Freitag, 2. Juli 2021
Wie alles anfing. Vom Ursprung linker Szene-Moral und destruktiver Selbstzerknirschungsdiskurse
Anknüpfend an diesen Thread bei Bersarin
https://bersarin.wordpress.com/2021/06/28/die-tonspur-zu-wiglaf-drostes-60-geburtstag-nachtraglich/#comment-20580

den mein Thema bei weitem sprengen würde möchte ich nachzeichnen, wie das repressiv-moralinsaure Klima, das heute weit über explizit linke Milieus hinaus die sogenannte liberale Öffentlichkeit prägt einmal entstanden ist - bzw. den Anteil, den ich aus eigenem Erleben kenne.

Die heutigen sozialen Medien sind so, als ob man eine der damaligen Plenumsdiskussionen, die aus gutem Grund in geschlossenen handverlesenen Runden stattfanden, life mitschneiden und ins Internet stellen würde. Was es aber gab waren Szenezeitschriften, die, mal in Magazinstärke, mal Faltblätter, mal in großer Auflage gedruckt, mal hektografiert, den Diskurs vorantrieben. Das war nicht der Diskurs der Aktionsbündnisse oder langfristiger Arbeitsgruppen oder akademischer Zirkel, die Zeitschriften wie Materialien für einen neuen Antiimperialismus, Wildcat, Grundrisse oder Prokla (=Probleme des Klassenkampfes) hervorbrachten, sondern die Vulgärform. Pflasterstrand, zitty, radikal, Interim, Tüte (steht, glaube ich, für Tübinger Telegramm), Göttinger Drucksache, Das Nestbeschmutz (letzteres hatte auch eine sehr elaborierte situationistische Phase).


An zwei Themensträngen wird die extreme Moralisierung linker Lebenswelten sichtbar, nämlich Sexismus und Antisemitismus.

Die Sexismusdebatte speiste sich ursprünglich aus zwei völlig unterschiedlichen Bereichen, einmal der Ende der Achtziger von der Emma betriebenen Anti-Porno-Kampagne und einmal dem Bekanntwerden von Vergewaltigungen in linken Szenezusammenhängen. Nirgendwo vollzog sich die Entwicklung von der Tragödie zur Farce so schnell wie hier. Nachdem seit 1986 in der Zeitschrift Atom Express es Kritiken am Macho-Poser-Verhalten autonomer Männer am Wackersdorfer Bauzaun gegeben hatte, traf das Vergewaltigungsthema auf ein vorbereitetes Publikum.

Die Fälle von Vergewaltigungen die 1987 bekannt wurden bezogen sich auf eine der radikalsten Fraktionen der Berliner autonomen Szene. Im Mittelpunkt standen Männer, die in einer besetzten früheren Fabrik Kampfsport trainierten und den härtesten Kern des Schwarzen Blocks bildeten. Mit Vierkanthölzern und Stahlhelmen ausgerüstet hielten sie auch Elitetruppen der Polizei wie der ELBT stand. Im Gegensatz zu Städten wie Hamburg, Bremen oder Göttingen, wo auch solche Kreise immer noch an eine studentisch geprägte und intellektuelle autonome Szene angebunden waren, waren diese Leute eher eine Zwischenstufe aus Autonomen und Kleinkriminellen. Einige der Kampfsportler boten auch Dealern oder Zuhältern ihre Dienste als bezahlte Schläger an. Dass aus solchem Milieu heraus Vergewaltigungen begangen wurden muss nicht weiter verwundern. Umso verwunderlicher ist die Entwicklung, die dann einsetzte.


Innerhalb kurzer Zeit verbreiteten sich über Szenemedien bundesweit Outings von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen, die eine allgemeine Sexismusdebatte in Gang setzten. So berechtigt dies am Anfang und im Grunde war, es eskalierte sehr schnell. Bis 1990 war das so weit, dass eine westdeutsche Stadt nach der anderen - bzw. die jeweilige linksradikale Szene dort - ihre Outings von Sexisten meldete, als sei das eine Kampagne oder ein Wettbewerb. Die an sich berechtigte Position, dass die Definitionsmacht darüber was eine Vergewaltigung sei stets beim Opfer zu liegen habe wurde dahingehend inflationiert, dass auch einvernehmlicher Sex, bei dem die Frau sich schlecht gefühlt habe, Ekelgefühle bei bestimmten sexuellen Praktiken usw. als Vergewaltigung behandelt wurden, bis hin zu Vergewaltigung ohne Geschlechtsverkehr, oder einem Hausverbot wegen des Vorwurfs, einen Porno gucken zu wollen der nicht einmal stimmte. Erschwerend kam hinzu, dass gerade die selbstkritischen, ihre Rolle hinterfragenden Männer eher unter die Räder kamen als selbstsichere Machos.


Entsprechend veränderte sich das Klima in einer linken Szene, in der bis dato offene Zweierbeziehungen mit erlaubten Seitensprüngen das role model gewesen und One Night Stands nach Parties allgemein üblich waren in Richtung gehemmt-repressiv, was Sexualität anging.


Parallel entwickelten sich die Dinge beim Thema Antisemitismus. Bis in die frühen Neunziger war in der linksradikalen Szene ein Antiimperialismus vorherrschend, bei dem Israel und die USA als Hauptmächte des Imperialismus angesehen wurden. Abgesehen von solch speziellen Geschichten wie der engen Bindung von RAF und ähnlichen Guerrilla-Organisationen an bestimmte Palästinensergruppen war die verbreitete, in der Linken konsensfähige Antiimperialismusposition die, dass USA, Israel und die lateinamerikanischen Militärdiktaturen Chile, Argentinien und Uruguay sowie Apartheid-Südafrika die Frontmächte des Imperialismus seien. Die mit CIA-Hilfe an die Macht gebrachten Diktatoren, Südafrika und Israel einte die Tatsache, dass sie in der UN mit Boykotten und Resolutionen isolierte Parias waren. Diese halfen sich nun gegenseitig mit Waffenlieferungen und Geheimdiensten. Aus antiimperialistischer Sicht stellten sie eine Art dritten Block dar.

Dies hätte sich nun auch einfach als pragmatische und opportunistische Kooperation aus einer Gemengelage heraus betrachten lassen. Neomarxistische Linke wären dies aber nicht, wenn sie zu dieser Konstellation nicht mit einer eigenen Theorie hätten aufwarten können, und das war die der Siedlerstaaten. USA, Chile, Argentinien, Uruguay, Südafrika und Israel einte allesamt die Tatsache, dass es Länder waren in denen eingewanderte weisse Eliten die autochthone Bevölkerung unterdrückten oder sogar ausgerottet hatten. Daher seien diese die reaktionärsten Mächte des Imperialismus, analog zum Faschismus als reaktionärste Form bürgerlicher Herrschaft.

An diesem Modell wurde seit etwa 1990 innerlinke Kritik geübt, einmal vom Lager des neuen Antiimperialismus aus und einmal von den Antideutschen.

Der neue Antiimperialismus kritisierte die auf Staaten, nationale Befreiungsbewegungen und linearen Fortschritt ausgerichtete Sichtweise des klassischen Antiimperialismus und setzte dem eine generelle Kapitalismuskritik und eine Bezugnahme auf die armen Massen in den Ländern des Trikont entgegen, die sich auch gegen die generelle Befürwortung nationaler Befreiungsbewegungen richtete.

Die Antideutschen kritisierten die antiimperialistische Frontbildung mit einer Liste als gegeben angesehener Feindstaaten als strukturellen Antisemitismus.

Es wäre sinnvoll gewesen, die Siedlertheorie und die Konzeption Israels als historisch notwendige Antwort auf die Shoah als verschiedene Fluchtpunkte einer Befreiungstheorie zu kontextualisieren, genau das geschah aber nicht.

Noch bevor Antideutsche anfingen, sich mit der Zahal zu identifizieren setzte, wiederum transportiert durch die damaligen Szenemedien, eine Entwicklung ein, die sehr analog zu "fangt den Vergewaltiger" verlief, diesmal "fangt den Antisemiten". Statt eine Theoriedebatte zu führen wurde, ausgehend vom Freiburger ISF ein Denunziantentum in Gang gesetzt, das so ging: "Du hast eine Solidaritätsaktion für die DFLP, die PKK, die EZLN, die Peshmerga unterstützt? Ja weisst Du denn nicht, das wir deren Antiimperialismus als Antisemitismus enttarnt haben?


Erkenne Deinen inneren Antisemitismus!".
Besonders übel tat sich unter den Bußpredigern des linken.-Antisemitismus-wo-man hinschaut-und-überhaupt damals Stephan Grigat hervor.


Das lief so in den Szenezusammenhängen, sich teilweise mit der Antisexismusdebatte überschneidend, etwa von 1991 bis 1995 ab, um dann nach dem 11. 09. 2001 mit unerwarteter Heftigkeit erneut aufzuploppen.

Beide Stränge schufen die Matrix, vor der sich die moralinsauren, zensurgeilen Diskursmuster von Gedichtüberpinslern bis Mädchenmannschaft, von linken Ausschlusskomitees bis "linksliberalem" Feuilleton (oder doch besser Fäuleton?) wie wir sie heute erleben entfalteten.

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