Sonntag, 16. Juni 2019
Sexuelle Gewohnheiten im Wandel der Jahre
Als meine neun Jahre ältere Schwester jung war, d.h. Twen oder Thirtysomething, in den Siebzigern und Achtzigern, führte sie ein ausgesprochen promiskuitives Sexualleben, es gab Zeiten da lag pro Woche ein anderer Kerl in ihrem Bett, und die Beziehungen die sie pflegte waren offene Zweierbeziehungen mit erlaubten Seitensprüngen. Sie ging damit sehr offen um; ich weiß noch wie sie aus dem Skiurlaub in Norwegen zurückkam und von der Nachbarin die Kater abholte die diese in ihrer Abwesenheit gehütet hatte. Gefragt wie der Urlaub gewesen sei sagte sie der Skilehrer sei total süß gewesen, jede Nacht gevögelt, hätte total Spaß gemacht, und amüsierte sich sehr über das entsetzte Gesicht der Nachbarin. Na ja, frapper les bourgeois liegt bei uns in der Familie, ich wurde frühzeitig von dieser Schwester dazu erzogen. Und meinerseits im Alter von 19 von ihr geradezu moralisch dafür abgekanzelt dass ich nicht auch ein Hansdampf in allen Betten sei.

Niemand wäre auf die Idee gekommen meine Schwester als Schlampe zu bezeichnen. In der linken Szene entsprach ihr Verhalten zwar nicht dem was von einer heterosexuellen Frau erwartet wurde aber dem was das theoretische Ideal war: Sexuelle Befreiung, gelebter Hedonismus. Promiskuität als Ausdruck weiblicher Emanzipation. Und bis zur PC-Moralismus-Pandemie Ende der Achtziger war das zumindest für die Szene in der ich mich bewegte, also die großstädtische undogmatische Linke Maßstab.

Beruflich machte ich kürzlich die Bekanntschaft jüngerer Kolleginnen und Kollegen die heute in ihren Zwanzigern oder Dreißigern sind. Da ist auf jeder Fortbildung abends nicht nur ramba sondern auch zamba angesagt, es geht ab wie am Ballermann und natürlich wird da auch ordentlich geschnackselt. Die Rollenbewertung dabei ist allerdings die dass ein Typ der das tut ein toller Hecht ist, Frauen hingegen sind sehr bemüht ihre Seitensprünge verborgen zu halten weil sie fürchten für Schlampen gehalten zu werden. Und alle finden das selbstverständlich so, das wäre die natürliche Ordnung der Welt. Als ich erzählte wie das sich verhalten hatte als ich in deren Alter gewesen war und ein paar Stories aus der GÖ- und HB-Szene und von meiner Schwester erzählte wollte mir kein Mensch glauben dass es so etwas geben könne.

Aus meiner Sicht sind das Leute mit völlig reaktionären Rollenbildern, im Grunde auf dem Stand von vor 1967. Es würde nicht verwundern wenn Migranten mit islamischem oder mediterran-katholischem Hintergrund so drauf wären, aber das sind Biodeutsche. (Mustafa, Mohamed und Ogtai, Musti, Hamdi, Ogi mit "Isch mach die Alte klar für disch, Bruder" sind dann noch mal ein anderes Kaliber *lol*).


Die Frage die sich mir stellt ist nur: Hat da ein Backlash stattgefunden oder vergleiche ich da Äpfel mit Birnen? Meine eigene Szene und die meiner Schwester, das ist großstädtische akademisch geprägte linke Subkultur die ihre prägenden sexuellen Erfahrungen noch in Vor-HIV-Zeiten gemacht hat, diese jungen Leuten stammen aus bildungsfernen Handwerker- und Malocherfamilien aus dem ländlichenn Raum. Sind die möglicherweise nie anders gewesen und ist die sexuelle Revolution (im Hintergrund: Parade, Vorbeimarsch der Veteranen der sexuellen Revolution) komplett an diesen Millieus vorbeigegangen?

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Nach längerem Nachdenken würde ich die Frage ganz klar mit "ja" beantworten. Die gleichberechtigte Freizügigkeit für beide Geschlechter war nur in eng umgrenzten gesellschaftlichen Nischen gegeben. In den eher bürgerlich geprägten Teilen der Szene, die ich überschaue, prahlten Frauen normalerweise nicht mit der Menge ihrer Eroberungen. Es gab da auch ein paar Ausnahmen, aber die waren bei ihren Geschlechtsgenossinnen nicht sonderlich gut angesehen.

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Ich mache mir möglicherweise wirklich keine Vorstellung davon, wie speziell, privilegiert und avantgardistisch die Kreise waren in denen ich mich so bewegte. Wobei das aber in Städten wie Hannover, Braunschweig, Göttingen und Bremen jeweils Milieus von Tausenden Leuten waren. Ob sie es noch sind vermag ich nicht zu beurteilen.

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Die Literatur gibt die Antwort
Also zumindest noch etwas früher, aber da war ich noch nicht gebohren sondern wurde gerade gebohrt, und Che war ein Kleinkind, war die Situation eindeutig anders, und für explizit linke Leute in linken Szenen sollte das zumindest bis in die 80er so bleiben.

Das war nicht randständig für winzige Gruppen.


Aber sicher bei Handwerkers in der Provinz nie relevant.

https://www.spiegel.de/einestages/achtundsechziger-in-italien-a-949185.html


https://www.zeit.de/1977/20/2x-liebe/komplettansicht


https://www.amazon.de/Offene-Zweierbeziehung-Eine-Mutter-Vergewaltigung/dp/3880220395

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Für mich jedenfalls war diese sexuell libertinäre Welt so prägend dass sie für mich bis heute die Normalität darstellt. Maßstäbe wie "Linke dürfen sich keine Eifersucht leisten weil Liebe nichts mit Besitz zu tun hat" sind mir dann auch weit vertrauter als Männer die sich reihenweise Seitensprünge leisten aber ihre Freundin in die Wüste schicken wenn die das einmal gemacht hat oder Frauen die zu Beginn des Techtels betonen keine Schlampe zu sein. Das sind für mich Leute vom anderen Stern. So ist dann auch dieser Revolverheld-Song "Scheiß auf Freunde bleiben" für mich Ausdruck eines in meinen surroundings ganz und gar unakzeptablen Dumpfmachotums.

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Leute wie wir gehören der normalen Gesellschaft halt nur in dem Maße an in dem wir uns gegen sie auflehnen.

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