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Donnerstag, 11. Mai 2023
Die Streifzüge des Bizarrologen - heute: Kafka 2.0
che2001, 11:13h
Als Vorsorgespezialist und Finanzberater arbeite ich mit unterschiedlichen Banken, Versicherungen, Tradingplattformen usw. zusammen, ohne in deren Organisationsstrukturen eingebunden zu sein. Das führt dazu, dass ich hinsichtlich meiner Kunden nicht immer vollständigen Einblick in deren Akten bei Fremdfirmen habe. So rief ich kürzlich bei einer Versicherung an und forderte die Unterlagen zu den unterschiedlichen Lebensversicherungen eines Kunden an, was mir auch zugesagt wurde. Als die nach ein paar Wochen immer noch nicht da waren und der Beratungstermin mit dem Kunden nahte rief ich noch einmal an und fragte nach, wo die Unterlagen bleiben würden.
Man antwortete mir, dass mir die vor zwei Wochen schon zugesandt worden seien. Ich habe nichts bekommen antwortete ich und fragte, an welche Adresse sie verschickt worden waren.
An das Frankfurter Vorstandsbüro unserer Dachorganisation, wurde mir geantwortet. Als ich erwiderte, dann könnten sie die Unterlagen auch gleich an den Bundestag oder Wall Street schicken, wie sollten sie mich denn auf diesem Wege erreichen wurde mir entgegnet, sie hätten die Dienstvorschrift, so zu verfahren, einen anderen Weg gäbe es nicht. Darauf konterte ich, dann solle man Dienstvorschrift mal Dienstvorschrift sein lassen, hier sei meine Adresse, und bitte dahin schicken bekam ich dann die Antwort, dies sei nicht möglich, Briefe könnten nur durch eine Künstliche Unintelligenz verschickt werden, und da sei die Zieladresse einprogrammiert.
Man muss sich mit den Verhältnissen arrangieren, ich habe den Weg gefunden:
Ich fordere bei der Versicherung einen Brief an, der wird dann ohne meinen Namen in Adresse oder Bezug mit Porto nach Frankfurt geschickt, wo er geschreddert wird. Das Verschicken des Briefes erzeugt in meinem Beraterportal eine Kopie als PDF, die ich mir herunterladen kann.
Von hinten durch die Brust ins Auge, ein Lob der Digitalisierung.
Man antwortete mir, dass mir die vor zwei Wochen schon zugesandt worden seien. Ich habe nichts bekommen antwortete ich und fragte, an welche Adresse sie verschickt worden waren.
An das Frankfurter Vorstandsbüro unserer Dachorganisation, wurde mir geantwortet. Als ich erwiderte, dann könnten sie die Unterlagen auch gleich an den Bundestag oder Wall Street schicken, wie sollten sie mich denn auf diesem Wege erreichen wurde mir entgegnet, sie hätten die Dienstvorschrift, so zu verfahren, einen anderen Weg gäbe es nicht. Darauf konterte ich, dann solle man Dienstvorschrift mal Dienstvorschrift sein lassen, hier sei meine Adresse, und bitte dahin schicken bekam ich dann die Antwort, dies sei nicht möglich, Briefe könnten nur durch eine Künstliche Unintelligenz verschickt werden, und da sei die Zieladresse einprogrammiert.
Man muss sich mit den Verhältnissen arrangieren, ich habe den Weg gefunden:
Ich fordere bei der Versicherung einen Brief an, der wird dann ohne meinen Namen in Adresse oder Bezug mit Porto nach Frankfurt geschickt, wo er geschreddert wird. Das Verschicken des Briefes erzeugt in meinem Beraterportal eine Kopie als PDF, die ich mir herunterladen kann.
Von hinten durch die Brust ins Auge, ein Lob der Digitalisierung.
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Gülen-Verfolgung in der Türkei wird vom BAMF immer wieder verkannt
che2001, 10:38h
Die Zahl asylsuchender Menschen aus der Türkei ist 2022 massiv gestiegen, dennoch sinkt die Anerkennungsquote. Die Verfolgung richtet sich im Wesentlichen gegen Kurd:innen, politische Oppositionelle – und Anhänger:innen der sog. Gülen-Bewegung. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisieren die aktuelle Entscheidungspraxis des BAMF.
Mit Spannung werden die für kommenden Sonntag, den 14.05.2023, angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei erwartet. Setzt sich der aussichtsreiche Oppositionskandidat, Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) durch, besteht die Möglichkeit, dass der autoritäre Kurs gestoppt wird, den die Türkei unter dem noch amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan (AKP) eingeschlagen hat – ein Prozess der, sollte es dazu kommen, viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Denn Erdoğans Amtszeit ging mit der Eruption der Menschenrechte in der Türkei einher. Das zeigt sich einmal mehr in den aktuellen Fluchtbewegungen. Sollte es nicht zu einem Wechsel an der Spitze der Türkei kommen, ist zu erwarten, dass noch viel mehr Menschen jegliche Hoffnung verlieren und aus Angst vor Verfolgung die Türkei verlassen müssen.
Im vergangenen Jahr 2022 wurden knapp 24.000 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger:innen registriert, eine neue Höchstmarke. Mehr Erstanträge wurden nur von Antragsstellenden aus Afghanistan (36.358 Erstanträge) und Syrien (70.976 Erstanträge) gestellt – ein Trend, der sich im ersten Quartal 2023 fortsetzt. Bekam jedoch 2019 noch etwa jede:r zweite:r Antragsstellende:r aus der Türkei einen Schutzstatus, erhält diesen im März 2023 nur noch jede:r vierte. Die (bereinigte) Schutzquote ist damit von über 50% (2019) auf 23% (März 2023) gefallen. Wenn man die jüngsten Entwicklungen in der Türkei betrachtet, dann überrascht diese geringe Schutzquote.
Eine Gruppe, gegen die sich die Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates neben Kurd:innen und Oppositionellen in besonderer Weise richten, sind (vermeintliche) Gülen-Anhänger:innen. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachen konnten durch die Unterstützung einiger Menschen aus diesem Personenkreis Einblicke in die Probleme bei deren Asylverfahren erlangen und in etlichen Fällen eine Korrektur der zunächst negativen BAMF-Entscheidung herbeiführen.
Dabei ist deutlich geworden: Es gibt systematische Probleme bei der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für diese Personengruppe. Alle eint, dass sie willkürlich wegen Terrorismusvorwurfs angeklagt und inhaftiert wurden und auf Grund von weiterhin drohender Verfolgung in der Türkei nach Deutschland fliehen mussten. Den Menschen drohen in der Türkei schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche, mehrjährige Haft und Folter.
Warum werden Gülen-Anhänger:innen in der Türkei verfolgt?
Die Gülen-Bewegung ist ein in der Türkei gegründetes, mittlerweile weltweit agierendes muslimisches, politisches und wirtschaftliches Netzwerk. Sie betreibt Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen. Außerdem gehören ihr Medien, Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen an. Die Bewegung steht in der Kritik, insbesondere in Bildungseinrichtungen junge Menschen zu rekrutieren und die Öffentlichkeit zu täuschen: Während sie sich nach außen transparent und offen gibt, ist sie im inneren streng hierarchisch-autoritär organisiert, wobei konservative Verhaltensregeln restriktiv eingefordert werden. Von Aussteiger:innen wird diese daher als „sektenähnlich“ beschrieben. War die Gülen-Bewegung bis zum Jahr 2013 Verbündete der türkischen Regierungspartei AKP, werden ihre Anhänger:innen seit 2016 systematisch verfolgt.
Ausschlaggebend für die Verfolgung von Gülen-Anhänger:innen in der Türkei war der gescheiterte Putschversuch im Jahr 2016. Für den Putsch wurde maßgeblich der islamische Prediger Fethullah Gülen verantwortlich gemacht. Seit dem gescheiterten Putsch wird das weit verzweigte Netzwerk, dessen Angehörige häufig einflussreiche Stellen in der Türkei inne hatten und zu einer Art Elite zählten, als Terrororganisation eingestuft, unter dem Begriff „FETÖ/PDY“. In der Folge kam es zur Schließung von Medien, Bildungseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen sowie zu massenhaften Entlassungen von (vermeintlichen) Gülen-Anhänger:innen, darunter auch Richter:innen und Staatsanwält:innen, und der Verhaftung dieser Menschen (siehe BAMF: Länderreport Türkei 47, S. 22 f.).
Ab wann eine Person, die dem Gülen-Netzwerk zugerechnet wird, mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hat, lässt sich nicht abschließend feststellen. Teilweise wurden und werden jedoch auch Personen verhaftet, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird (Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A; Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; Lagebericht AA 2021 S. 12- 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA): Länderinformation Türkei S. 43-46)). Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei hält fest, dass die „systematische Verfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhänger“ (Lagebericht Auswärtiges Amt 2021, S. 7; zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A) andauert.
Ausschlaggebend für die Verfolgung in der Türkei ist, dass Gülen-Anhänger:innen nicht mit fairen Strafverfahren in der Türkei rechnen können. Die Unabhängigkeit von Richter:innen ist nicht mehr gegeben: Seit 2016 wurden Richter:innen und Staatsanwält:innen nach kontroversen Entscheidungen aussortiert, suspendiert und teilweise verhaftet – Richter:innen, die regierungskonform entscheiden, werden hingegen befördert. Entscheidungen der Gerichte sind schablonenhaft, Urteile haben mangelhafte rechtliche Begründungen und eine lückenhafte und wenig glaubwürdige Beweisführung. Teilweise bleiben Beweise der Verteidigung auch unberücksichtigt. Die Ausgänge von Strafverfahren in der Türkei mit Bezug zur Gülen-Bewegung sind willkürlich. Es hängt völlig davon ab, an welche:n Richter:in man gelangt.
Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes besagt, dass es grundsätzlich legitim für einen Staat ist, sich gegen Terrorismus zu wehren, und dass dies nicht als politische Verfolgung anzusehen ist. Es muss für Asyl ein Politmalus existieren, also strafrechtliche Sanktionen, die einen diskriminierenden oder unverhältnismäßigen bzw. übersteigerten oder willkürlichen Charakter aufweisen, wie beispielsweise Folter (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2012 – 2 BvR 2954/09; BVerfG, Beschluss vom 29.04.2009 – 2 BvR 78/08; BVerfG, Beschluss vom 12.02.2008 – 2 BvR 2141/06).
Eigentlich eindeutig: Gülen-Anhänger:innen werden aus politischen Gründen verfolgt
Solch ein Politmalus liegt in Strafverfahren gegen Gülen-Anhänger:innen eindeutig vor. Dazu lässt sich dem Lagebericht entnehmen, dass „nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen [ist], dass die türkischen Gerichte im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wozu u. a. Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zählen, keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist“ (Lagebericht AA 2021 Seite 12 ff, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).
Dies bedeutet, dass Personen, die Teil der Bewegung sind oder dieser in einer nicht näher definierten Weise nahe stehen, pauschal unter den Terrorismusverdacht gestellt, angezeigt und verurteilt werden können. Eine politische Verfolgung in Form eines Politmalus ist gegeben, weil tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger:innen mit einer härteren und diskriminierenden Bestrafung rechnen müssen. So auch das VG Hannover in seinem Urteil vom 19.01.2023:
„Insoweit ist außerdem festzuhalten, dass sich bereits ein Straf- bzw. Ermittlungsverfahren aufgrund Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – auch ohne Verurteilung – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als verfolgungsrelevante Handlung darstellt. Denn ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts werden bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren erwirkt, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Dies ist auch besonders einschneidend, weil die Justiz überlastet ist und Verfahren sich dadurch häufig lange hinziehen, was sich durch die Entlassungen in der Justiz nach dem Putschversuch verschärft hat.“
In einem weiteren aktuellen Urteil zu Gunsten eines Gülen-Anhängers schließt sich das Verwaltungsgericht Hannover anderen deutschen Gerichten an und stellt fest, dass „nach den vorliegenden Auskünften (…) nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden [kann], dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK oder – wie hier – der Gülen-Bewegung vorgeht. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden.“ (VG Hannover Urteil vom 24.01.2023)
BAMF verkennt Willkür des türkischen Rechtssystems
Ein laut Anwält:innen häufig auftretendes Problem in türkischen Asylverfahren ist, dass das BAMF letztlich annimmt, dass die Türkei rechtsstaatlich funktionierende Strafverfahren habe. Dabei wird ignoriert, dass die Justiz als unabhängige Institution durch die Verhaftung und Suspendierung zahlreicher Richter:innen und Staatsanwält:innen seit Jahren zerschlagen ist. So sind seit Jahren willkürliche Strafverfahren ohne fairen Prozess an der Tagesordnung. Pauschal werden Menschen unter Terrorismusverdacht gestellt und angezeigt. Urteile werden oft mit drakonischen Strafen verhängt. Dabei wird deutlich, dass in der Türkei ein willkürlich ausgeweiteter Terrorismusbegriff Anwendung findet (siehe Human Rights Watch 10.04.2019, Lawyers on Trial: Abusive Prosecutions and Erosion of Fair Trial Rights in Turkey).
Dass das BAMF in seinen Leitsätzen zur Türkei offenbar weiterhin unterstellt, Strafverfahren würden nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchgeführt, zeigt sich besonders in den Fällen von Hamza* und Kutay*:
Hamza, Ablehnung trotz über zwei Jahren Haft in der Türkei
Hamza, Gülen-Anhänger, wurde zu über sechs Jahren Haft verurteilt und war 28 Monate inhaftiert. Wegen Verfahrensmängeln und prozessualer Fragen wurde das Urteil gegen Hamza durch das türkische Kassationsgericht, dem obersten türkischen Berufungsgericht, aufgehoben und an die untere Instanz zurückverwiesen. Inhaltliche Bedenken gab es an der Verurteilung nicht. Unter diversen Auflagen, unter anderem einem Ausreiseverbot, wurde Hamza aus der Haft entlassen.
Das BAMF bewertet den Entlassungsgrund falsch und führt im Asylbescheid aus, dass Hamza auf Grund der Entlassung ein neues rechtsstaatliches und faires Strafverfahren erwarten könne. Dabei bezieht sich das BAMF auf ein Grundsatzurteil des türkischen Kassationsgerichts, das nach Auffassung des BAMF zu Gunsten von Hamza auszulegen sei. Gülen-Anhänger:innen, müssten, so interpretiert das BAMF die Entscheidung in Vorwegnahme des noch ausstehenden Gerichtsverfahrens gegen Hamza, eine gewisse Bindung zur Organisation haben, damit sie wegen der Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ/PDY verurteilt werden können, und dies sei bei Hamza nicht gegeben.
Darüber hinaus sei der Verstoß gegen das Ausreiseverbot sowie die Gefahr einer erneuten Verhaftung selbst verschuldet: „Sofern der Antragsteller befürchtet, erneut verhaftet zu werden, liegt dies ausschließlich in seinem eigenen Verantwortungsbereich. Der Antragsteller hat sich der gerichtlichen Auflage des Ausreiseverbots widersetzt und die Türkei entgegen dieser Auflage verlassen. Eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen diese Freilassungsauflagen ist jedoch eine reguläre Strafverfolgungsmaßnahme, wie sie in jedem anderen Land für jeden anderen Menschen auch greifen würde. “ (Zitat BAMF-Bescheid Hamza)
Das BAMF kommt zu dem Schluss, dass „sich für die Zukunft des Antragstellers keine Hinweise darauf [ergeben], dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine Verurteilung wegen einer angeblichen Zugehörigkeit zur FETÖ/PDY und einer darauf resultierende Inhaftierung drohen könnten“ (BAMF Bescheid Hamza). Dabei verkennt das BAMF, dass es sich hier nicht um ein reguläres Strafverfahren handelt, sondern um ein politisch bedingtes (siehe hierzu auch Urteil VG Hannover vom 24.02.2023 und Urteil VG Hannover vom 06.01.2023).
Der Ausgang von Strafverfahren gegen potentielle Gülen-Anhänger:innen in der Türkei ist willkürlich. Deutlich zeigt sich dies anhand der türkischen Rechtsprechung. Entscheidungen der höchsten Gerichte, wie dem Kassationsgerichtshof, unterscheiden sich sehr stark, eine umfassende Berücksichtigung der Spruchpraxis findet in der Türkei nicht statt. Hamza kann sich also nicht darauf verlassen, dass ein positives Urteil des Kassationsgerichtshof in seinem Fall herangezogen wird (siehe Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; BFA: Länderinformation Türkei S. 20 und S. 48).
Kutay, Ablehnung trotz 15-monatiger Inhaftierung
Im Fall von Kutay, ebenfalls Gülen-Anhänger und deshalb in der Türkei inhaftiert gewesen, erkennt das BAMF sogar an, dass er „rechtswidrig zu Unrecht zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig mehr als 15 Monate inhaftiert“ (Zitat BAMF-Bescheid Kutay) worden ist. Allerdings wäre er auf Bewährung entlassen worden, und deshalb sei nicht davon auszugehen, dass er erneut inhaftiert werden könnte. Das BAMF versteht also, dass Kutay schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen erlebt hat, geht aber dennoch davon aus, dass ihm das nicht noch einmal widerfahren wird. So tief sitzt das Vertrauen in den vermeintlich türkischen Rechtsstaat.
Fehlende Sorgfalt bei der Prüfung der Asylanträge führt zur Ablehnung
Neben dem Vertrauen des BAMFs in den türkischen Staat ist ein weiterer Aspekt auffällig. Das BAMF prüft in den PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegenden Fällen den Sachverhalt nicht sorgfältig und lehnt Anträge auf Grund von Falschannahmen ab.
Im Rahmen der Anhörung müssen Geflüchtete ihre Fluchtgründe selbst vortragen. Das bedeutet, dass eine ausführliche Erzählung über die Geschehnisse, weshalb sie ihr Heimatland verlassen mussten und sie auch nicht mehr zurückkehren können, erfolgen muss. (siehe § 25 Abs. 1 und 2 AsylG) Das BAMF hingegen unterliegt im Asylverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz. Das bedeutet, dass es die Pflicht hat, den Sachverhalt, also den Schutzbedarf einer geflüchteten Person, von sich aus zu ermitteln, soweit dies möglich ist. Nach § 24 Abs. 1 AsylG muss das BAMF den Sachverhalt klären und alle erforderlichen Beweise erheben und würdigen. Die Beweise sind angemessen zu bewerten und zu prüfen. Neben den Erzählungen der Asylantragstellenden ist es dem BAMF möglich, alle Beweismittel heranzuziehen, die zur angemessenen Klärung und Bewertung der Fluchtgründe notwendig sind. Dazu zählen die Aussagen von Zeug:innen, Sachverständigengutachten, Behördenakten und amtliche Auskünfte, Urkunden und Augenscheinnahmen. Wenn Unterlagen in nicht deutscher Sprache eingereicht werden, sollen diese übersetzt werden (zu den Anforderungen an faire und sorgfältige Verfahren siehe hier).
Flüchtlingen ist es oftmals nicht möglich, schriftliche Beweise für ihre Verfolgung vorzulegen. Solche Beweise können die Glaubwürdigkeit untermauern, allerdings wird – wie auch vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt – von einem „sachtypischen Beweisnotstand“ ausgegangen, denn Menschen auf der Flucht können auf Grund dieser spezifischen Lebenssituation keine Beweismittel mitnehmen. (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84, BVerwG, Urteil vom 29. November 1977 – Az. I C 30/77) Allein der glaubhafte, mündliche Vortrag muss ausreichen, um die Schutzwürdigkeit der Person anzuerkennen.
In den Asylverfahren türkischer Schutzsuchender wird aber trotz dieser klaren rechtlichen Vorgaben häufig verlangt, dass die Menschen Dokumente vorlegen sollen, die ihre strafrechtliche Verfolgung bestätigen. Dabei greifen die deutschen Behörden auf das Datenportal des türkischen Justiznetzwerks „Uyap“ zurück, das Teil der digitalen Infrastruktur des Staates ist. Es wird als eine Art „Wundermittel“ zur Ermittlung der staatlichen Verfolgung in der Türkei angesehen, obwohl der Zugang zahlreichen Einschränkungen unterliegt: Gerade die Strafakte von politischen Gegner:innen landet oftmals erst verspätet im Uyap, denn solange der Staatsschutz ermittelt findet sich die Akte dort nicht. Das Uyap bleibt als Instrument des Verfolgerstaats selbst willkürlich und sollte nur mit großer Sorgfalt genutzt und die Ergebnisse sollten entsprechend eingeordnet werden. Keinesfalls darf allein aus der Tatsache, dass eine Person im Datenportal Uyap nicht geführt wird, geschlossen werden, eine politische Verfolgung läge nicht vor.
Die Fälle von Deniz* und Yasin* zeigen diese Probleme. Im Fall von Yasin hätte Fahrlässigkeit des BAMF bei der Übersetzung fast zu einer Abschiebung geführt, die wohl seine Inhaftierung zur Folge gehabt hätte.
Deniz, abgelehnt wegen fehlerhafter Nutzung von Online-Tool
Deniz ist Gülen-Anhänger und war an Gülen-Schulen tätig. Acht Monate war Deniz auf Grund seiner Aktivität in der Gülen-Bewegung inhaftiert. Gegen ihn ist ein Verfahren in der Türkei anhängig und es existiert ein Haftbefehl. Deniz drohen über fünf Jahre Haft in der Türkei. Mit einem Urteil zu seinen Gunsten ist auf Grund der willkürlichen Strafverfolgung in der Türkei nicht zu rechnen.
Das BAMF lehnt seinen Asylantrag aber ab, weil seine Erzählung unglaubhaft sei:
„Der Antragsteller bleibt einen detaillierten glaubhaften Vortrag schuldig, aus dem sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, beziehungsweise zur Überzeugung der Bescheidunterzeichnerin, die Gefahr einer Verfolgung ergeben könnte. Auch die vorgelegten Dokumente führen zu keiner anderen Beurteilung der Situation. Die Authentizität der vorgelegten Dokumente kann nicht überprüft werden, die Unterlagen sind weder gestempelt noch haben sie einen offiziellen Briefkopf.“ (Zitat aus dem BAMF-Bescheid)
Das BAMF äußert hier Zweifel an der Echtheit der Belege, die Deniz im Rahmen seiner Anhörung einreichte, ohne die Unterlagen wirklich zu prüfen. Deniz lud die Unterlagen über sein Smartphone unwissentlich unvollständig aus dem Datenportal des türkischen Justiznetzwerks runter. Deshalb fehlten auf dem Ausdruck Merkmale, wie Barcodes oder ein offizieller Briefkopf.
Für das BAMF wäre es in Deniz Fall leicht überprüfbar gewesen, ob es sich um echte Unterlagen handelt, die tatsächlich vorliegen. Deniz Rechtsanwalt gibt an, dass es üblich sei, gemeinsam mit der antragstellenden Person die Unterlagen über das Online-Tool einzusehen. In diesem Fall lehnte das BAMF aber lieber ab, als seiner Pflicht nachzukommen, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu prüfen.
Auch nachdem Deniz die Unterlagen – ordnungsgemäß gestempelt und mit offiziellem Briefkopf – besorgt, sieht man beim BAMF keinen Anlass, den Bescheid zu ändern. Jahrelang wartet Deniz auf seinen Termin für das Gerichtsverfahren. Erst als der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL beim BAMF intervenieren und eine Korrektur der Entscheidung verlangen, lenkt das BAMF schließlich ein.
Yasin, Ablehnung wegen fehlerhafter Übersetzung
Auch Yasin wurde die Fahrlässigkeit des BAMFs zum Verhängnis. Yasin wurde zu über sechs Jahren verurteilt und war 17 Monate auf Grund seiner Gülen-Anhängerschaft inhaftiert.
Das BAMF glaubt ihm, dass er rechtswidrig als Unschuldiger zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig inhaftiert wurde. Dennoch geht die Behörde zu Unrecht davon aus, dass Yasin auf Grund seiner Entlassung keine Verfolgung mehr droht.
Die von ihm eingereichten türkischen Dokumente, aus denen hervorgeht, dass ihm noch eine mehrjährige Haftstrafe droht und ein Ausreiseverbot existiert, übersetzt das BAMF nur teilweise und sogar fehlerhaft. In der Konsequenz kommt es zu falschen Schlüssen: Das BAMF geht irrtümlich davon aus, dass Yasin auf Bewährung entlassen wurde. Da es keine neuen Straftaten gäbe, so die naive Schlussfolgerung, würde Yasin bei Rückkehr in die Türkei nicht erneut verhaftet werden.
Die Strafe wurde allerdings nicht zur Bewährung ausgesetzt, dies geht aus den von Yasin vorgelegten türkischen Gerichtsurteilen gegen ihn hervor. Laut Yasins Rechtsanwalt gibt es auch keine gesetzliche Grundlage dafür. Eine Freilassung auf Bewährung ist in Strafverfahren, bei denen es um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung geht, nicht vorgesehen. Eine frühzeitige Entlassung ist erst möglich, wenn die Strafe zu dreiviertel verbüßt wurde. Das wäre bei Yasin nach 56 Monaten und nicht bereits nach 17 Monaten Haft der Fall gewesen. Der Grund für die (vorläufige) Entlassung war ein anderer: Yasin hat Berufung gegen das Urteil eingelegt mit der Folge, dass Yasin bis zum nächsten Gerichtsverfahren auf freien Fuß zu setzen war. Das erste Urteil wurde aber mittlerweile durch das Berufungsgericht bestätigt, sodass fest damit zu rechnen ist, dass Yasin bei Rückkehr in die Türkei wieder inhaftiert würde.
Auch in den weiteren Ausführungen genügt der Bescheid des BAMF den Qualitätsanforderungen nicht: So führt das BAMF etwa aus, dass die irreguläre Ausreise aus der Türkei keine neue Inhaftierung zur Folge habe – und übersieht, dass gegen Yasin ein Ausreiseverbot vorliegt.
Hätte der Flüchtlingsrat Niedersachsen nicht interveniert und wäre Yasin nach erfolglosem Verfahren abgeschoben worden, hätte ihm die unmittelbare Verhaftung am Flughafen gedroht, da bei Einreise in die Türkei Personenkontrollen erfolgen und überprüft wird, ob ein Eintrag im Fahndungsregister vorliegt (Siehe AA Lagebericht 2021, Seite 23, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).
PRO ASYL und Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern Umdenken beim BAMF und Gerichten
In der Türkei können Gülen-Anhänger:innen oder Personen, die zu solchen erklärt werden, nicht mit rechtstaatlichen Verfahren rechnen. Dies wird nicht nur anhand dieser und weiterer Fälle, die PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegen, deutlich, sondern kommt auch in einer Vielzahl von Gerichtsurteilen zum Ausdruck. Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei und Berichte von unabhängigen Organisationen sprechen eine deutliche Sprache.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BAMF von der falschen Voraussetzung ausgeht, in der Türkei gäbe es für Gülen-Anhänger:innen Strafverfahren, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionieren – dem ist nicht so, vielmehr sind diese politisch motiviert. Das BAMF verkennt die Willkür der türkischen Strafverfolgungspraxis ebenso wie die Systematik, mit der in der Türkei Gülen-Anhänger:innen zu „Terroristen“ erklärt und verfolgt werden. Die Leitsätze des BAMF zur Türkei müssen dringend überarbeitet werden. Auch die interne Qualitätskontrolle funktioniert offenkundig nicht, wenn zahlreiche handwerklich mangelhafte Entscheidungen ergehen und diese erst auf zivilgesellschaftliche Intervention hin korrigiert werden. Die geschilderten Probleme betreffen zudem nicht nur Gülen-Anhänger:innen, sie lassen sich auch uneingeschränkt auf die Asylverfahren kurdischer und oppositioneller Personen übertragen!
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern daher, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis zur Türkei umfänglich einer kritischen Überprüfung unterzieht und die Kriterien seiner Entscheidungsfindung überarbeitet. Ansonsten droht verfolgten Menschen immer wieder die Abschiebung. Es besteht dringender Handlungsbedarf, damit verfolgte Menschen aus der Türkei zu ihrem Recht auf Schutz gelangen.
* Name zum Schutz der Betroffenen Person geändert
https://www.nds-fluerat.org/55963/aktuelles/guelen-verfolgung-in-der-tuerkei-wird-vom-bamf-immer-wieder-verkannt/
Mit Spannung werden die für kommenden Sonntag, den 14.05.2023, angesetzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei erwartet. Setzt sich der aussichtsreiche Oppositionskandidat, Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) durch, besteht die Möglichkeit, dass der autoritäre Kurs gestoppt wird, den die Türkei unter dem noch amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan (AKP) eingeschlagen hat – ein Prozess der, sollte es dazu kommen, viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Denn Erdoğans Amtszeit ging mit der Eruption der Menschenrechte in der Türkei einher. Das zeigt sich einmal mehr in den aktuellen Fluchtbewegungen. Sollte es nicht zu einem Wechsel an der Spitze der Türkei kommen, ist zu erwarten, dass noch viel mehr Menschen jegliche Hoffnung verlieren und aus Angst vor Verfolgung die Türkei verlassen müssen.
Im vergangenen Jahr 2022 wurden knapp 24.000 Asylerstanträge türkischer Staatsbürger:innen registriert, eine neue Höchstmarke. Mehr Erstanträge wurden nur von Antragsstellenden aus Afghanistan (36.358 Erstanträge) und Syrien (70.976 Erstanträge) gestellt – ein Trend, der sich im ersten Quartal 2023 fortsetzt. Bekam jedoch 2019 noch etwa jede:r zweite:r Antragsstellende:r aus der Türkei einen Schutzstatus, erhält diesen im März 2023 nur noch jede:r vierte. Die (bereinigte) Schutzquote ist damit von über 50% (2019) auf 23% (März 2023) gefallen. Wenn man die jüngsten Entwicklungen in der Türkei betrachtet, dann überrascht diese geringe Schutzquote.
Eine Gruppe, gegen die sich die Verfolgungsmaßnahmen des türkischen Staates neben Kurd:innen und Oppositionellen in besonderer Weise richten, sind (vermeintliche) Gülen-Anhänger:innen. PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachen konnten durch die Unterstützung einiger Menschen aus diesem Personenkreis Einblicke in die Probleme bei deren Asylverfahren erlangen und in etlichen Fällen eine Korrektur der zunächst negativen BAMF-Entscheidung herbeiführen.
Dabei ist deutlich geworden: Es gibt systematische Probleme bei der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für diese Personengruppe. Alle eint, dass sie willkürlich wegen Terrorismusvorwurfs angeklagt und inhaftiert wurden und auf Grund von weiterhin drohender Verfolgung in der Türkei nach Deutschland fliehen mussten. Den Menschen drohen in der Türkei schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche, mehrjährige Haft und Folter.
Warum werden Gülen-Anhänger:innen in der Türkei verfolgt?
Die Gülen-Bewegung ist ein in der Türkei gegründetes, mittlerweile weltweit agierendes muslimisches, politisches und wirtschaftliches Netzwerk. Sie betreibt Schulen, Universitäten und Bildungseinrichtungen. Außerdem gehören ihr Medien, Unternehmen und Wohltätigkeitsorganisationen an. Die Bewegung steht in der Kritik, insbesondere in Bildungseinrichtungen junge Menschen zu rekrutieren und die Öffentlichkeit zu täuschen: Während sie sich nach außen transparent und offen gibt, ist sie im inneren streng hierarchisch-autoritär organisiert, wobei konservative Verhaltensregeln restriktiv eingefordert werden. Von Aussteiger:innen wird diese daher als „sektenähnlich“ beschrieben. War die Gülen-Bewegung bis zum Jahr 2013 Verbündete der türkischen Regierungspartei AKP, werden ihre Anhänger:innen seit 2016 systematisch verfolgt.
Ausschlaggebend für die Verfolgung von Gülen-Anhänger:innen in der Türkei war der gescheiterte Putschversuch im Jahr 2016. Für den Putsch wurde maßgeblich der islamische Prediger Fethullah Gülen verantwortlich gemacht. Seit dem gescheiterten Putsch wird das weit verzweigte Netzwerk, dessen Angehörige häufig einflussreiche Stellen in der Türkei inne hatten und zu einer Art Elite zählten, als Terrororganisation eingestuft, unter dem Begriff „FETÖ/PDY“. In der Folge kam es zur Schließung von Medien, Bildungseinrichtungen und Nichtregierungsorganisationen sowie zu massenhaften Entlassungen von (vermeintlichen) Gülen-Anhänger:innen, darunter auch Richter:innen und Staatsanwält:innen, und der Verhaftung dieser Menschen (siehe BAMF: Länderreport Türkei 47, S. 22 f.).
Ab wann eine Person, die dem Gülen-Netzwerk zugerechnet wird, mit Verfolgungshandlungen zu rechnen hat, lässt sich nicht abschließend feststellen. Teilweise wurden und werden jedoch auch Personen verhaftet, denen eine kaum definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird (Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A; Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; Lagebericht AA 2021 S. 12- 13; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA): Länderinformation Türkei S. 43-46)). Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei hält fest, dass die „systematische Verfolgung mutmaßlicher Gülen-Anhänger“ (Lagebericht Auswärtiges Amt 2021, S. 7; zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A) andauert.
Ausschlaggebend für die Verfolgung in der Türkei ist, dass Gülen-Anhänger:innen nicht mit fairen Strafverfahren in der Türkei rechnen können. Die Unabhängigkeit von Richter:innen ist nicht mehr gegeben: Seit 2016 wurden Richter:innen und Staatsanwält:innen nach kontroversen Entscheidungen aussortiert, suspendiert und teilweise verhaftet – Richter:innen, die regierungskonform entscheiden, werden hingegen befördert. Entscheidungen der Gerichte sind schablonenhaft, Urteile haben mangelhafte rechtliche Begründungen und eine lückenhafte und wenig glaubwürdige Beweisführung. Teilweise bleiben Beweise der Verteidigung auch unberücksichtigt. Die Ausgänge von Strafverfahren in der Türkei mit Bezug zur Gülen-Bewegung sind willkürlich. Es hängt völlig davon ab, an welche:n Richter:in man gelangt.
Die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes besagt, dass es grundsätzlich legitim für einen Staat ist, sich gegen Terrorismus zu wehren, und dass dies nicht als politische Verfolgung anzusehen ist. Es muss für Asyl ein Politmalus existieren, also strafrechtliche Sanktionen, die einen diskriminierenden oder unverhältnismäßigen bzw. übersteigerten oder willkürlichen Charakter aufweisen, wie beispielsweise Folter (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2012 – 2 BvR 2954/09; BVerfG, Beschluss vom 29.04.2009 – 2 BvR 78/08; BVerfG, Beschluss vom 12.02.2008 – 2 BvR 2141/06).
Eigentlich eindeutig: Gülen-Anhänger:innen werden aus politischen Gründen verfolgt
Solch ein Politmalus liegt in Strafverfahren gegen Gülen-Anhänger:innen eindeutig vor. Dazu lässt sich dem Lagebericht entnehmen, dass „nach den vorliegenden Erkenntnisquellen davon auszugehen [ist], dass die türkischen Gerichte im Hinblick auf politisierte Strafverfahren, wozu u. a. Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung zählen, keine Unabhängigkeit besitzen und ein rechtsstaatlichen Grundsätzen genügendes Verfahren bzw. eine faire Prozessführung nicht gewährleistet ist“ (Lagebericht AA 2021 Seite 12 ff, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).
Dies bedeutet, dass Personen, die Teil der Bewegung sind oder dieser in einer nicht näher definierten Weise nahe stehen, pauschal unter den Terrorismusverdacht gestellt, angezeigt und verurteilt werden können. Eine politische Verfolgung in Form eines Politmalus ist gegeben, weil tatsächliche oder vermeintliche Gülen-Anhänger:innen mit einer härteren und diskriminierenden Bestrafung rechnen müssen. So auch das VG Hannover in seinem Urteil vom 19.01.2023:
„Insoweit ist außerdem festzuhalten, dass sich bereits ein Straf- bzw. Ermittlungsverfahren aufgrund Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung – auch ohne Verurteilung – mit erheblicher Wahrscheinlichkeit als verfolgungsrelevante Handlung darstellt. Denn ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts werden bereits im Rahmen von Ermittlungen noch vor formeller Anklageerhebung gezielt weitgehende freiheitsbeschränkende Maßnahmen wie Untersuchungshaft oder Ausreisesperren erwirkt, gestützt auf pauschale Behauptungen, ohne diese mit einem konkreten und individualisierten Tatvorwurf zu unterlegen. Dies ist auch besonders einschneidend, weil die Justiz überlastet ist und Verfahren sich dadurch häufig lange hinziehen, was sich durch die Entlassungen in der Justiz nach dem Putschversuch verschärft hat.“
In einem weiteren aktuellen Urteil zu Gunsten eines Gülen-Anhängers schließt sich das Verwaltungsgericht Hannover anderen deutschen Gerichten an und stellt fest, dass „nach den vorliegenden Auskünften (…) nicht mit der gebotenen Verlässlichkeit davon ausgegangen werden [kann], dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (vermeintliche) Angehörige und Unterstützer der PKK oder – wie hier – der Gülen-Bewegung vorgeht. Noch immer kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden.“ (VG Hannover Urteil vom 24.01.2023)
BAMF verkennt Willkür des türkischen Rechtssystems
Ein laut Anwält:innen häufig auftretendes Problem in türkischen Asylverfahren ist, dass das BAMF letztlich annimmt, dass die Türkei rechtsstaatlich funktionierende Strafverfahren habe. Dabei wird ignoriert, dass die Justiz als unabhängige Institution durch die Verhaftung und Suspendierung zahlreicher Richter:innen und Staatsanwält:innen seit Jahren zerschlagen ist. So sind seit Jahren willkürliche Strafverfahren ohne fairen Prozess an der Tagesordnung. Pauschal werden Menschen unter Terrorismusverdacht gestellt und angezeigt. Urteile werden oft mit drakonischen Strafen verhängt. Dabei wird deutlich, dass in der Türkei ein willkürlich ausgeweiteter Terrorismusbegriff Anwendung findet (siehe Human Rights Watch 10.04.2019, Lawyers on Trial: Abusive Prosecutions and Erosion of Fair Trial Rights in Turkey).
Dass das BAMF in seinen Leitsätzen zur Türkei offenbar weiterhin unterstellt, Strafverfahren würden nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchgeführt, zeigt sich besonders in den Fällen von Hamza* und Kutay*:
Hamza, Ablehnung trotz über zwei Jahren Haft in der Türkei
Hamza, Gülen-Anhänger, wurde zu über sechs Jahren Haft verurteilt und war 28 Monate inhaftiert. Wegen Verfahrensmängeln und prozessualer Fragen wurde das Urteil gegen Hamza durch das türkische Kassationsgericht, dem obersten türkischen Berufungsgericht, aufgehoben und an die untere Instanz zurückverwiesen. Inhaltliche Bedenken gab es an der Verurteilung nicht. Unter diversen Auflagen, unter anderem einem Ausreiseverbot, wurde Hamza aus der Haft entlassen.
Das BAMF bewertet den Entlassungsgrund falsch und führt im Asylbescheid aus, dass Hamza auf Grund der Entlassung ein neues rechtsstaatliches und faires Strafverfahren erwarten könne. Dabei bezieht sich das BAMF auf ein Grundsatzurteil des türkischen Kassationsgerichts, das nach Auffassung des BAMF zu Gunsten von Hamza auszulegen sei. Gülen-Anhänger:innen, müssten, so interpretiert das BAMF die Entscheidung in Vorwegnahme des noch ausstehenden Gerichtsverfahrens gegen Hamza, eine gewisse Bindung zur Organisation haben, damit sie wegen der Mitgliedschaft in der Terrororganisation FETÖ/PDY verurteilt werden können, und dies sei bei Hamza nicht gegeben.
Darüber hinaus sei der Verstoß gegen das Ausreiseverbot sowie die Gefahr einer erneuten Verhaftung selbst verschuldet: „Sofern der Antragsteller befürchtet, erneut verhaftet zu werden, liegt dies ausschließlich in seinem eigenen Verantwortungsbereich. Der Antragsteller hat sich der gerichtlichen Auflage des Ausreiseverbots widersetzt und die Türkei entgegen dieser Auflage verlassen. Eine Verhaftung wegen Verstoßes gegen diese Freilassungsauflagen ist jedoch eine reguläre Strafverfolgungsmaßnahme, wie sie in jedem anderen Land für jeden anderen Menschen auch greifen würde. “ (Zitat BAMF-Bescheid Hamza)
Das BAMF kommt zu dem Schluss, dass „sich für die Zukunft des Antragstellers keine Hinweise darauf [ergeben], dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine Verurteilung wegen einer angeblichen Zugehörigkeit zur FETÖ/PDY und einer darauf resultierende Inhaftierung drohen könnten“ (BAMF Bescheid Hamza). Dabei verkennt das BAMF, dass es sich hier nicht um ein reguläres Strafverfahren handelt, sondern um ein politisch bedingtes (siehe hierzu auch Urteil VG Hannover vom 24.02.2023 und Urteil VG Hannover vom 06.01.2023).
Der Ausgang von Strafverfahren gegen potentielle Gülen-Anhänger:innen in der Türkei ist willkürlich. Deutlich zeigt sich dies anhand der türkischen Rechtsprechung. Entscheidungen der höchsten Gerichte, wie dem Kassationsgerichtshof, unterscheiden sich sehr stark, eine umfassende Berücksichtigung der Spruchpraxis findet in der Türkei nicht statt. Hamza kann sich also nicht darauf verlassen, dass ein positives Urteil des Kassationsgerichtshof in seinem Fall herangezogen wird (siehe Urteil VG Hannover vom 19.01.2023; BFA: Länderinformation Türkei S. 20 und S. 48).
Kutay, Ablehnung trotz 15-monatiger Inhaftierung
Im Fall von Kutay, ebenfalls Gülen-Anhänger und deshalb in der Türkei inhaftiert gewesen, erkennt das BAMF sogar an, dass er „rechtswidrig zu Unrecht zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig mehr als 15 Monate inhaftiert“ (Zitat BAMF-Bescheid Kutay) worden ist. Allerdings wäre er auf Bewährung entlassen worden, und deshalb sei nicht davon auszugehen, dass er erneut inhaftiert werden könnte. Das BAMF versteht also, dass Kutay schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen erlebt hat, geht aber dennoch davon aus, dass ihm das nicht noch einmal widerfahren wird. So tief sitzt das Vertrauen in den vermeintlich türkischen Rechtsstaat.
Fehlende Sorgfalt bei der Prüfung der Asylanträge führt zur Ablehnung
Neben dem Vertrauen des BAMFs in den türkischen Staat ist ein weiterer Aspekt auffällig. Das BAMF prüft in den PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegenden Fällen den Sachverhalt nicht sorgfältig und lehnt Anträge auf Grund von Falschannahmen ab.
Im Rahmen der Anhörung müssen Geflüchtete ihre Fluchtgründe selbst vortragen. Das bedeutet, dass eine ausführliche Erzählung über die Geschehnisse, weshalb sie ihr Heimatland verlassen mussten und sie auch nicht mehr zurückkehren können, erfolgen muss. (siehe § 25 Abs. 1 und 2 AsylG) Das BAMF hingegen unterliegt im Asylverfahren dem Amtsermittlungsgrundsatz. Das bedeutet, dass es die Pflicht hat, den Sachverhalt, also den Schutzbedarf einer geflüchteten Person, von sich aus zu ermitteln, soweit dies möglich ist. Nach § 24 Abs. 1 AsylG muss das BAMF den Sachverhalt klären und alle erforderlichen Beweise erheben und würdigen. Die Beweise sind angemessen zu bewerten und zu prüfen. Neben den Erzählungen der Asylantragstellenden ist es dem BAMF möglich, alle Beweismittel heranzuziehen, die zur angemessenen Klärung und Bewertung der Fluchtgründe notwendig sind. Dazu zählen die Aussagen von Zeug:innen, Sachverständigengutachten, Behördenakten und amtliche Auskünfte, Urkunden und Augenscheinnahmen. Wenn Unterlagen in nicht deutscher Sprache eingereicht werden, sollen diese übersetzt werden (zu den Anforderungen an faire und sorgfältige Verfahren siehe hier).
Flüchtlingen ist es oftmals nicht möglich, schriftliche Beweise für ihre Verfolgung vorzulegen. Solche Beweise können die Glaubwürdigkeit untermauern, allerdings wird – wie auch vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt – von einem „sachtypischen Beweisnotstand“ ausgegangen, denn Menschen auf der Flucht können auf Grund dieser spezifischen Lebenssituation keine Beweismittel mitnehmen. (BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 – 9 C 109/84, BVerwG, Urteil vom 29. November 1977 – Az. I C 30/77) Allein der glaubhafte, mündliche Vortrag muss ausreichen, um die Schutzwürdigkeit der Person anzuerkennen.
In den Asylverfahren türkischer Schutzsuchender wird aber trotz dieser klaren rechtlichen Vorgaben häufig verlangt, dass die Menschen Dokumente vorlegen sollen, die ihre strafrechtliche Verfolgung bestätigen. Dabei greifen die deutschen Behörden auf das Datenportal des türkischen Justiznetzwerks „Uyap“ zurück, das Teil der digitalen Infrastruktur des Staates ist. Es wird als eine Art „Wundermittel“ zur Ermittlung der staatlichen Verfolgung in der Türkei angesehen, obwohl der Zugang zahlreichen Einschränkungen unterliegt: Gerade die Strafakte von politischen Gegner:innen landet oftmals erst verspätet im Uyap, denn solange der Staatsschutz ermittelt findet sich die Akte dort nicht. Das Uyap bleibt als Instrument des Verfolgerstaats selbst willkürlich und sollte nur mit großer Sorgfalt genutzt und die Ergebnisse sollten entsprechend eingeordnet werden. Keinesfalls darf allein aus der Tatsache, dass eine Person im Datenportal Uyap nicht geführt wird, geschlossen werden, eine politische Verfolgung läge nicht vor.
Die Fälle von Deniz* und Yasin* zeigen diese Probleme. Im Fall von Yasin hätte Fahrlässigkeit des BAMF bei der Übersetzung fast zu einer Abschiebung geführt, die wohl seine Inhaftierung zur Folge gehabt hätte.
Deniz, abgelehnt wegen fehlerhafter Nutzung von Online-Tool
Deniz ist Gülen-Anhänger und war an Gülen-Schulen tätig. Acht Monate war Deniz auf Grund seiner Aktivität in der Gülen-Bewegung inhaftiert. Gegen ihn ist ein Verfahren in der Türkei anhängig und es existiert ein Haftbefehl. Deniz drohen über fünf Jahre Haft in der Türkei. Mit einem Urteil zu seinen Gunsten ist auf Grund der willkürlichen Strafverfolgung in der Türkei nicht zu rechnen.
Das BAMF lehnt seinen Asylantrag aber ab, weil seine Erzählung unglaubhaft sei:
„Der Antragsteller bleibt einen detaillierten glaubhaften Vortrag schuldig, aus dem sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, beziehungsweise zur Überzeugung der Bescheidunterzeichnerin, die Gefahr einer Verfolgung ergeben könnte. Auch die vorgelegten Dokumente führen zu keiner anderen Beurteilung der Situation. Die Authentizität der vorgelegten Dokumente kann nicht überprüft werden, die Unterlagen sind weder gestempelt noch haben sie einen offiziellen Briefkopf.“ (Zitat aus dem BAMF-Bescheid)
Das BAMF äußert hier Zweifel an der Echtheit der Belege, die Deniz im Rahmen seiner Anhörung einreichte, ohne die Unterlagen wirklich zu prüfen. Deniz lud die Unterlagen über sein Smartphone unwissentlich unvollständig aus dem Datenportal des türkischen Justiznetzwerks runter. Deshalb fehlten auf dem Ausdruck Merkmale, wie Barcodes oder ein offizieller Briefkopf.
Für das BAMF wäre es in Deniz Fall leicht überprüfbar gewesen, ob es sich um echte Unterlagen handelt, die tatsächlich vorliegen. Deniz Rechtsanwalt gibt an, dass es üblich sei, gemeinsam mit der antragstellenden Person die Unterlagen über das Online-Tool einzusehen. In diesem Fall lehnte das BAMF aber lieber ab, als seiner Pflicht nachzukommen, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu prüfen.
Auch nachdem Deniz die Unterlagen – ordnungsgemäß gestempelt und mit offiziellem Briefkopf – besorgt, sieht man beim BAMF keinen Anlass, den Bescheid zu ändern. Jahrelang wartet Deniz auf seinen Termin für das Gerichtsverfahren. Erst als der Flüchtlingsrat Niedersachsen und PRO ASYL beim BAMF intervenieren und eine Korrektur der Entscheidung verlangen, lenkt das BAMF schließlich ein.
Yasin, Ablehnung wegen fehlerhafter Übersetzung
Auch Yasin wurde die Fahrlässigkeit des BAMFs zum Verhängnis. Yasin wurde zu über sechs Jahren verurteilt und war 17 Monate auf Grund seiner Gülen-Anhängerschaft inhaftiert.
Das BAMF glaubt ihm, dass er rechtswidrig als Unschuldiger zu einer Freiheitsstrafe wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt und ebenso unrechtmäßig inhaftiert wurde. Dennoch geht die Behörde zu Unrecht davon aus, dass Yasin auf Grund seiner Entlassung keine Verfolgung mehr droht.
Die von ihm eingereichten türkischen Dokumente, aus denen hervorgeht, dass ihm noch eine mehrjährige Haftstrafe droht und ein Ausreiseverbot existiert, übersetzt das BAMF nur teilweise und sogar fehlerhaft. In der Konsequenz kommt es zu falschen Schlüssen: Das BAMF geht irrtümlich davon aus, dass Yasin auf Bewährung entlassen wurde. Da es keine neuen Straftaten gäbe, so die naive Schlussfolgerung, würde Yasin bei Rückkehr in die Türkei nicht erneut verhaftet werden.
Die Strafe wurde allerdings nicht zur Bewährung ausgesetzt, dies geht aus den von Yasin vorgelegten türkischen Gerichtsurteilen gegen ihn hervor. Laut Yasins Rechtsanwalt gibt es auch keine gesetzliche Grundlage dafür. Eine Freilassung auf Bewährung ist in Strafverfahren, bei denen es um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung geht, nicht vorgesehen. Eine frühzeitige Entlassung ist erst möglich, wenn die Strafe zu dreiviertel verbüßt wurde. Das wäre bei Yasin nach 56 Monaten und nicht bereits nach 17 Monaten Haft der Fall gewesen. Der Grund für die (vorläufige) Entlassung war ein anderer: Yasin hat Berufung gegen das Urteil eingelegt mit der Folge, dass Yasin bis zum nächsten Gerichtsverfahren auf freien Fuß zu setzen war. Das erste Urteil wurde aber mittlerweile durch das Berufungsgericht bestätigt, sodass fest damit zu rechnen ist, dass Yasin bei Rückkehr in die Türkei wieder inhaftiert würde.
Auch in den weiteren Ausführungen genügt der Bescheid des BAMF den Qualitätsanforderungen nicht: So führt das BAMF etwa aus, dass die irreguläre Ausreise aus der Türkei keine neue Inhaftierung zur Folge habe – und übersieht, dass gegen Yasin ein Ausreiseverbot vorliegt.
Hätte der Flüchtlingsrat Niedersachsen nicht interveniert und wäre Yasin nach erfolglosem Verfahren abgeschoben worden, hätte ihm die unmittelbare Verhaftung am Flughafen gedroht, da bei Einreise in die Türkei Personenkontrollen erfolgen und überprüft wird, ob ein Eintrag im Fahndungsregister vorliegt (Siehe AA Lagebericht 2021, Seite 23, zitiert im Urteil VG Köln vom 21.07.2022 – 22 K 686/21.A).
PRO ASYL und Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern Umdenken beim BAMF und Gerichten
In der Türkei können Gülen-Anhänger:innen oder Personen, die zu solchen erklärt werden, nicht mit rechtstaatlichen Verfahren rechnen. Dies wird nicht nur anhand dieser und weiterer Fälle, die PRO ASYL und dem Flüchtlingsrat Niedersachsen vorliegen, deutlich, sondern kommt auch in einer Vielzahl von Gerichtsurteilen zum Ausdruck. Auch der Lagebericht des Auswärtigen Amts zur Türkei und Berichte von unabhängigen Organisationen sprechen eine deutliche Sprache.
Zusammengefasst ist festzustellen, dass das BAMF von der falschen Voraussetzung ausgeht, in der Türkei gäbe es für Gülen-Anhänger:innen Strafverfahren, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionieren – dem ist nicht so, vielmehr sind diese politisch motiviert. Das BAMF verkennt die Willkür der türkischen Strafverfolgungspraxis ebenso wie die Systematik, mit der in der Türkei Gülen-Anhänger:innen zu „Terroristen“ erklärt und verfolgt werden. Die Leitsätze des BAMF zur Türkei müssen dringend überarbeitet werden. Auch die interne Qualitätskontrolle funktioniert offenkundig nicht, wenn zahlreiche handwerklich mangelhafte Entscheidungen ergehen und diese erst auf zivilgesellschaftliche Intervention hin korrigiert werden. Die geschilderten Probleme betreffen zudem nicht nur Gülen-Anhänger:innen, sie lassen sich auch uneingeschränkt auf die Asylverfahren kurdischer und oppositioneller Personen übertragen!
PRO ASYL und der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordern daher, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis zur Türkei umfänglich einer kritischen Überprüfung unterzieht und die Kriterien seiner Entscheidungsfindung überarbeitet. Ansonsten droht verfolgten Menschen immer wieder die Abschiebung. Es besteht dringender Handlungsbedarf, damit verfolgte Menschen aus der Türkei zu ihrem Recht auf Schutz gelangen.
* Name zum Schutz der Betroffenen Person geändert
https://www.nds-fluerat.org/55963/aktuelles/guelen-verfolgung-in-der-tuerkei-wird-vom-bamf-immer-wieder-verkannt/
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