seinem Fall läßt sich wohl wirklich sagen, daß er sich heute sinnvoll besäuft.
Wie er angekündigt hat, fährt Alfie am übernächsten Morgen zurück.
Die lange, einsame Fahrt nimmt ihn mit. Kurz vor Oldenburg bekommt er einen Kreislaufkasper; die Straße verschwimmt vor seinen Augen, er hat das Gefühl, in rasender Geschwindigkeit ständig blinzeln zu müssen, und die Autobahngeräusche scheinen Lichtjahre entfernt zu sein. Für einen Moment ist Alfie von akuter Todesangst erfüllt; dann schafft er es, sich abzufangen und soweit die Beherrschung zu behalten, daß er es bis zu einem wenige Hundert Meter entfernten Parkplatz schafft. Völlige Übermüdung. Erst mal ein Müsliriegel, ein Isostar und ein kurzer Spaziergang, dann geht es wieder weiter. Nach insgesamt mehr als zwölfstündiger Fahrt kommt er restlos erschöpft in Hamburg an. Zu einem Gespräch mit Massoud, der wissen möchte, wie es gewesen ist, fühlt er sich nicht mehr in der Lage. "Alles morgen!" murmelt er schwach.
Am nächsten Tag erstattet er gleich der ganzen Bagage Bericht, die sich bei Franco trifft.
Bei der Ben-Badir-story arbeitet es im Gesicht des Gastgebers. "Das müßte sich rausfinden lassen." wirft er ein. "In die Waffendealerkreise habe ich lange Drähte. Ich kann nicht sagen, ob ich an Ben Badir herankomme, aber zumindest Infos über ihn werden sich beschaffen lassen."
"Traumhaft!" erwidert Alfie beeindruckt. Er weiß nicht so sehr viel über Franco und seine Verbindungen, so daß ihn dessen Reaktion erstaunt. "Franco, unser Mann bei der Mafia!" ruft Miranda lachend in den Raum. Franco grummelt etwas unwillig, Britt und Henning feixen zurück.
Am folgenden Morgen fahren Alfie und Curt nach Hause zurück. Auf Alfies Schreibtisch wartet eine Vorladung vor den Ermittlungsrichter wegen der Hausbesetzung.
Szenenwechsel. Wir befinden uns im Hohenbuchenpark in Hamburg-Poppenbüttel. Es ist einer der letzten warmen Septemberabende. Vor etwa einer viertel Stunde ist ein leichter Sprühregen gefallen, und über der jenseits der Alster, die hier ein schmales Flüsschen ist, untergehenden Sonne ist ein feiner Regenbogen zu sehen. Das nur noch schwache Licht läßt ihn zerfasert und unvollständig erscheinen. Ein lauer und stiller Abend in einem kleinen, im Augenblick wenig frequentierten Park. Die richtige Stimmung für Liebespaare.
Britt und Henning stehen engumschlungen am Rand eines der links der Alster gelegenen Teiche und betrachten den Sonnenuntergang, genießen die romantische Athmosphäre. Britts Kopf liegt auf Hennings Schulter, er streichelt ihr sanft übers Haar. Sie dreht ihr Gesicht langsam um und küßt ihn. "Ich hätte Lust, es hier draußen zu machen!" flüstert sie. "Wie?" Henning ist etwas irritiert. "Das ist doch viel zu naß!" Sie lächelt. "Wir müssen nicht." erwidert sie sanft. Und küßt ihn nochmal.
In diesem Augenblick werden sie durch ein sehr vernehmliches Räuspern aus unmittelbarer Nähe gestört. Als sie sich umwenden, steht da in wenigen Metern Abstand ein mittelgroßer, etwas korpulenter Mittvierziger mit graumeliertem Haar und Schnauzbart, Maßanzug vom Teuersten. "Ich hätte nicht gedacht, sie hier zu treffen, Frau Maschnik!" versetzt er mit dröhnendem Baß. "Brückner!" faucht Britt zurück, angespannt wie ein Raubtier. Ihr Gesicht ist kreidebleich. "Was haben sie hier zu suchen? Schnüffeln sie mir nach?" "Nana, ein solch halbseidenes Früchtchen wie sie hat wenig Grund, rechtschaffenen Bürgern Vorhaltungen zu machen." entgegnet er überheblich. "Aber es trifft sich gut, daß wir uns gerade jetzt begegnen. Ich möchte ihnen ein Geschäft zum beiderseitigem Vorteil vorschlagen. Hier ist wohl weder Ort noch Zeit dazu. Ich lasse ihnen in ein paar Tagen eine Nachricht zukommen. Haben sie keine Angst. Sie können von dem Deal sehr profitieren - und was noch viel wichtiger ist, ein ausländischer Mitbürger, der in der Klemme ist, auch. Ansonsten wünsche ich ihnen noch viel Vergnügen mit dem Kunden da! Oder ist das ihr Freund?" Süffisant grinsend, macht er sich von dannen.

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